Landscape Suicide
Regie: James Benning, USA 1986
Die letzten vier Minuten von Antonionis „Blow Up“: Thomas, Fotograf, Spurensucher, unfreiwilliger Kriminalist, schlendert durch den Park, der sich auf seinen Vergrößerungen scheinbar als Schauplatz eines Mordes entpuppt hatte. Aber die Leiche, die vorher, bei der Rekonstruktion in der Dunkelkammer sichtbar geworden war, ist nicht zu finden. Jetzt, neben dem Tennisplatz, begegnet er wie zu Beginn des Films den maskierten und ausgelassen johlenden Jugendlichen. Sie springen vom Wagen, zwei von ihnen laufen auf das Feld. Ein längerer Schlagabtausch beginnt, die Kamera verfolgt gemeinsam mit Thomas und den anderen Zuschauern den Ball, der hin- und hergeschlagen wird. Allerdings: da ist kein Ball (da sind auch keine Schläger, aber plötzlich sind dennoch die dazugehörigen Geräusche zu hören). Wie ist das zu verstehen? Dass es da auch kein Verbrechen gab?
James Bennings Film „Landscape Suicide“, zwanzig Jahre später, 1986, beginnt auf dem Tennisplatz. Die Kamera, halbnah, ist starr auf ein junges Mädchen gerichtet, das in ermüdender Gleichförmigkeit an ihrem Aufschlag arbeitet. Anders als bei Antonioni mangelt es hier nicht an Bällen (an handfesten Verbrechen auch nicht). Im Gegenteil: Immer wieder wirft sie, scheinbar aus dem Nichts, einen weiteren Ball in die Luft und schlägt ihn aus dem Bild hinaus. Kurze Schwarzbilder – erste Lücken, in denen der Zuschauer etwas ergänzen muss – unterbrechen die Einstellung und lassen undeutlich werden, ob hier eine unendliche Wiederholung gezeigt wird oder immer wieder neue Bälle zu sehen sind. Dann, nach mehreren Minuten, in denen die ausholende, fließende Bewegung und der dazugehörige Klang schon fast zur Struktur geronnen sind, gibt es den (buchstäblichen) Gegenschuss auf die gegnerische Hälfte. An die hundert Bälle liegen da, unregelmäßig auf dem Platz verteilt wie ein schwer zu deutendes Sternenbild. Zu hören ist jetzt nichts mehr; zu sehen ist ein interpretierbares Muster. Ein Ort, der sich schon merkwürdig von der Tat abgelöst hat und zum unbeweglichen Bild geworden ist. Zum Bild wofür, fragt sich. James Benning ist niemand, der dem Zuschauer die Bälle einfach zuspielen würde.
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Fall 1: „PAIN“, 1984: Kirsten, 15, eine beliebte Cheerleaderin in einer kalifornischen Kleinstadt, ist erstochen worden. Es ist zunächst unklar, von wem, bis die ungefähr gleichaltrige Bernadette Protti den Mord gesteht. Offenbar ist sie von ihrer Mitschülerin häufig gehänselt worden; an einem Abend dann, als sie Kirsten zu einer Party abholt, sticht sie mehrfach mit einem Küchenmesser zu. „Death of a Cheerleader“, nennt der ‚Rolling Stone‘ die Geschichte. Bernadette reißt die Seiten aus dem Magazin heraus, als ließe sich die Tat dadurch ungeschehen machen.
Fall 2: „PLACE“, 1957: Edward Gein, 57, lebt zurückgezogen – wohl auch etwas zurückgeblieben – auf einer kleinen Farm in Wisconsin. Im Hardware-Store des benachbarten Dorfes will er, neben Frostschutzmittel für seinen Pick-Up, auch ein Gewehr kaufen, das mehrere Arten von 22er Munition abfeuern kann („short, long, and long rifle“, wiederholt er später, etwas stumpfsinnig und mit leerem Blick, bei der Befragung immer wieder). Er lässt sich die Waffe zeigen, ein Schuss fällt, die Frau des Ladeninhabers ist tot. Jetzt, Jahre später, kann er sich nicht mehr so richtig erinnern, neigt auch, wie er sagt, dazu ohnmächtig zu werden, wenn er Blut sieht (ungewöhnlich für einen Jäger…). Jedenfalls findet man ihr Herz am folgenden Tag in seiner Bratpfanne, und auch sonst ist der Körper der Leiche in allerhand Einzelteile zerlegt. Aus der Gesichtshaut einer anderen Frau hat er sich eine Maske angefertigt. Er wird in eine Anstalt eingeliefert.
