Montag, 09.02.2004

24 mal Schwerkraft pro Sekunde

Nichts für mich, dieses Vielgucken. Jack-Ass Feeling, wie in der Sendung, in der zwei Leute Eier wettessen. Der eine kotzt bei 32 (und danach kontinuierlich immer wieder, was ihn nicht davon abhält, weiter Eier in sich reinzustopfen und in den bereitstehenden Eimer auszuspeien), der andere schafft über 40.

Schon nach wenigen Stunden Film, wohl auch weil der Schlaf in den letzten Nächten immer zwischen beschissen und inexistent schwankte, stellt sich bei mir ein Gefühl des Auf-Watte-Gehens ein. Man könnte das als Schweben bezeichnen, wenn nicht die unangenehmen Anteile eindeutig überwiegen würden und das Wort nicht fasst, wie sehr dieses Schweben herunterzieht. Entspricht ziemlich genau dem, was man „Jet-Lag“ nennt. Irgendwo weit weg angekommen oder von dort zurück, auf rohen Eiern unterwegs, wieder an Land, in dieser Hinsicht ist jede Reise, egal ob mit Bus, Bahn oder Flugzeug eine Schiffsreise. Einen Schritt weitergedacht: Was, wenn das wirkliche Jet-Lag gar nichts mit dem Wechsel der Zeitzonen zu tun hätte, sondern damit, dass an Bord ständig Filme gezeigt werden (ich erinnere mich dabei an meinen letzen längeren Flug, auf dem die Airline mutigerweise „Catch me if you can“ laufen ließ, den Film mit dem Hochstapler im Cockpit – niemand schien das komisch zu finden, nur ich witterte darin eine schöne Geste des Film-Programmierers, der sich, wie ich mir vorstellte, in den 60ern als Situationist bezeichnet hätte und jetzt solche kleinen old-school Irritationen in den Apparat einspeiste.) Wenn also die physiologische Verwirrung nur daher käme, dass man ständig zwischen der Zeit des Films und der eigenen hin- und herspringt. Und das nicht gescheit prozessiert werden kann auf Dauer. Und andersrum: dass bei einem Flug, auf dem man die Filme wegließe, auch das Jet-Lag ausbliebe, dass aber genau dieses Ausbleiben wieder eine andere Form von ungewohntem Zustand auslösen würde, eine Art Jet-Lag zweiter Ordnung.

Berlinale, 3. Tag: Für mich überwiegen die unangenehmen Seiten, vielleicht, weil ich die von S. propagierte Zen-Haltung nicht hinkriege: Auf den Film warten, der auf einen zukommt in Form eines zugeschobenen, freigewordenen Eintrittsbillets. Bei mir eher: Reinschieben in den Film, dann den Film reinschieben, dann wieder rausschieben aus dem Film. Blick auf die Uhr. Hier noch wen anrufen, da noch wieder nachschauen, wie lang die Schlange ist, ob man noch schnell was „sichern“ kann. Hysterically yours. Sich unter Druck gesetzt fühlen. Auf der anderen Seite der immer mitlaufende, aber manchmal unrettbar verschüttete Gedanke: Kann irgendwas davon abhängen, diesen oder jenen Film ausgerechnet jetzt um jeden Preis sehen zu müssen?

Nach Two Lane Blacktop wurde die allererste und allereinzigste nicht stofforientierte oder „How did you get the idea“-Frage gestellt, die ich bislang bei den ganzen Frage-und-Antwort Spielen gehört habe: „Why are there end credits after the film has burnt?“ Hellman wusste es auch nicht so genau, fand die Frage aber nicht uninteressant. Achtmal hat er denselben Pullover (da hätte ich gerne gewusst, wo er den gekauft hat).

Wild Angels, Corman: Hat das Zeug zum Lieblingsanfang: Ein Junge, vielleicht vier Jahre alt, der auf seinem Dreirad um einen Sandkasten herumfährt, durch den Holzzaun durchgefilmt, auch die Kamera in Bewegung. Dann rumpelt er durchs Gartentor nach draußen, fährt immer schneller an einem schmutzigen Kanal entlang, die Kamera jetzt saugend vor ihm, und wird schließlich abrupt gestoppt vom Vorderreifen einer Harley, die von links ins Bild rollt: Peter Fonda. In diesem Überdeutlichen und Übereinandergeschichteten steckt schon viel des anschließenden Films mit drin, der 1966 bereits alle Zweiradromantik durchkreuzt, indem er das so weit dreht, das ganze leere Freiheitskarussell. Zu Beginn der Einstellung dachte man noch an die klassisch-biographische Backstory: Dreirad als Einstiegsdroge, in Wirklichkeit ist da der nächste Generationen-Konflikt schon mitgedacht, in dem es um nichts mehr gehen wird als um Zeichen (die Sex Pistols, die die Hakenkreuze der Hell’s Angels zitieren, die die Hakenkreuze von wem noch mal zitieren). Dominique Cabreras „Folle Embellie“, der 1940 spielt, während Frankreich von den Deutschen besetzt wird, zeigt deutlich weniger Hakenkreuze als Cormans Film (das sagt über beide Inszenierungsweisen gleich viel aus), in dem es von allem viel zu viel gibt. Zuviel Motorlärm, zu viele Posen, zu viele Zeichen und damit genau die richtige Dosis Camp: Eine Überdosis. Alle Latenzen des Fetischs Motorrad werden hier so ins grelle Licht des Technicolors gestellt, dass jede Bedeutung unter der Last wahlweise konkurrierender, überlappender, sich verstärkender Überdeterminationen erschöpft zusammenklappt. Camp-Phänomenologie des Motorrads: Erst Stier (eine Frau schwenkt ihre rote Bluse wie ein Torrero, während die Biker draufzufahren um die Bluse zu treffen), dann Streitross (mit Palmwedeln bewaffnet fahren zwei aufeinander zu, um sich gegenseitig vom Motorrad zu stoßen), dann wieder einfach „nur“ Motorrad (aber eigentlich immer alles zugleich). Eigentlich müssten die Hell’s Angels den Film gehasst haben damals, aber ich schätze, wahrscheinlich war das Gegenteil der Fall. Super auch Nancy „This-is-the-Film-that-ruined-my-acting-career-before-it-had-even-started“ Sinatra.

Vardas „Uncle Yanco“ fand ich toll. So eine zarte Ironie, eine Hommage, die voller kleiner Klugheiten steckt und Zuneigung, die nicht auf falsche Kumpanei mit dem Zuschauer aus ist. Eben nicht dieses „Guckt mal wie rührend mein Hippieonkel ist“. Varda bekommt das hin, sich mit den Gegenständen, die sie filmt, zu verschwistern, ohne dadurch in Familienkonflikte zu geraten. Über The Brown Bunny könnte man gut mal ein Gespräch machen oder den Film einspeisen in die Enthusiasten-Videogruppe, es hat Spaß gemacht, den kurz vor 2LB zu sehen. Ich finde die Konstruktion mit der forcierten Uminterpretation am Ende gegen meine ersten Eindrücke auch notwendig. Ansonsten glaube ich, man kann Hellman / Gallo in vieler Hinsicht aneinander spiegeln und dann gucken, wofür die Differenzen stehen. (East / West; Kommunikation / Schweigen; etc.) Vielleicht würde Brown Bunny besser zu Bartleby passen.

Letzter Satz in David Holtzman’s Diary (Jim Mc Bride): „If I were Bartleby, I would prefer not to have made this movie.“

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