Kinoträumer gegen das Godardgespenst
Geschichten von der Liebe zum Kino. Zwei neue Bücher versuchen zu ermitteln, warum Filme solch eine Faszination auszulösen vermögen.
Von MICHAEL GIRKE
Syd Field ist Amerikaner und Drehbuchautor, Michael Althen ist Deutscher und Filmkritiker. Mag auch ein Ozean liegen zwischen ihnen und ihren Berufen, ihre gerade zeitgleich veröffentlichten Bücher wollen doch dasselbe: Helfen die Bewegungsbilder des Kinos besser zu verstehen.
Mit Hilfe von Syd Fields „Going to the Movies“ geht man durch die Filmgeschichte, wie ein Detektiv durch Hollywood. Field läßt sich nicht täuschen von glitzernden Fassaden. Ihn interessiert das dahinter liegende Geheimnis: die Logik dargestellter Geschichten – wie die es schaffen uns so tief zu bewegen.
Michael Althens „Warte bis es dunkel ist“ weckt das Verlangen nach eigenen Kinoerfahrungen. Manchmal wünscht der Leser einen von ihm beschriebenen Film umgehend zu sehen. Und wenn eine solche Kinobegeisterung es versteht, statt in den hohlen Slang von Reklame zu verfallen, den Leser mit einigen ungewohnten und hellsichtigen Einblicken zu filmischen Werken, Schauspielern oder Regisseuren zu versorgen, dann ist es durchaus angemessen, von Filmkritik als einer eigenen Kunst zu reden.
Die Geschichte des Kinos, das sind nicht nur große filmische Momente, Regisseure und Stars. Zu ihr gehören auch die Zuschauer, deren Phantasien sich mit den Filmen verbinden. Man muß es genauer sagen: Ohne die Zuschauer, wären Filme und Stars nicht, wie sie sind.
Die Blicke der Betrachter auf die Leinwand, ihre Antriebe, vom Begehren bis zum Voyeurismus – meist sind das Themen von Untersuchungen aus der Universität. Field und Althen schreiben darüber unbefangen, undiszipliniert, auch schwärmerisch. Als bekennende Fans. Hätten ihre Bücher Erfolg hierzulande, ließe sich daraus eine Utopie ableiten. Wenn die schauenden, schreibenden und lesenden FreundInnen des Kinos sich auf der Fan-Ebene treffen könnten, wäre dies ein erster Beitrag, das in Deutschland traditionell tiefe Mißtrauen zwischen „volkstümlichen“ und „reflektierten“ Filmhaltungen zu beseitigen. Was das hiesige Kino ganz dringend braucht, ist eine Filmkultur, die sich als eine solche versteht. Wenn wenigstens, über Gräben hinweg, ewig gestritten würde, anstatt das Eingraben in diverse Subszenen weiter forciert – gegenseitige Ignoranz inklusive.
Die Bezeichnungen für die in den 60ern und 70ern Geborenen haben ständig gewechselt in den letzten Jahren. Mal waren sie die desillusionierte „Generation X“, mal die von affirmativem Konsum geprägte „Generation Golf“. Field und Althen gehen diese Zuschreibungen nicht weit genug. Für sie hängen wir alle weltweit an der Bilderwelt von Kino und Fernsehen. Die entfaltet ihre Wirkungen nicht nur über einen kurzen Zeitraum, die hat das ganze 20. Jahrhundert umgekrempelt., in dem sie neues Sehen und Wahrnehmen ermöglichte.
Man kann im und mit Kino richtige Erfahrungen machen. Michael Althen schildert zu Beginn seines Buches das langweilige 70er Jahre-Deutschland, in dem er aufwächst. Allein die Bilder des Fernsehens und des Kinos zeigen etwas Anderes: Abenteuer, aufregende Frauen wie Romy Schneider, vorbildlich coole Männer wie Alain Delon. Pubertierende auf der Leinwand sind nicht bloß verwirrt, sie werden begehrt und haben verwickelte Beziehungen mit den sexy Müttern ihrer Freundinnen. Selbst Scheitern und Armut sind, durch Kameraaugen gesehen, dramatisch und spannend. Michael Althen begegnet im Kino seinen Wünschen. Das Kino ist die bessere Realität.
Syd Field ist näher dran. Sein Onkel ist Filmproduzent. So geht der junge Field in den Studios ein und aus, wächst in Hollywood auf. Er beschwört nicht die bessere Wirklichkeit der Bilder, sein Ansatz ist amerikanisch, pragmatisch: Die Bilder sind die Wirklichkeit. Für ihn geht es um die Frage, ob man sein Leben als Zuschauer verbringt, oder ob man sich an der Produktion von Bildern beteiligt. Field wird der erfolgreichste aller Drehbuchautoren, leitet weltweit Seminare, um die Formel für großartige Filme zu verbreiten. Das sind die, die zeigen, was alle Menschen miteinander verbindet.