Soweit der Inhalt von „Landscape Suicide“. Nur: Zur Beschreibung des Films sind diese Angaben völlig ungeeignet. Sicher kommt all dies vor, aber zugleich geht eine solche Zusammenstellung der Fakten radikal an dem vorbei, was die Bilder erzählen. Es führt nicht auf den Film zu, sondern allenfalls von ihm weg, hin zu den beiden Zeitungsmeldungen, die für Benning den Ausgangspunkt dargestellt haben könnten, um etwas völlig anderes daraus zu machen.
Wer Filme von James Benning kennt, kann sich vorstellen, dass die beiden Mordfälle, die „Landscape Suicide“ rekonstruiert, nicht im herkömmlichen Sinne „erzählt“ werden. Der Film ist nicht an der spannungsgeladenen Konvention des Kriminalfalls, sei sie dokumentarisch oder fiktional ausformuliert, interessiert. Das bedeutet nicht, dass er nicht spannend ist. Aber die Spannung liegt weniger in der Erzählung der Verbrechen als in der Untersuchung formaler Möglichkeiten ihrer Erzählbarkeit. In welchen Bildern sedimentieren sich Ereignisse? Benning zergliedert das Bild- und Sprachmaterial, das sich um die Morde angelagert hat und ordnet es nach einem strengen Muster. Er übersetzt die Polizeiakten zurück in Orte, Personen und Texte. Dabei werden weniger die Dinge selbst sichtbar als der Übersetzungsvorgang. Er hält die Bilder (der Landschaften, der Gesichter) offen, in denen sich Teile des Verbrechens – das glaubt man zu sehen – einnisten können. Die „Story“ ist da eher ein Vorwand. („Landscape Suicide“ ist auch der einzige Film, in dem Benning überhaupt mit Schauspielern arbeitet: „In earlier films, I used minimal narratives as a context for formal investigations, because back then I thought, ‚People need narrative to watch. If I do non-narrative experiments they’ll never enter the film.'“ Kommt darauf an, was man unter „enter“ versteht.)
Wie steigt man in „Landscape Suicide“ ein? Der Film operiert aus dem kriminalistischen Archiv heraus, es könnte also hilfreich sein, die Ebenen seines Zugriffs zu inventarisieren:
– 1 Einblendung mit Tagesdatum
– 1 lange Autofahrt, starr aus der Frontscheibe herausgefilmt. Im Radio predigt jemand wortgewaltig von Übel, Untergang und der Möglichkeit der Vergebung.
– 1 lange Interviewsequenz, die Kamera ist starr auf die Schuldige gerichtet. Sie sitzt vor einer weißen Mauer, die Fragen kommen aus dem Off, knapp und präzise gestellt.
– 1 stark stilisierte Szene: man sieht ein kitschig-gewöhnliches amerikanisches Teenagerzimmer, auf der Tonspur ist ein Song zu hören: „Memories“, das Lieblingslied des Opfers, wie vorher zu erfahren war. Aha: dann ist das Mädchen mit Fönfrisur, das in starrer Einstellung für die gesamte Dauer des Liedes beim Telefonieren gezeigt wird, also Kirsten.
– 1 Ausschnitt einer Landkarte von Kalifornien. Dazu eine Stimme, die nüchtern Hintergründe des Falles aufzählt
– 1 Blick, wieder ausschnitthaft, auf einen Computerbildschirm: Police-File, schätzungsweise.
– 1 handgeschriebener Brief: Bernadette an ihre Eltern. Nur auf diesem Weg kann sie den Eltern ihre Tat beichten. Sie hat alles kaputt gemacht. Einsicht. Klarheit. Fatalismus. Vergebung?
