„Ein Geheimnis der Verkörperung“.
Über „Gertrud“ von Carl Theodor Dreyer (1964)
Von Manfred Bauschulte
Vorspann
„Les femmes sont amoureuses et les hommes sont solitaires. Ils se volent mutuellement la solitude et la amour“.
René Char, Aromates Chasseurs (1975) / Jean Luc Godard, Nouvelle Vague (1990).
« L`homme, en tant qu`homme est bien un créateur, mais c`est un créateur créé, un ordonnateur obéissant, et ses limites sont celles de l`incarnation personnelle. C`est là son ordre et sa réalité, et le lieu de sa rédemption.
Cette limitation voue l’entreprise humaine à un échec final ; au jugement dernier. En même temps, elle est le ressort de toute action recréatrice.
Car c’est en espérance que nous sommes sauvés, mais cette espérance est certaine. Car le temps détruit l’acte, mais l’acte est juge du temps ».
Denis de Rougement, Penser avec les mains (1936/1972) / Jean Luc Godard, Histoire(s) du Cinéma (2000).
Ein Frauenstück
„Gertrud! –Gertrud! – Gertrud!“ – mit diesem dreimaligen Namensruf endet Hjalmar Söderbergs gleichnamiges Theaterstück aus dem Jahr 1906. Gustav Kanning, der gerade zum Minister ernannt wurde, geht in den Zimmern seines Hauses auf und ab und sucht nach der Frau, die ihn verlassen hat. – In diesen Schlussakt hat Hjalmar Söderberg, um den Verlassenheitsruf zu moderieren, um ihn etwas hinauszuschieben, das Erscheinen von Kannings Mutter hinein verlegt. Ihr Auftritt, die mütterliche Zuwendung verzögert einen Augenblick lang den Gang der Dinge. Die ödipale Situation von Mutter und Sohn hilft kurze Zeit über den Bruch, die durch Gertrud vollzogene Trennung hinweg: „Ich glaube, du weinst Gustav? Weine nicht, mein lieber Junge. Wenn das wirklich wahr ist – obwohl ich es trotzdem nicht glaube, Gustav – ist sie ja nicht so, dass du ihr nachtrauern müsstest“.
Walter Boehlich hat vor 20 Jahren mit seiner Übersetzung des Theaterstücks von Hjalmar Söderberg und mit seinen kommentierenden Anmerkungen den Rahmen abgesteckt, in dem sich „Gertrud“ als ein zentrales Frauenstück unter den bedeutenden skandinavischen Theaterstücken um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bewegt. Das Stück geht einen Schritt weiter als Ibsens „Puppenheim“ (1879) und auch als Strindbergs „Fräulein Julie“ (1889). Walter Boehlich beschreibt präzise und zurückhaltend die Entstehung und Überlieferung des Stückes. Er schreibt sehr plastisch und schön über die Hauptfigur des Stückes: „Gertruds Fähigkeit, zu lieben, wird erkennbar als Bedingung ihrer Autonomie, so wie andererseits ihre Autonomie dieser Fähigkeit dringend bedarf“.
Hjalmar Söderberg, Gertrud. Übersetzt und herausgegeben von Walter Boehlich. Verlag der Autoren Frankfurt/M. 1981.
„Liebe und tu was du willst“.
„Gertrud“ von Carl Theodor Dreyer, der Film aus dem Jahr 1964, entwickelt eine radikale Transposition für Söderbergs Theaterstück. Er entwickelt eine völlig eigene filmsprachliche Ausdruckswelt für die zentrale Frauengestalt und transportiert deren Problematik ins Zentrum moderner Erfahrungen. Carl Theodor Dreyer zeigt mit Gertrud eine Frau, die die Fähigkeit zu lieben und ihre Autonomie, die sie gleichzeitig mit dieser Fähigkeit entwickelt, verkörpert. Dreyer findet in diesem Film einen modernen Ausdruck, um die Liebesvorstellung des Augustinus zu entfalten, die da lautet: „Liebe und tu, was du willst“. Seine filmsprachliche Ausdruckswelt transportiert eine radikale Liebesvorstellung durch das 20. Jahrhundert in unsere Zeit. Ob diese Liebesvorstellung einen gangbaren Weg beschreibt, wie viel Scheitern, mit diesem Weg verbunden ist – davon will ich vorsichtig zu sprechen und zu handeln versuchen.
In dem Film von Carl Theodor Dreyer werden wir nicht, wie es so viele Male schon zuvor gesagt wurde, mit „Gertruds“ Tragik konfrontiert, sondern – wenn denn überhaupt von Tragik zu sprechen ist -, werden wir mit unserer eigenen Tragik konfrontiert: mit der Unfähigkeit in Verkörperungen der Arbeit und der Liebe zu leben, zu fühlen und zu denken. Vielleicht erwächst aber gerade aus dieser Konfrontation eine neue Qualität der Sicht auf „Gertrud“, vielleicht kann durch diesen Film ein sich entwickelnder Freiraum für Gefühle und Verwandlungen erkennbar werden: ein Freiraum, in dem schöpferische Akte, sich mit den Fähigkeiten zu lieben vereinen lassen. Es würde sich dabei um eine konkrete Utopie gegenseitiger und wechselseitiger Akte von Schöpfung und Liebe handeln. Mein vorsichtig formulierter Vorschlag würde so einfach wie konkret lauten: im Arbeiten und Lieben mit den Händen zu denken. Blicke und Hände, die zu einer solchen Verbindung fähig wären, könnten die rätselhafte Coda des Films auflösen und in die konkrete Wirklichkeit transponieren.