Gern ist man geneigt der Filmschwärmerei der Beiden zu folgen. Zu einförmig scheint der Alltag im Vergleich zum beeindruckenden Geschehen auf Großleinwänden – ist schon mal ein Terminator durch meine Straße gekommen? Sieht man sich eine Handvoll Wirklichkeit aber genauer an, dann ist diese gar nicht einförmig, sondern sehr mannigfaltig. Und so stößt der Leser rasch auf die Grenzen von Fields und Althens Kinoromantik. Die zeigen sich vor allem an ihrem Umgang mit Filmvergangenheit. Zum Beispiel mit dem Regisseur Jean Luc Godard.
Syd Field lehnt den Franzosen rundum ab. Der sei schon bei seinem mittlerweile zum Klassiker avancierten Debut „Außer Atem“ zu sehr „auf Ideen und Technik fixiert“, lege zuwenig wert auf die „emotionale Intensität der Figuren.“ Michael Althen zitiert einige sprichwörtlich gewordene Godard Sätze, beschreibt aber mit keinem Wort die Ästhetik seiner Filme.
Liest man Godard, wie er in Büchern und Interviews schimpft auf Hollywood, mag sich ergeben, woraus sich Abneigung und Indifferenz ihm gegenüber auch speisen. Mit der Durchsetzung des Drehbuchkinos in Hollywood beginnt für Godard der Niedergang der Filmkunst. Die Companys finanzieren Filme aufgrund vorgelegter Bücher, die Macht im Kino ist damit in die Hände von Gutachtern und Buchhaltern gelegt. Systematisch benachteiligt sind die, für die die ganz eigene Poesie des Films erst entsteht beim Drehen, bei der Montage, bei der Arbeit mit und an den Bildern. Die Herrschaft der Buchhalter sieht man den Filmen an. Godard schreibt: „Aber man ändert die Titel der Filme nur, weil, wenn man den Titel ließe, würden die Leute nicht mehr kommen. Da sie total fertig sind von ihrer Arbeit in der Universität oder der Fabrik, sehen sie nicht, daß es immer derselbe Film ist. “
Der notorische Nörgler Godard übertreibt und verallgemeinert, weswegen man ihm nicht in Allem zu folgen braucht. Aber er hat auch recht sich darüber zu beklagen, daß der Aufbruch der 60er, die Nouvelle Vague und was in ihrer Folge dem Film an neuen Möglichkeiten beschert wurde, zunehmend zum Fremdkörper wird; auch bei Denjenigen, die professionell über das Kino nachdenken.
Das mag Folge eines Generationswechsels sein. Godard steht für ausgemachtes Autorenkino, die Jüngeren wie Field oder Althen haben ihre prägenden Erfahrungen mit Genrefilmen gemacht und feiern in erster Linie diese. Erst kürzlich forderte der Regisseur und Kritiker Dominik Graf in einem Essay in der ZEIT, doch endlich in Deutschland eine ausgeprägte Genrekultur zu entwickeln, wie es sie in Amerika schon lange gibt. Das ist eine Chance für den hiesigen Film und eine schöne Hoffnung noch dazu. Denn es beeindruckt, wie US-RegisseurInnen es immer wieder schaffen, in der auf Serienprodukten und Genrefächern basierenden Industrie, künstlerisch zu arbeiten und Kritik zu artikulieren. Kritik an den stereotypen Frauen- und Männerbildern der Branche, in der sie ihre Brötchen verdienen und manchmal gar an der Vulgarität des Publikums, von dem sie leben. Nur, wie Dominik Graf und Andere das Genre betrachten, als Allheilmittel gegen die Krankheiten und Probleme des deutschen Films, das erinnert an genau jene einseitigen und hochmütigen Autorenfilmer, die ihre Liebe zum Kino für die einzig Wahre hielten.
Wenn Syd Field in „Going to the Movies“ Seiten lang die Handlungen von „Magnolia“, „Matrix“ und anderen, ihm zufolge, beispielhaft gelungenen Filmen nacherzählt, ist es, als ob auf der Leinwand Drehbuchtexte zu lesen wären. Es ist auffällig, wie wenig Fields und Althens neue Filmbücher sagen wollen oder können über Licht, Raum, Bewegung, Zeit; wie gering die Bereitschaft ist das Kino von seinen technischen Mitteln her zu reflektieren. Kritik am Filmbetrieb kommt bei beiden so gut wie gar nicht vor.