– 1 Zeitschrift: die „Rolling Stone“-Ausgabe mit dem Artikel über den Mord
– 1 Fotografie, grobkörnig, vielleicht aus dem Artikel. Dann wäre darauf das reale Opfer zu sehen, das Mädchen, dessen Fall hier nachgestellt und rekonstruiert wurde
– sehr viele Aufnahmen, vielleicht 15 die ausführlich verschiedene Orte zeigen, immer in unbewegter Einstellung. Einige davon werden per Bildunterschrift zugeordnet („sowieso-Highschool“), bei anderen muss man den kriminalistischen Bezug selbst herstellen.
Unter diesen Teilen bilden die Interview-Sequenz und die Ortsaufnahmen die beiden deutlichen Schwerpunkte, die übrigen Elemente dienen als Verbindungsmaterial, auch zum jeweils Neu-Justieren der Perspektive. Dem Gespräch und den Bildern von Orten lassen sich auch die beiden Worte des Titels zuordnen: von der Möglichkeit des Selbstmords spricht Bernadette, und die Landschaft ist der dritte große Akteur neben dem Täter und dem Opfer. In der Insistenz und Beharrlichkeit, mit der Benning die Orte filmt, werden sie Mitwisser, stumme Zeugen, Handelnde. Dem Ort wird hier eine Macht zugesprochen, wie man es aus wenigen anderen Filmen kennt. Auch die beiden Kapitelüberschriften „Pain“ und „Place“ sind auf Ort und Person beziehbar. Was der Film als Spannung in Szene setzt, ist das Verhältnis zwischen beidem: zwischen Subjekt und Topographie. Er nähert beides einander an, ohne es auseinander herzuleiten.
Ein Interesse für Polaritäten und Spiegelverhältnisse – Westcoast vs. Heartland, Sonne vs. Schnee, Jugend vs. Alter, Klarheit und Einsicht vs. Stumpfheit oder Unzurechnungsfähigkeit – ist auch auf der Makro-Ebene wiederzufinden. Denn der zweite Fall, Ed Geins Geschichte, ist über die Mittelachse an der ersten Hälfte des Films gespiegelt. In dieser Hinsicht ist der Film der einzige strukturalistische Krimi, den ich kenne. Wie präzise der Mathematiker Benning, der in der Kalifornien-Trilogie (LOS, El Valley Centro, Sogobi) jede Einstellung exakt 2 Minuten 30 Sekunde dauern läßt, dieses Spiegelungsverhältnis berechnet hat, könnte man erst beurteilen, wenn man den Film noch ein zweites Mal sehen würde, am Schneidetisch oder am Recorder. Jedenfalls finden sich in der zweiten Hälfte von „Landscape Suicide“ („PLACE“) äquivalente Szenen zu allen oben aufgelisteten wieder, aber – so scheint mir – weitgehend in umgekehrter Reihenfolge. Hier sind zunächst die Orte zu sehen: Leere, verschneite Landschaften, geschossenes Wild, ein Hardware Store.
Die Verkehrung der Reihenfolge hat einen erstaunlichen Effekt: Die Interview-Sequenz, in der Gein in monoton-leeren Erläuterungen zum Tathergang die meisten Informationen liefert, rückt fast an das Ende des Films. Die langen Landschaftsaufnahmen bleiben daher unbesprochen, es sind vorerst potentielle Tatorte, zu denen das Verbrechen noch gefunden werden muss. Jetzt ist es die Landschaft, die die Vorgaben macht, die zu mehr als einem beliebigen Rahmen wird, sondern zum Raster für (Kriminal-)“Geschichte“. Zumindest gedanklich wird man dadurch auch als Zuschauer selbst zum Täter, der auf der weißen Leinwand des verschneiten Wisconsin blutige Spuren hinterlässt.
Dass jeder Ort – und das bezieht sich bei Bennung nicht zuletzt auf die USA – ein Schauplatz des Verbrechens ist, ist dem Film ohnehin ausgemachte Sache.
Volker Pantenburg