Philippe Grandrieux, La vie nouvelle, 2002
Rhetorik ist Umgang mit Form. Wissen um Wirkung. Ein Wissen, das in der Technik steckt, keine Sache des Bewusstseins sein muss. Von der Sprache, von Bildern als rhetorischen zu sprechen, heißt zugleich: nicht die Wahrheit in ihnen zu suchen. Rhetorik ist nicht Grammatik – sondern ihre Überschreitung, Post-Grammatik, die wieder in Grammatik zurückschlagen kann -, aber noch viel weniger lässt sich, rhetorisch, daran glauben, dass die Wahrheit im Vorgrammatischen wohnt. Man kann, rhetorisch, nach neuen Formen suchen, aber nicht glauben, dass das Gefundene ein urtümlich Wahres ist. Es ist neue Form und wird als neue Form neue Wirkungen zeitigen. Die Technik lebt von den Momenten, in denen sie ihre eigene Überschreitung ermöglicht. Der Rahmen aber bleibt Möglichkeit von Form.
Die Psychoanalyse hat immer schon sich doppelt lesen lassen. Als Übertragung rhetorischer (und damit: spezifisch sprachlicher) Erkenntnisse in die Lektüre des anderen Orts der Psyche. Verschiebung wie Verdichtung, die Topologien: Techniken an Orten, Formbildungen, wie flüchtig auch immer, jedoch strukturell beschreibbar oder poststrukturell. Die andere Lesart sieht – als „Unbewusstes“ – einen ganz anderen Ort eröffnet, Vor-Form, figurlos, vor aller auf Strukturen gebrachten, wiederholbaren Symbolisierung, ja, noch vor dem, was dann bei Lacan das Imaginäre heißen wird als Quasi-Form der Verkennung zur Ganzheit, die eine falsche ist. Das Wahre, das dem Falschen als Negativ korrespondiert, heißt das Reale und entzieht sich als solches jeder – immer schon symbolischen – Beschreibung als Form. Als nicht zu Fassendes ist es lesbar in den Formen als Moment des Entzugs der Repräsentation. Die sich entziehende Repräsentation wäre so nicht neue Form, sondern im Entzug Aufschein eines Wahren, das niemals fassbarer Bestand der Repräsentation werden kann.
„La vie nouvelle“ versteht sich emphatisch als Arbeit an den realen Grundfesten der Repräsentation. Es geht nicht um die Arbeit an – lesbaren – neuen Formen, sondern um mit den Ökonomien der Sprache nicht verrechenbare Wirkungen, die umso wahrer sind, als sie sich an der Quelle der Formbildung situiert glauben. Diese Wirkungen verstehen die Affekte, die sie erregen, nicht als Effekte einer Technik, sondern als Traumatisierungen der Sinne. Das Phantasma des Realen ist ein Phantasma des Unmittelbaren (der Zerstörung des Mittelbaren, des Mediums). Es ist ein Phantasma des Terrors. Des Aussetzens. Der Betrachter soll, im Aussatz des Realen, Erfahrungen machen, die nicht über, sondern unter seinen Begriff gehen. Der Terror des Realen ist die Erfahrung der Erfahrung nicht als kommensurables Erlebnis, sondern als Einschlag von Bild und Ton mit Gewalt. Ein Kino der Grausamkeit. Aushalten des Unerträglichen, das im Entzug der Repräsentabilien liegt. „La Vie Nouvelle“ gewährt, glaubt man ihm, was er von sich glaubt, Zeugenschaft bei dieser gewalttätigen Entstehung der Repräsentation in Bild und Ton. Ich halte das für Metaphysik und erlaube mir rhetorische Fragen. Ich weigere mich, meine Fragen der Anmaßung von „La vie nouvelle“ anzumessen. Ich verweigere mich seinem Terror und nehme ihn im Rahmen der Möglichkeit von Formen und ihrer Überschreitung.
Ich stelle also Fragen wie: Wie wird der Körper hier Bild? Was heißt hier Körper, was Bild? Wie kommunizieren die Körper, wie findet sich die Kommunikation dargestellt? Was sich dargestellt findet, das eine erste Antwort, ist Erschütterung der Darstellung. Erschüttert ist die Kamera, oder, um es so wenig metaphorisch wie möglich auszudrücken: Sie wackelt. Handkamerabilder. Das Bild ist nicht stabil. Zu beobachten sind Techniken der Auflösung von verlässlicher Repräsentation entlang breiter Skalen: vom Überscharfen zum flackernd Verschwommenen. Von präzisen Großaufnahmen, frontal, zu sich ins Unerkennbare verlierenden Gestalten. Vom definierten Körper zum amorphen Körper – genauer: zum Amorphen, das seine Körperlichkeit verliert. Reduktion, im Verlust von Schärfe, auf Hell-Dunkel-Kontraste. Die Kamera sucht die Nähe, in der sich die Umrisse, die Koordinaten, die Bestimmtheit des Orts verlieren. Unterbestimmt ohnehin: Der Ort, die Zeit. Auch die Figuren: ein Amerikaner, Seymour, mehr nicht. Osteuropa. Ein Haus, ein Nachtclub.