„Un phare pilote“.
Michel Delahaye sah und beschrieb „Gertrud“ im Jahr 1968 mit der folgenden Einstellung, die ich in ihrer existentialistischen Klarheit – einen solchen Realismus sucht man in dieser Zeit vergeblich – hier im Orginalton als Einstieg wiedergebe:
„>Gertrud< , évidemment, est un film qui ne parle que de l’essentiel. Et d’abord de l’amour. Carl Th. Dreyer fait partie (comme Ingmar Bergmann ou Mizoguchi Kenji) des cinéastes amoureux de la Femme, et >Gertrud< est entièrement fait sur l’Esprit de la femme, Esprit de don, de risque et d’aventure, mais que tolère mal l’Esprit masculin, cet esprit besogneux d’égoisme et de vanité que décrivait déjà le >Maître du logis< et qu’incarnent diversement les differents mâles de >Gertrud< .
Nous avons dit l’Esprit, et c’est bien.
>Gertrud< , c’est aussi la mort comme fin attendue, acceptée, de tout être. Mais la mort elle-même y témoigne pour l’amour, de cette pierre tombale qui est le testament de >Gertrud< , dans ce film, qui devait lui-même devenir un film-testament ».
Michel Delahaye, Un phare pilote. In : Cahiers du cinéma, Carl Th. Dreyer numéro spécial avec disque souple. Numéro 207, décembre 1968.
„Aber ich habe geliebt“.
Zu Beginn dieser Darstellung und dieses Versuchs kann also nur der Schluss des Films Erwähnung finden. Die „Gertrud“ von Dreyer ist eine alte Frau geworden, die im Gespräch mit ihrem Freund Axel Nygren, einem Psychoanalytiker, ihr Leben Revue passieren lässt. Gertrud ist eine alte Frau geworden, die es gelernt hat, Abschied zu nehmen, die jetzt Abschied nimmt für immer, weil sie sich wie zuvor schon viele Male lösen und trennen konnte. Diese Abschiedszene wie auch der Psychoanalytiker-Freund sind eine Erfindung von Carl Theodor Dreyer. In dieser Abschiedszene operiert er gezielt mit Elementen aus Söderbergs Stück, die er transponiert. Er rückt das Gedicht der sechzehnjährigen Gertrud, ihr „Liebes-Evangelium“ aus dem Zentrum des Stücks an das Ende und macht es jetzt in der Retrospektive zu einer zentralen Aussage des Films. Während Gertrud das Gedicht liest, wird der geschriebene Text als Bild-Testament eingeblendet:
„Sieh mich nur an.
Bin ich schön?
Nein.
Aber ich habe geliebt.
Sieh mich nur an.
Bin ich jung?
Nein.
Aber ich habe geliebt.
Sieh mich nur an.
Lebe ich?
Nein.
Aber ich habe geliebt“.
Die filmsprachliche Kontrapunktik von Carl Theodor Dreyer kulminiert im Schlussteil. Auf die Einzelheiten dieser Coda, die merkwürdigen Rollen, die der Hausdiener und der Psychoanalytiker, aber auch Gertrud in ihrer scheinbar manischen Konsequenz, auf all diese Einzelheiten der wundersamen Schlusseinstellungen werde ich am Ende dieses Versuchs zu sprechen kommen. Ich werde die Frage zu stellen haben, wie Carl Theodor Dreyer mit dem Freiheitsanspruch der Liebe verfährt, wie er ihn an seine Zuschauer weiterreicht.
„Henry van de Velde“.
In Hjalmar Söderbergs Stück konnte die Psychoanalyse noch keine Rolle spielen, sie war ja erst wenige Jahre jung. Was diese Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bedeutete, was die Zeit vor dem 1.Weltkrieg bewegte, wie sie sich den Aufbruch in eine neue Zeit vorstellte, – das hat sehr einfühlsam und plastisch Henry van de Velde, der Theoretiker des „Neuen Stils“, beschrieben. Er hat es von einem Standpunkt avancierter Modernität beschrieben. Der folgende Programmtext berührt Carl Theodor Dreyers Intentionen und seine Filmsprache. – Frieda Grafe hat zu Recht immer wieder auf Henry van de Velde hingewiesen -. Van de Velde formuliert eine programmatische Brücke für die ästhetische Wahrnehmung im 20. Jahrhundert, die heute noch gültig ist:
„Den Sinn, die Form, den Zweck aller Dinge der materiellen modernen Welt mit derselben Wahrheit erkennen, mit der die Griechen, unter vielen andern, Sinn, Form und Zweck der Säule erkannt haben.
Es ist nicht leicht, den exakten Sinn und die exakte Form für die einfachsten Dinge heute zu finden. Wir werden noch lange brauchen, um die exakte Form eines Tisches, eines Stuhles, eines Hauses zu erkennen.
Religiöse, willkürliche, sentimentale Phantasiegebilde sind Schmarotzerpflanzen.
