Merci Pour Le Chocolat
Regie: Claude Chabrol (dt.: Süsses Gift)
Frankreich 2000
Kamera: Renato Berta
Buch: Claude Chabrol, Caroline Eliacheff (basierend auf dem Roman „The Chocolate
Cobweb“ von Charlotte Armstrong)
Produktion: Marin Karmitz
mit:
Isabelle Huppert (Marie-Claire Muller)
Jacques Dutronc (Andre Polonski)
Anna Mouglalis (Jeanne Pollet); u.a
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„Süsses Gift“ spielt in der französischen Schweiz, in der Nähe von Lausanne. Zu Beginn gibt es zwei Handlungsstränge, rasch schneidet der Film sie zusammen. Isabelle Huppert spielt die Erbin einer Schokoladenfabrik. Sie heiratet einen, von Jacques Dutronc gespielten, berühmten Pianisten. In dem anderen Strang erfährt eine junge Frau, Anna Mouglalis, etwas über ihre Geburt. Es gibt eine Geschichte darüber: vielleicht sei sie als Baby im Krankenhaus vertauscht worden und vielleicht ist der berühmte Pianist ihr Vater. Weil auch sie eine Pianistin ist, macht sie sich zu ihm auf.
Vom ersten Bild an konstruiert der Film sichtbarmachende Abstände zwischen die Zuschauer, die Figuren und die Geschichte. An manchen Stellen jedoch legt der Film eine Spur, die auf Isabelle Huppert hinweist als diejenige, die ein böses Spiel mit den anderen spielt. Ihre Arme sind hinter ihrem Rücken verschränkt, die Hände krallen sich beinahe ineinander. Man kann das sehen, weil Bild, Ton und Montage nicht andauernd daran gelegen ist, fatale Bedeutsamkeiten anhand von Details herzustellen. So entwickelt sich auch die Fabel eher unangestrengt: als Baby im Krankenhaus vertauscht worden zu sein ist nie abzuarbeitendes Trauma für die junge Frau, sondern die Möglichkeit, für sich eine andere Geschichte zu finden. Interessant an diesem Film finde ich, wie es ihm gelingt, kaum Aufhebens von dem Topos der fatalen Verwechslung zu machen. Deshalb schafft es „Süsses Gift“, das erwartbare an den Familienleidensgeschichten auf andere, vielschichtigere Ebenen zu bewegen. Es geht in dem Film genauso um die Biochemie von Emotionen, wie um die Produktion von Schokolade und um präzises Klavierspiel. Man kann sagen, dass der Film versucht, verschiedene Herstellungsverfahren von Gefühlen zu erzählen.
Als ich den Film sah, dachte ich deswegen an Adaptionen griechischer Tragödien, aber auch an die Filmgeschichte. Manchmal wurde Isabelle Huppert darüber zu Cary Grant und Joan Fontaine aus Hitchcocks „Suspicion“: In einer Person spielt sie etwas unerhört Böses und etwas furchterfüllt Leidendes. Das dachte ich nicht nur, weil man von Chabrols Hitchcockinteresse weiss: auch Isabelle Hupperts Gift ist in Milch aufgelöst – selbstgemachte Schokolade, gemischt mit dem Schlafmittel „Rohypnol“. Als Hupperts Haushälterin sie fragt, warum sie die Schokolade immer schon einen Tag zuvor zubereite, sagt Huppert, dass die Michsäurebakterien dann besser arbeiten würden. „Ach, Chemie“, erwidert die Haushälterin, „immer diese Chemie“. Isabelle Huppert hat, nachdem sie die Schokoladenfabrik Muller übernommen hat, aufgehört an Sportvereine und Kindergärten zu spenden. Stattdessen unterstützt sie Kunst und Altenheime. In der Vorstandssitzung sagt sie, dass sie das Leiden beenden wolle und das alternde Vorstandsmitglied, das sich später als ihr Adoptivonkel entpuppt, sagt: „aber die Kinder leiden doch auch“.
Nur selten gibt es Kamerafahrten und minimale Schwenks zu sehen – der Film ist kaum an fließenden Bewegungen, mehr am Aufeinanderstossen der Figuren interessiert. Jeder Anschein von „natürlicher“ Emotion ist dem Film ausgetrieben. Die einzelnen Sequenzen sind superpräzise von Renato Berta fotografiert, kaum ein Schatten fällt auf die Figuren in den gleichmässig ausgeleuchteten Innenräumen. Wie Kapitel von einander getrennt sind die Szenen und hart aufeinandergeschnitten. Wie Pausenzeichen zäsieren ihn die wiederholten Panoramaaufnahmen eines im Tal gelegenen Sees. Meist ist es in dem Film sehr still, selbst in den wenigen Außenaufnahmen hört man kein Rauschen der Luft oder singende Vögel im Hintergrund – als ob der Film keine athmosphärische Tonspur habe. Wenn Musik zu hören ist, dann ist es Quellenmusik. Am Klavier: Jacques Dutronc, der den berühmten Pianisten und Ehemann von Huppert spielt. Dutronc hat lange schwarze Haare und leere Augen und sagt den ganzen Film über kaum ein Wort, aber das erste, als er Isabelle Huppert zur Frau nimmt. „Ich will.“ Dutronc würde ich auch in einem Film besetzen wollen, wäre ich französischer Filmemacher. Er übt mit der jungen Frau, die die Geschichte ins Rollen bringt, weil sie möglicherweise seine Tochter ist, einen anderen, präzisen und nicht-mitfühlenden Klavierton: „Vergessen sie alles was sie gelernt haben über den schwebenden Anschlag. Für diese Musik brauchen sie eine Hand aus Stahl. … Sie müssen sich die Töne, die sie erzeugen wollen, vorher vorstellen. Machen sie nicht den Fehler, denn die meisten machen: Seien sie auf keinen Fall virtuos.“
Michael Baute