Diese freiwillige Abtretung ganzer Kinogebiete durch Cineasten läßt sich psychologisch deuten. Die Jüngeren bekämpfen und verwerfen in den kritischen Autorenfilmern und ihren Anhängern die Generation der Väter. Dies geschieht nicht so dramatisch, wie Freud es für solche Konstellationen beschrieben hat. Man ignoriert lässig die Anliegen der Älteren, oder schiebt sie ab in den Bereich der Klassiker, wo sie als Antiquitäten verstauben.
Aber vielleicht berührt diese Deutung nicht wirklich den Kern. Vielleicht geben die Bücher von Field und Althen gegenwärtige Antworten auf „ewige“ Fragen: Was erhoffen wir uns von der Liebe (zum Kino)? Wodurch ist Liebe wirklich bewegend? Gehen Liebe und Denken zusammen?
Field und Althen wollen nach all den Jahren der Dominanz spröder, manchmal quälender Autoren- und Kunstvorstellungen, der Begeisterung im Kino zu neuem Recht verhelfen. Für sie sprechen Filme „die Sprache des Herzens“. Der Versuch im Kino Distanz einzunehmen, beeinträchtigt den Genuß. Sie sehen den Zuschauer in erster Linie als Träumer.
Godard lehnt die Unterscheidung zwischen Emotionen und Gedanken ab. Ihm ist Kino immer zugleich Lust- und Erkenntnisgewinn. Er will Realität von allen Seiten wahrnehmen. Zum Beispiel Liebe nicht nur als individuelle Erfahrung zeigen, sondern auch als vorgeformte, sprachliche Konvention, die nicht wir sprechen, sondern diese uns. Die Texte und Filme, mit denen er das Unsichtbare der Realität an den Tag bringen möchte, markieren mitunter eine Grenze der Kinoverträglichkeit, eine Zumutung ans Publikum.
Das Kino ist vielfältig und vielschichtig, man braucht niemandem falschen Umgang damit zur Last legen. Mir scheint aber: Aus dem cineastischen Abseits, aus Godards Kino formal reflektierenden Materialismus, erwachsen spannende Fragen, die bekennende Kinoromantiker wie Field/Althen nicht mehr stellen. Zum Beispiel die nach dem Realitätsstatus der Bilder: Welche Aspekte der Wirklichkeit vermag das Kino wahrzunehmen?
Zu dieser verzwickten Frage ein kurzes Beispiel: Es ist eine Tatsache der Filmgeschichte, daß ein ganz und gar nicht realistischer Vampirfilm, F.W. Murnaus „Nosferatu“, die Befindlichkeit seiner Zeit exakt abbildet. Der Film entstand 1922, in einer Zeit, die geprägt war vom Verfall gesellschaftlicher Strukturen, vom Verlust jeglichen Sicherheitsgefühls, von Identitätskrisen und Umwälzungen, die durch den ersten Weltkrieg ausgelöst wurden, „dessen ungeheures Geschehen daherbrauste und das Blut von Millionen trank“.
Was Kino so besonders und ergreifend macht, sind die Stellen im Imaginären, in der sich unsere bewußten und unbewußten Vorstellungen, Ängste, Wünsche mit den Fiktionen der Filme treffen. Es dürfte heute viele ähnliche Konstellationen geben, wie die zwischen dem Vampirfilm von 1922 und den damals zu machenden Erfahrungen.
Und hier wird die Sprache eminent wichtig, mit der wir Filme beschreiben. Phantasien, Stimmungen, Befindlichkeiten, sowohl diejenigen, die uns heimsuchen, als auch die technisch realisierten des Kinos, sind sie nicht irrationaler, beunruhigender, auch aggressiver und widerspenstiger als die stets geschliffenen und eingängigen Formulierungen von Field und Althen dies suggerieren? Ihre Äußerungen zu Filmen machen meist halt an dem Punkt, an dem sie Selbstsicherheit ausstrahlen und Ordnung gemacht ist im Reich der Bilder.
Godard stellt einen Satz zum Film mit dem nächsten in Frage und der darauffolgende Dritte wirft häufig wiederum neues, kritisches Licht auf die ersten Beiden. Es mag anstrengend sein so Jemanden zu hören und zu lesen. Es ist allerdings die Anstrengung, die einem auch gutes Kino auferlegt, dem es gelingt, Vertrautes in überraschende Zusammenhänge zu stellen; und so Spuren zu legen zu nicht direkt sichtbaren Seiten der Realität. Fields und Althens Texte verhalten sich zum Kino allzu oft wie die Motive auf Ansichtskarten zur Wirklichkeit: das Kitsch gewordene Verbot Blicke zu werfen in deren Untiefen.
Syd Field, „Going to the Movies“; Europa Verlag, Hamburg
Michael Althen, „Warte bis es dunkel ist“; Blessing Verlag, München