Sobald die Arbeit der Reinigung und Auskehr beendet ist, sobald die wahre Form der Dinge wieder ans Tageslicht kommt, dann eben mit der Geduld, mit eben dem Geist und mit der Logik, mit der die Griechen nach der Vollkommenheit streben.
In gleichem Maße wie bei den Griechen scheint mir die künstlerische Sensibilität bei uns ausgebildet zu sein; weniger ausgebildet, aber schwächer entwickelt, ist bei uns der Sinn für Vollkommenheit.
Unter welchem sozialen Regime aber werden wir die heiter verklärte Ruhe genießen, die wir zur Arbeit und zum ernsten Streben brauchen?
Antwort:
Sollen wir von einem sozialen Programm erwarten, was doch nur unserem eigensten Innern entstammen kann?
Vernünftig denken, die künstlerische Sensibilität kultivieren!
Jeder von uns vermag das heute für sich selbst; es handelt sich nur darum, dass es deren Viele werden, auf dass eine neue soziale Atmosphäre entstehe“
Henry van de Velde, Zum neuen Stil. Aus seinen Schriften ausgewählt und eingeleitet von Hans Curjiel München 1955.
(„Henry van de Velde hat am Entstehen der Anthologie lebhaften Anteil genommen und sie durch vielerlei Anregungen sehr gefördert“, schreibt der Herausgeber).
„Ich möchte meine Männer selbst wählen“.
Vernünftig denken und die künstlerische Sensibilität mit dem kultivieren, was aus dem eigensten Innern entstammt! – Das ist eine pointierte Formulierung für Carl Theodor Dreyers filmisches Credo, das sich exemplarisch als Sujet die Liebesgeschichte einer Frau wählt: Gertrud fühlt sich von einer Männerwelt bedrängt und beengt, die in einem gefühllos gewordenem Arbeits- und Berufsleben erstarrt ist. Sie sucht dieser Welt mit innerlichen Kräften zu widerstehen. Gegenüber ihrem Mann, dem angehenden Minister, gegenüber Kanning, den sie verlassen wird, sagt sie dies programmatisch. Ihrem jugendlichen Liebhaber, dem Komponisten Erland Jansson erzählt sie es, nachdem sie ihm ihre Liebe erklärt hat, als Bedrohung, als Traum: „Ich träumte, dass ich nachts durch die Straßen lief mit einer Meute Hunde hinter mir, als sie mich einholten, erwachte ich“. Gertrud ringt von Anbeginn an mit den scheinheiligen und verstellten Vorstellungen einer allgegenwärtigen, überdeterminierten Männerwelt.
Als in einer späteren Szene Gertrud auf dem Festakt für den Dichter Gabriel Libman, für ihren Ex-Liebhaber, einen Schwächeanfall bekommt und sich in den Salon zurückzieht, hängt übergroß an der Wand eine Tapisserie, die genau diese Traumszene darstellt: Eine Frau, die von einer Meute Hunde umstellt wird und zerrissen zu werden droht. Als ersten Besuch in diesem Salon empfängt sie ihren Freund Axel Nygren, der ihr eine Kopfschmerztablette reicht und dann von seinem neuen Buch über den freien Willen berichtet. Woraufhin Gertrud Axel Nygren von ihrem Vater und ihrer Kindheit erzählt, von dessen Fatalismus und Vorsehungsglaube. „Ich möchte meine Männer selbst wählen“, sagt Gertrud am Ende ihrer Kindheitserinnerung so unvermittelt, dass Nygren nur erstaunt nachfragen kann: „In der Mehrzahl“. „Ja, in der Mehrzahl“, bestätigt Gertrud entschlossen.
„Psychosen, Neurosen, Träume“.
Dann erzählt Nygren Gertrud, dass er aus Paris kommt, wo sich eine neue Generation von Psychologen und Psychiatern zusammengefunden habe. Diese Gruppe, zu der er sich zähle, analysiere mit Hilfe der Hypnose und Telepathie Symbole und Träume, sie beschäftige sich mit Psychosen und Neurosen. Daran würde auch sie gerne teilhaben, sagt Gertrud. Solche Diskussionen würde auch sie gerne führen. Das ganze Gespräch über hängt Gertruds Traum als Tapisserie übergroß an der Wand im Hintergrund. Ihr Traum ist sichtbarer Teil des filmischen Arrangements geworden und führt zu einem erweiterten psychoanalytischen Prozess, in den der Zuschauer unmittelbar hineinversetzt wird.
Diese psychoanalytische Sitzung wird aber gleichzeitig von Anbeginn an, – das ist das Bedeutsame an dieser langen Einstellung -, von der Festrede Kannings, die er im Festsaal neben dem Salon hält, akustisch überblendet oder begleitet. Immer wieder dringen Wort- und Satzfetzen von der Rede ihres Mannes in dieses Gespräch ein. Dreyer verleiht so einer allgegenwärtigen und niemals ins Leere laufenden männliche Rhetorik Ausdruck. Die männliche Rede in ihrer Monotonie ist als enervierendes Hintergrundgeräusch einfach nicht auszustellen oder abzuschalten.