Ordnung entlang von Oppositionen: Innen/außen. Mensch/Hund. Dunkelheit/Licht. Sprache fällt aus, fast völlig. Das Verhältnis von Tierischem und Menschlichem wird so zu einem der Angelpunkte, denn hier laufen sowohl thematisch wie formal die entscheidenden Fragen zusammen. Welcher Art etwa sind die unmittelbaren Schnitte in einer Szene vom Hundezwinger, von den Hunden, auf den Mann davor, auf sein gefletschtes Gebiss? Produziert der Schnitt hier eine Gleichung: der Mensch das Tier? Eine Metapher: der Mensch wie ein Tier? Oder rückt er hier die Bilder als ähnliche zum Kontrast zusammen? Die Zeichen, scheint mir, deuten in Richtung einer Bestialisierungsthese: die entblößte Gurgel zum Schluss, hündische Unterwerfungsgeste, der tierische Schrei. Sex, auf Unterwerfung aus, Demütigung (der Frau): die vielleicht entscheidende Form der Vergesellschaftung, als ökonomisch strukturierte, die „La vie nouvelle“ zeigt, als Pervertierung ins Entmenschlichte. Nur deutet „Entmenschlichung“ auf eine Entwicklung, zu deren Rekonstruktion der Film kaum Anhalt gibt. Unter Menschenhändlern. Der Wunsch Seymours, die Frau zu besitzen, geht gegen diese Ökonomie, aber als Gegenbild – „Liebe“ – ist das kaum zu verstehen.
Und dann, so vage wie in beinahe jedem Bild zu greifen: der Krieg. Nachkriegsszenerie, Einschusslöcher, verlassene Gegend. Die ersten Bilder: Die Gesichter der Frauen, überscharf. Ein Bild der Trauer wie umgestülpter Angelopoulos: Wo dieser das Pathos in der choreografierten Statik der Massenszene sucht, fokussiert Grandrieux den einzelnen in größter Vereinzeltheit. Bei Angelopoulos: Entleerung ins Große, Stillstellung ins Tableau. Bei Grandrieux: Der gewaltsame Eintrag des Traumas, das Zittern, das Schütteln der Kamera. Gesten nicht der Entleerung, sondern der Aufladung. Wie aber soll die Übertragung der aufgeladenen Bilder auf den Betrachter wirken? Setzt „La vie nouvelle“ nicht auf den Übersprung, auf die Untmittelbarkeit mimetischer Wirkung? Mimesis natürlich nicht als Darstellung, als identifikatorische Referenzproduktion, sondern Mimesis als mediale Infektion. Die Gewalt von Bild und Ton schütteln dich. Der Terror im Bild, der Terror im Ton sehnt sich nach dem Terror im Betrachter. Mich aber lässt das kalt. Ich sehe die Technik. Ich sehe das Vibrieren, ich vibriere nicht. Ich empfinde nicht die Intensität der Aufladung, sondern ich sehe die technischen Gesten, die Frenetik des Bildes als hergestellte. Ich will das nicht einmal abwehren. Der Terror geht einfach ins Leere.
Eine einzige Einstellung ist es, die mich fasziniert und nicht loslässt. Ein Flur, am Ende ein Fenster, eine langsame, stetige Kamerafahrt, auf das Fenster zu, das Licht, das Bild im Rahmen. Der Rahmen weitet sich, dann verschwindet er. Es bleibt das Bild einer Stadt, Vorstadt, hässliche Plattenbauten, wie unbewohnt. Ein Bild ohne Menschen, ein entleertes Bild. Dieser kurze Moment der Entladung, auf der Tonspur ein finsteres Dröhnen, das aller Hoffnung, die man auf dieses Bild setzen könnte, Hohn spricht. Ein Stillleben im Licht, nature morte. Stadt und Natur, Dunkel und Licht, Menschenleere. Ein Nachbild, ein Still inmitten der Aufladungen, der Intensitätsbehauptungen, die vielleicht in einer langen Szene thermischer Bilder ihren Höhepunkt finden: eine Finsternis ohne Licht. Die Helligkeit ist nur Körperwärme, aber gerade hier, an der Stelle, an der Grandrieux den tiefsten Abbildungsabgrund sucht, drängt sich die Technizität dieser Bilder in den Vordergrund. Es ist das Gemachte daran, das die Intensität zerstreut, in dem Moment, in dem es sie zu erzwingen sucht. Die Kamerafahrt aber, die eine Bewegung des Gleitens hinaus aus dem Rahmen zeigt, zerfällt nicht zur Metapher oder zur Behauptung des Realen: sie bleibt bestehen als komplexe Bewegung zum Still. So opak wie scharf. Figur der Auflösung eines Rahmens. Und als diese Figur: ein Rätsel. Nicht verzweifelte Mimesis, sondern prägnante Form. Der Rest ist Dröhnen.
– Ekkehard Knörer –