Donnerstag, 05.12.2002

Die Blicke, die verändern

„Das schwarze Schamquadrat“ von Heinz Emigholz

von Manfred Bauschulte

„Wirklichkeit des Spiegels – die Wirklichkeit ist, insofern sie Spiegel ist. Das ist der Mensch. Aber wenn der Mensch verschwindet, bleibt die Erde, bleiben die unbelebten Dinge, die weglosen Steine. Wenn die Erde verschwindet, bleibt all das, was nicht die Erde ist. Und wenn all das, was nicht die Erde ist, verschwindet, bleibt das, was nicht verschwinden kann – man fragt sich übrigens, warum -, weil man es nicht einmal denken kann, und das ist zum Schluss die Wirklichkeit – so weit vom Geist und vom Spiegel des Menschen entfernt, dass er es nicht einmal denken kann“. – Diese Stelle findet sich in „En vrac“ (1956) von Pierre Reverdy. Schon viele Male habe ich mich bei ihr aufgehalten. Jetzt und hier will ich sie einigen Überlegungen zu einem neuen Buch mit Bildern und Texten von Heinz Emigholz voranstellen.

Die Wirklichkeit von Pierre Reverdy bildet einen ebenso phantastischen wie präzisen Fluchtpunkt: Das Fliehende, das ist das Bleibende. Der Bleibende, das ist der, der flieht. – Anfänglich begegnen mir so auch die Notizen und Zeichnungen von H. E. . Es gibt keine Hierarchie, keine Ordnung, kein System, keine Bedeutung, keine Festlegung.

Das einzige aufzufindende Auswahlkriterium in diesem Buch – darauf weist der Verleger Martin Schmitz in seinem Vorwort zurecht hin – ist der Versuch anhand einer Auswahl von 122 Filmen eine eigene „Filmgeschichte“ zu entwerfen. Diese Filmauswahl wurde in den Jahren von 1993–2000 jeweils Dienstags im „Arsenal“ in Berlin gezeigt. Im Buch wird sie mit kurzen Filmnotizen eher belegt als begründet. Aus dieser Filmauswahl und den Notizen ragt ein Fall heraus: das ist der Fall Carl Theodor Dreyer, speziell der Film „Ordet“. Er steht mit weitem Abstand an der Spitze der ewigen Bestenliste von H.E..

Carl Theodor Dreyers filmische Versuche, Erzählräume zu schaffen und nach allen Seiten perspektivisch zu öffnen: – sie scheinen mir das wichtigste Einstiegsmotiv für die vielen Bewegungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen von H.E. zu sein. Das Stichwort „Erzählräume“ umschreibt dabei den großen Reichtum an Perspektiven in dem vorliegenden Buch wie auch dessen Erzählhaltungen.

Der Zeichner und Autor H. E., seit 1948 an vielen Plätzen und Orten dieser Erde unterwegs, hat sehr genau hingesehen, gefilmt und sich überraschen lassen. Er hat gezeichnet und notiert, was ihn faszinierte. Seine Notizen und Bilder sind Darstellungen einer nie still stehenden, stets veränderlichen Wirklichkeit, gleichzeitig sind sie die reproduzierten Dokumente eines solchen Nie-still-stehens, und sie fragen danach, welche Mächtigkeit der Kraft veränderlicher Blicke und Striche selbst innewohnt.

Als Schlüssel zu dieser Kraft veränderlicher Blicke will ich noch einmal Pierre Reverdy zitieren, jetzt mit einem Gedicht: „Les regards qui changent/Die Blicke, die verändern“ (1930/1949):

„Um vier Uhr werde ich da sein
Jemand wird bestimmt vorbeikommen
Dann werde ich die Tür öffnen

Die Tür öffnet sich wie ein Auge
Und ich sehe in das Innere
Ich habe große Angst einzutreten
Und weiß nicht was sagen

Die Stufen hinaufsteigen
Bis in den dunklen Flur
Und dort vielleicht das Zimmer
Vielleicht nichts
Vielleicht eine Mauer

Deshalb weil die Dämmerung kommt
Ich werde da sein und warte auf dich
Ich warte, dass ein Auto vorbeifährt
Das meine Sorge fortträgt

Dann dem nächsten Bahnhof entgegen
Ich folge dir wir gehen weiter
Schließlich wird vom Haus gegenüber
Lächelnd nach mir Ausschau gehalten“.