Das innere Drama Gertruds bildet in Gestalt der Tapisserie die Kulisse für eine erste psychoanalytische Sitzung mit Nygren, aber gleichzeitig spielt sich ihr wirkliches Drama von Männern umstellt zu sein und zerrissen zu werden, unmittelbar optisch und akustisch vor den Augen und Ohren des Zuschauers ab. Es scheint so, als ob Gertrud mit ihren widerstreitenden Gefühlen von den Ansprüchen und Lügen der sie umgebenden Männerwelt buchstäblich jeder Zeit zerrissen zu werden droht. Auch Axel Nygren, der Psychoanalytiker hat einen nicht geringen Anteil an dieser bedrohlichen, allgegenwärtigen Repräsentanz.
Ein Gorilla-Pärchen.
Der anschließende Dialog, den Gertrud mit ihrem Ex-Liebhaber Libman im Salon führt, wird von der gleichen, aber jetzt zweifach-verschobenen Problematik bestimmt. Im Aufbau der Film-Kulissen des Salons weiß man jetzt: die Protagonisten müssen der Tapisserie genau gegenüber auf einem Sofa sitzen. Libman versucht im Gespräch auf eine vollkommen verquere Weise seine alte Liebe zu Gertrud wiederaufleben zu lassen und zu erklären, gleichzeitig kann er aber nicht anders, als ihr von den Verfehlungen ihres aktuellen Liebhabers Erland Jansson in der vorangegangenen Nacht zu berichten. Er will ihr berichten, dass dieser ihren Namen und Ruf in den Schmutz gezogen hat. Und während all dieser krampfhaften Annäherungen und Versuche überlagern die Klänge einer Komposition eben dieses Liebhabers, die gerade im Festsaal gespielt wird, das Gespräch.
Zudem hat Dreyer offensichtlich auf eine besondere Weise die erstarrte Szene von Gabriel Libman und Gertrud auf dem Sofa durch eine listige Spielanweisung an die Schauspieler präformiert. Wie Ebbe Rode, der Darsteller des Libman, in seinen Erinnerungen berichtet, hielt er ihm und Nina Pens Rode vor dem Drehen dieses Gesprächs eine Aufnahme vor, die ein Gorilla-Pärchen in erstarrter Pose und Distanz zeigte. Ebbe Rode hat dieses Bild offenbar sehr, sehr wörtlich genommen, denn selbst als Libman einen Weinkrampf bekommt, hat man den Eindruck, das er einen Gorilla mimt. Welten trennen Gertrud in dieser Szene von ihrem Ex-Geliebten. Sie werden sichtbar.
Die Kontrapunktik von Stil und Gefühl.
Mit den subtilsten, gleich wohl folgerichtigsten, einfachsten Wechselschritten von Wort und Geräusch, Erzählung und Bild, Eindruck und Traum, Dialog und Geste, Vorder- und Hintergrund: – in der genauen und konkreten Abfolge des Wechselverhältnisses von Hörbar-Gesagtem und Unsichtbarem, Unsagbarem und Sichtbarem – entwickelt Carl Theodor Dreyer Schritt für Schritt Beweg- und Beweisgründe für den Absolutheitsanspruch und das Unabhängigkeitsverlangen von Gertrud. Ihr Freiheitsverlangen sieht sich auf eindringliche Weise ständig mit Enttäuschungen, Versagungen, Anfeindungen und Scheinheiligkeiten konfrontiert. Es wird überall auf die Probe gestellt und unerwarteten Prüfungen unterzogen. D.h. zentral geht es Dreyer darum sichtbar zu machen, wie Gertruds Liebesverlangen ständig mit dem eigenen Erwachen zu ringen hat. Sie fühlt sich durch alle Stadien ihrer vergangenen und gegenwärtigen Enttäuschungen wie durch einen Tunnel hindurch, um implizit und am Ende an ihrem Absolutheitsanspruch festzuhalten. Wobei allerdings diese Behauptung niemals ein Manifest ist, das gilt es zu zeigen.
Der Zuschauer kann zu einem Teilhaber dieses Begehrens werden, wenn er bereit ist, den Bewegungen aufmerksam zu folgen, wenn er erkennt, wie es sich zu behaupten lernt. Carl Theodor Dreyer führt die Zuschauer so direkt wie möglich zum wider-streitenden Gefühlsleben seiner Protagonistin. Beinahe bin ich geneigt zu sagen, er stößt sie geradezu mit der Nase darauf. Vielleicht verweigern sie ihm gerade deshalb die Aufmerksamkeit, weil es sehr schmerzhaft ist, immer genau zu zuhören und zu sehen, wie Gertrud umstellt wird. In Dreyers Film kann der Zuschauer lernen in den Gesichtern der Schauspieler zu lesen. Er kann lesen lernen, was der eine Schauspieler wohl denkt, während der andere spricht. Er kann lesen lernen, wie sich im Laufe einer langen Einstellung und eines langen Gesprächs der Gesichtsausdruck der Schauspieler verändert. Er kann aber auch lernen zu hören, was während der ganzen Zeit aus den Kulissen heraus an Geräuschen, Uhrenschlagen, Glockenläuten usw. hereindringt. Er kann lernen, wie Menschen sich mit ihren Bewegungen und Gesten und Worten in Räumen bewegen können und welche optisch-akustisch-gestischen Beziehungsformen sie entwickeln. Er kann lernen, wie die Körper sprechen und nur von sich.
Der Filmregisseur Carl Theodor Dreyer teilt mit dem Kunsttheoretiker Henry van de Velde einen Vollkommenheitsanspruch an die Kunst der Darstellung, der sich aus der Genauigkeit und Klarheit, der Sicht und dem Gefühl für die einfachsten Dinge des Lebens her entwickelt. Dieser Vollkommenheitsanspruch überkreuzt sich mit dem Absolutheitsanspruch seiner Protagonistin, mit Gertruds Begehren nach freier Liebe, und er verhilft diesem Anspruch zur Darstellung. Beide Ansprüche, die künstlerische Darstellung und das weibliche Begehren, sind mit der modernen Welt, mit den ins Leere laufenden, unreflektierten, überdeterminierten Anforderungen in einer männlich-dominierten Welt konfrontiert. Sie sind dies so unmittelbar, ständig, so direkt, dass daraus geradezu eine tragische Konstellation erwachsen kann. Eine solche tragische Konstellation muss jedoch nicht zwanghaft erwachsen. Im Gegensatz zu Frieda Grafe, die vor 30 Jahren Beeindruckendes über den Film schrieb, glaube ich, dass man sagen kann, – wenn man auf die Details des Films und ihre Genese zurückgeht -, dass Dreyer fähig gewesen ist, dieser Tragik zu begegnen. Er hat sie empfunden, und er begegnet ihr auf Schritt und Tritt, er hat sich ihr bewusst ausgesetzt. Gerade aus der exemplarischen Begegnung mit dem „Scheitern und Nicht-Scheitern“ Gertruds in der Abschiedsszene, wachsen dem Film heute Qualitäten zu, mit denen wir weiterarbeiten können. Genau besehen führt dorthin die genaue Auseinandersetzung mit der von Dreyer instrumentierten Kontrapunktik von Stil und Gefühl. Früher, d.h. in der Zeit vor der Romantik nannte man eine solche Verbindung so einfach wie direkt: Takt. Stil und Gefühl waren im „tactus“ noch eins. Die Vorstellung von romantischer Liebe zerbrach diese Einheit. Das unreflektierte Nachleben einer Vorstellung von Liebe, die auf dem bloßen Gefühl für Liebe, ohne die damit verbundene Vorstellung von Freiheit und Würde beruht, verhindert seither einen spannungsvollen Liebesdiskurs. Hier, genau hier liegen Dreyers unerhörte, unsichtbare Qualitäten: er macht einen solchen Liebesdiskurs wieder möglich, indem er das Verhältnis von Freiheit und Liebe, von Stil und Gefühl kontrapunktisch entfaltet.
Der Standort einer Frau von vierzig Jahren.
Carl Theodor Dreyer nimmt in seinem Film die Einstellungen und Positionen von Gertrud ein. Er teilt, wie Serge Daney es exemplarisch an der Szene mit ihrem Liebhaber Erland Jansson im Park beschrieben hat, den Blick einer vierzigjährigen Frau auf einen jüngeren Mann. „Es gibt im Kino eine Einstellung, die mir ganz außerordentlich erscheint. Es handelt sich um Gertrud von Dreyer (einer derjenigen, die es am besten verstanden haben, von Frauen zu reden): Gertrud steht zögernd (hésite) zwischen drei Männern, wobei der eine sehr viel jünger ist; in der Szene im Park (mit all den Statuen) gibt es eine geniale Einstellung und Kadrage, die den Körper dieses Jungen genau in diesem Gemisch erscheinen lässt von: ziemlich nah gesehen und doch, um ihn herum, etwas, das ein bisschen größer ist als er – was dazu führt, dass er anwesend und gleichzeitig unteilbar in dieser Anwesenheit ist. Man nimmt wirklich den Standort einer Frau von vierzig ein – eben Gertrud, die sich ganz einfach und sehr ernsthaft die Frage stellt, ob dieser Körper etwas für sie sei – dieser Junge, der jünger ist als sie. Das ist sehr eindrucksvoll bei Dreyer. Das hat zu tun mit ‚der Eroberung des Körpers’, einer Eroberung, die sich die Fetischisierung des Körpers verbietet – im Gegensatz zum Mann“.
Serge Daney, Devant la recrudescence des vols de sac à main. Cinéma, télevision, information (1988-1991) Lyon 1991.(Diese Übersetzung stammt von Johannes Beringer. Herzlichen Dank an ihn. Er schickte sie mir vor Jahren. Sie blieb lange zwischen meinen Papieren liegen und kommt jetzt wieder aus der Versenkung in einer von ihm überarbeiteten Fassung.)
Die situative Entwicklung der Autonomie.