Jede Zeile in diesem Gedicht arbeitet mit Andeutungen von Begegnungen, Beziehungen und Ereignissen.
Jede Zeile erprobt ihren Rhythmus und ihre Aussagegehalt.
Jede Zeile dehnt sich in der Zeit ihres Sagens aus.
Jede dieser Zeilen in ihrer Veränderlichkeit erprobt die eigene Mächtigkeit.

Steht man vor einem Haus, dann kann man niemals drei Wände auf einmal sehen.
Steht man vor einem Haus, dann wird es schwierig zwei Wände auf einmal zu sehen.
Steht man direkt vor einer Hauswand, dann wird es schwierig die Wand zu sehen.

So kann, ja muß geradezu jede Haltung und jeder Blick eine veränderliche Perspektive einnehmen und transportieren. So wie jede Zeile in dem Gedicht von Pierre Reverdy ihre Veränderlichkeit transportiert, so transportiert jeder Blick, jedes Notiznehmen eine veränderliche Perspektive.

Ebenso natürlich wie radikal verfährt Heinz Emigholz in seinen Texten und Zeichnungen mit solchen veränderlichen Perspektiven. Er verleiht ihnen eine spielerische und veränderliche Intensität, eine, die sich ständig leicht verschiebt, die vorübergleitet, sich ausdehnt, das Einmal-Fixierte wieder zersetzt oder loslassen kann.

Der Melancholie, von der das Buch im Zentrum handelt, ist zutiefst eine solche veränderliche Intensität eingeschrieben. Sie bildet „das schwarze Schamquadrat“ inmitten aller Veränderlichkeit. Sie ist die Intensität selbst, die alle Veränderlichkeit zuinnerst beweist. In Ausdehnung und Schmerz, in Rhythmus und Überraschung, in Erzählung und Aussichtslosigkeit sehen sich in der Melancholie die veränderlichen Kräfte der Imagination und Wahrnehmung mit den Bedingungen der körperlichen Anwesenheit im Raum konfrontiert.

Hier will ich mit einer Filmbeschreibung von H.E. schließen, die etwas von dem hier Entwickelten und Gesagten exemplarisch verdeutlicht und noch einmal so zuspitzt, wie es mir beim Schreiben jetzt nicht möglich ist: „Dienstag, 7. Januar 1997. Au hasard Balthasar (1965) von Robert Bresson, der sagt , Kinematografie sei eine neue Art des Schreibens, und damit auch ein neuer Weg des Fühlens. Ein so facettenreiches Gefühlsgebäude, dass man es aufgrund seiner im andauernden Wechsel ausgestrahlten Perspektiven kubistisch nennen könnte. Der Fixpunkt – oder Schicksalskern – seines Films ist ein außerhalb unserer Erfahrung liegender Ort. Bressons mitfühlende Beschreibung versucht ihn zu konstruieren: Das Bewusstsein einer benachbarten und doch unbekannten Existenz. Das eines Esels, eines benutzten Tiers, dem keine Sprache zuerkannt wird, in dessen Augen wir aber eine wissende Zeugenschaft erahnen. Aus der Schwärze der Erkenntnis heraus folgen wir der Bahn und der gedemütigten Energie dieses Blickes auf uns – beobachtete, verdammte und gespiegelte – Menschen“.

Termine:
Sonntag, der 8. Dezember 2002 um 13 Uhr
Matinee mit Heinz Emigholz
„Das schwarze Schamquadrat“, Lesung
Filmgalerie 451, Torstrasse 231, 10115 Berlin

Mittwoch, der 11. Dezember 2002 um 19 Uhr
Film und Lesung mit Heinz Emigholz
„Das schwarze Schamquadrat“, anschließend Empfang
Arsenal Kino, Potsdamerstrasse 2, 10785 Berlin

Heinz Emigholz
Das schwarze Schamquadrat
288 Seiten, Erzählungen und Essays, Zeichnungen und Fotos,
Berlin: Martin Schmitz Verlag, 2002
Euro 18.50

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