Dreyer geht in seinem Film bei Gelegenheit noch einige radikale Schritte weiter: Er zeigt Gertrud in einer Rückblende und in einer langen Einstellung, wie sie ihre Beziehung zu ihrem Liebhaber Gabriel Libman reflektiert, wie sie sich in dessen Wohnung aufhält und bewegt, dort aufräumt und phantasiert, wie sie sich in der Gegenwart des abwesenden Geliebten fühlt, ihn erwartend und umsorgend. Sie durchquert in träumerischer Weise alle Räume der Wohnung. Es wird offensichtlich, dass der Sinn für Einfachheit bei Dreyer sich hier paart mit einem weiblichen Blick auf Umstände und Situationen, für die Dinge, für Anwesende und Abwesende. In leichthin gleitenden, in völlig zwanglosen Bewegungen, die jeder Fetischisierung aus dem Weg gehen, in einer meditierenden, fast schwebenden Weise wird Gertrud gezeigt. Bis zu jenem Moment, wo sie an den Arbeitsplatz, den Schreibtisch des geliebten Mannes tritt und einen Zettel mit der Notiz findet, dass Arbeit und Liebe sich ausschließen würden. Diese Notiz – das wird dann retrospektiv deutlich – führte zur ihrer Trennung von dem Schriftsteller Gabriel Libman.
In einer anderen, beinahe unscheinbaren Nebenszene wird der gleitende Bewegungsmodus von Carl Theodor Dreyer ebenso sichtbar: an dem subtil komischen und grotesken Umgang mit der Zigarette ihres Liebhabers Erland Jansson. Im Anschluss an ihr Rendezvous, als Jansson sich eine Zigarette ansteckt und sie Abschied nehmen will, entnimmt sie die brennende Zigarette seinen Händen, raucht sie und hält sie buchstäblich bis zum letzten Augenblick des Abschieds fest. Sie reicht sie ihm erst im letzten Augenblick, als sie schon fast aus der Tür und aus dem Bild ist, wieder durch die offene Tür zurück Gertrud beherrscht bereits hier ein Stück weit die Situation des Abschiednehmens. – Wobei hinzugefügt werden muss, dass dieses Rendezvous und alle Passagen (z. B. die lyrische Einstimmung durch Gertruds Traumgesicht, auf die ich noch näher eingehe) davor und danach einer Erfindung und Dramaturgie von Dreyer folgen. Bei Söderberg gibt es solche Szenen nicht. Dreyers filmische Intelligenz und Erfindungskunst versuchen in diesen Szenen einen Rahmen für all jene Bedingungen aufzuzeigen, unter denen sich Gertruds Autonomie situativ entwickeln kann.
In vielen einzelnen Szenen wird deutlich, wie Dreyer Gertrud in gleitende, träumerische und zurückhaltende Bewegungsformen eingehen lässt, die jeden Fetischismus ausschließen. Die Sichtweise des Spiegels, den ihr Libman schenkte, macht dieses erkennbar. Libman zündet die Kerzen neben diesem Spiegel an, als wolle er in einer Haltung männlicher Erwartung, dass Gertrud darin erscheint, und sie erscheint ihm tatsächlich darin. Aber Gertrud ist es, die im Anschluss an dieses, ihr letztes Gespräch mit Libman, die Kerzen wieder löscht, und darin ihre weibliche Gelöstheit und Intuition verkörpert. Eine solche, die sich von sich kein Bild machen will und muss. Gertrud, die im Spiegel wie aus einer lebendigen Vergangenheit ihrem Liebhaber erscheint, überwindet durch sich den Fetischismus dieses Geschenks, weist auf eine unbeweisbare Zukunft hin, die durch sie lebt, durch die sie lebt.
Es handelt sich um gleitende Bewegungen, die jede Form von Fetischisierung und Symbolisierung aufheben, d.h. implizit damit einen emanzipatorischen Umgang mit Menschen und Dingen aufzeigen und eine Selbstfreigabe evozieren, die den Gefühlen einer Frau innewohnt. Sohin auch und vor allem der Arbeit des Regisseurs zu Grunde liegt. Dreyers Protagonistin, die so sehr der männlichen Dominanz preisgegeben und ausgeliefert ist, überwindet ihr Ausgeliefertsein Schrift für Schritt, weil sie sich zu den Kräften eines Innenlebens bekennt, das in der Lage ist, sich selbst freizugeben, das auf Symbolik und Repräsentation verzichten lernt. In dem ständigen Widerstreit mit der übermächtigen Außenwelt wird Gertrud befähigt, in fließenden und träumerischen Ausdrucksbewegungen ihre eigenen Schwächen zu überwinden, an ihren liebenden Fähigkeiten festzuhalten und für sich einen Schritt weiterzugehen. Die Rückblenden im Film zeigen, wie sich aus der Erinnerungsarbeit von Gertrud heraus ihr Freiheitsanspruch entwickelt hat. Diese Reisen in die Vergangenheit verfahren niemals symbolisch oder repräsentativ, sondern sie entfalten sich in der Kontrapunktik zu aktuellen Konflikten und Verstrickungen in fließenden Bewegungen.
„Wer bist du eigentlich?“
In der Liebes-Traum-Sequenz von Gertrud, diesem Akt einer meditierenden Annäherung an die Vereinigung mit einem Mann, liegen all diese Elemente sehr deutlich vor. Ich gebe die lyrische Gesprächs-Meditation hier im Wortlaut wieder:
Erland: Wer bist du eigentlich?
Gertrud: Ich bin viele verschiedene.
Erland: Wer?
Gertrud: Ich bin der Morgentau, der von den Blättern tropft. Und die weiße Wolke, die vorüberzieht. Niemand weiß wohin.
Erland: Was noch?
Gertrud: Ich bin der Mond. Ich bin der Himmel.
Erland: Bist du noch mehr?
Gertrud: Ich bin ein Mund: ein Mund, der einen anderen Mund sucht.
Erland: Das klingt wie ein Traum.
Gertrud: Es ist ein Traum. Das Leben ist ein Traum.
Erland: Leben?
Gertrud: Das Leben ist eine lange, lange Kette von Träumen, die sich aneinander reihen.
Erland: Und der Mund, von dem du sprichst?
Gertrud: Ein Traum.
Erland: Und der Mund, den du suchst?
Gertrud: Auch ein Traum.
Dreyers filmsprachlicher Stil und Gertruds Freiheitsbegehren berühren sich in diesen Einstellungen und Gesprächen unmittelbar: in Form einer träumerischen Lösung und Gelöstheit und Loslösung, die es erlaubt selbst mit Fehlern, mit Unvollkommenheiten, mit Widerständen, mit Widersprüchen zu operieren. Genauigkeit und Direktheit, der Sinn für jede Nuance und ein Absolutheitsanspruch sind durchaus vereinbar, wenn sie sich in Form einer träumerischen Gelöstheit manifestieren. Deren Kennzeichen ist es: sie ist niemals abzulösen vom Körper. Der Traum, jede fließende oder träumerische Bewegung und Suche ist inspiriert von einem körperlichen Gestus, offenbart sich darin und mündet in einen anderen, weiteren. Der Traum und die Liebe gehören der Körperwelt so unmittelbar wie notwendig an. Sie lassen sich davon schlechthin nicht lösen, der Traum und die Liebe, sie sind derart nicht romantisch, nicht gnostisch, nicht post-modern zu vernebeln. Sie werden ohne einen Anspruch oder eine Erklärung für Erlösung oder Selbst-Erlösung vorgetragen.
Die Liebes-Traum-Sequenz
Die Liebestraumsequenz verweist auf die Dominanz der Introspektion, die Dreyer mit seinem Schaffen erforscht, die er betreibt, die er aber zugleich für die Moderne fordert. „Wörter braucht man, die aus dem Innern des Herzens, aus der Seele kommen“ – sagt er in jenem legendären letzten Gespräch mit den Leuten von den Cahiers du Cinéma 1968. Diese Form der Introspektion dient als Instrument einer künstlerischen Sensibilität, die auf klar umrissenen Voraussetzungen ruht. Dreyers geschärftes Sensorium für Introspektion, das er auf Gertruds Liebesverlangen überträgt, zeigt, wie sie die Fähigkeiten entwickelt, um ihren Freiheitswillen zu realisieren. Dieser Freiheitswille steht in unmittelbarer Verbindung mit ihren Gefühlen, Träumen, Gedanken und ihren Worten. Der Mund, der solche Träume und Gefühle und Worte artikuliert, ist der gleiche Mund, der ein Liebesverlangen hat. So direkt wie einfach. Der Psychoanalytiker Nygren schreibt ein Buch über den freien Willen, Gertrud findet Mittel und Wege, um den freien Willen zu leben.
Mit dieser Liebes-Traum-Sequenz lässt Dreyer aber insbesondere Gertrud auf ihren eigenen Zerreißungs- und Vernichtungstraum reflektieren und replizieren. Dramaturgisch ist diese Sequenz genau eingelassen zwischen die erstmalige Äußerung dieses Traumes im Liebesduett mit Erland im Park und den späteren Konfrontationsszenen im Salon. D.h. Dreyer verleiht seiner Protagonistin all jene träumerischen Eigenschaften und Fähigkeiten, die es ihr erlauben, sich den kommenden Enttäuschungen und Lügen, den scheinheiligen Rechtfertigungen und Selbstdarstellungen der Männer gewachsen zu zeigen. Aus diesen träumerischen Qualitäten erwachsen Gertrud all jene Fähigkeiten des Verzeihens und der Nachsicht, die sie gegenüber ihrem jugendlichen Liebhaber, aber dann auch gegenüber Kanning und Libman ständig ins Spiel bringen muss.
Gertruds Lied „Ich grolle nicht“, das sie unter der Klavierbegleitung von Erland Jansson im Salon singt, führt an das extreme andere Ende ihrer Fähigkeiten zu träumen: sie wird ohnmächtig. Sie, die bereits um die Untreue des Komponisten und um die Enttäuschung ihrer jüngsten Liebe weiß, singt in seiner Begleitung vor der Herrengesellschaft. Im Salon, der bereits einige Male Schauplatz extremer Konfrontationen des Gefühlslebens wurde, bricht Gertrud beim Singen zusammen. – Um allerdings in der anschließenden Szene im Park mit dem Komponisten wieder in großer Deutlichkeit und Entschiedenheit aufzublühen. Gertruds Gefühlsleben, das aus den Qualitäten von Bezauberung und Träumerei gebildet wird, und sich vermittelt durch die Fähigkeiten, Enttäuschungen und Widersprüche auszuhalten, geht in eine neue Verwandlungsformen über. Genau diese Verwandlungs-formen werden von Dreyers filmischer Dramaturgie in Perioden und Stadien entwickelt, in denen Gertruds Qualitäten und Fähigkeiten sich wechselseitig bedingen, um bestimmte Folgen und Konsequenzen des eigenen Handelns ersichtlich zu machen. Im Unterschied zu Nygren, der in seiner männlichen Selbstbestimmtheit über den freien Willen schreibt, ohne zu wissen, was er ist, entwickelt Gertrud diesen freien Willen durch sich, aus einer inneren Vorstellung heraus, die eines vor allen Dingen ist, mit seiner Unbestimmtheit einhergeht. Und daher eines erlaubt, sich von Fall zu Fall zu behaupten und zu reagieren.
„Die Liebe ist kein bildliches Gebot“.
Blaise Pascal schreibt: „Die Liebe ist kein bildliches Gebot. Behaupten, dass Jesus Christus, der gekommen ist an Stelle der Bilder die Wahrheit zu setzen, gekommen sei nur das Bild der Liebe zu bringen, ihr aber die Wirklichkeit, die sie früher hatte, zu nehmen: das ist schrecklich“. – Mit dieser Vorstellung von Pascal befinde ich mich im Zentrum der filmischen Arbeit von Carl Theodor Dreyer, der im Anschluss an „Gertrud“ einen Jesus-Film realisieren wollte. Ich befinde mich zugleich im Zentrum der Liebesvorstellung des Films. Für Gertruds Liebe gibt es schlechthin kein bildliches Gebot, weil es keinen äußerlich beweisbaren Grund für sie gibt. Der Absolutheitsanspruch ihrer Liebe entwickelt sich aus den Fähigkeiten der Aufmerksamkeit und Zuneigung, der Hinwendung und Träumerei, aber auch den Fähigkeiten Enttäuschung und Abweisungen zu bewältigen. Gertrud steht für die inspirierte Introspektion beim Erwerb der Fähigkeiten, zu lieben, und der Bewältigung ihrer Enttäuschungen in der Liebe, nicht mehr und nicht weniger.
Die bildlose Glaubenswette Pascals, die zutiefst selbst noch in dem postmodernen Kinofieber eines Gilles Deleuze mitschwingt, – sie wird durch Carl Theodor Dreyer (der in vielem ein direkter Schüler von Kierkegaard und Strindberg ist – darauf konnte ich hier nicht eingehen) in moderner Form übertragen auf die Liebe. Carl Theodor Dreyer ist fähig gewesen mit den Mitteln der Bilder und Töne in seinem Film von der Bildlosigkeit der Liebe zu sprechen und zu handeln. Mit „Gertrud“ hat er die Bildlosigkeit der Liebe im Zentrum unserer modernen Erfahrungen verankert. Er behauptet damit einen großen Widerstand und einen vehementen Widerspruch gegen alle jene Konzepte romantischer und mythischer Liebe, von denen selbst ein Walter Benjamin in seinem Essay über Goethes „Wahlverwandtschaften“ alles andere als frei war.
Gertrud schließt die Tür – von Innen.
Am Ende des Films von Carl Theodor Dreyer schließt Gertrud in Nahaufnahme die Tür zu ihren Erfahrungen der Liebe von Innen. Der Zuschauer steht vor einer verschlossenen Tür. Ein Schemel steht davor, vielleicht hat er das Bedürfnis sich einen Augenblick lang darauf zu setzen und zu warten, könnte man Dreyer augenzwinkernd deuten. Aber die Tür bleibt geschlossen. Axel Nygren hingegen verlor sich eher hilflos als souverän mit Mantel und Hut in der Tiefe des Raums und winkte zum Abschied am Ausgang…
Nygrens Besuch bei der alten Gertrud steckt voller Anspielungen und Zitate, von Munch bis Racine sind die Verweise breit gestreut. Aber Gertrud hält den Analytiker auf einer mittleren, genau bemessenen Distanz, genau auf der Distanz, die es ihr erlaubt, ihren letzten Willen zu bekunden. Sie konfrontiert den Theoretiker des freien Willens mit den Konsequenzen der verwirklichten Freiheit. Sie erzählt ihm von ihrem Grabstein mit der Inschrift „Amor omnia“, von dem Maulbeerbaum, der an ihrem Grab steht und den Anemonen, die dort wachsen werden. Sie verlängert ihren Lebenstraum von der Liebe auf ein Leben nach dem Tod. Sie verweist mit ihren träumerischen Qualitäten auf ein Leben nach dem Tod.
Gertrud hat es gelernt, in Übergängen zu leben, zu träumen und sie in Freiheit zu verwandeln. Die Männer um sie herum im Schlussteil bleiben in den ewig-gleichen Abhängigkeiten befangen, d.h. sie sind weiterhin auf der Suche nach Anerkennung und Anlehnung, aber auch nach Unterwerfung. Die Haltung des Hausdieners, den Gertrud etwas bärbeißig und barsch an seine Arbeit erinnert, macht in beinahe übertriebener Form deutlich, dass auch sie es jetzt gelernt hat, die Männer so zu nehmen, wie sie sich selbst wahrnehmen. Einzig Nygrens Wunsch, seine Briefe, die er ihr geschrieben hat, zu verbrennen, lässt für einen ganz kurzen Augenblick lang etwas von einer inneren Freiheit erkennen, die er Gertrud gegenüber gewonnen hat. Allerdings ist auch sie es, die ihm diese Briefe zurückgeben will und ihn bittet damit zu verfahren, wie ihm beliebt. Auch kurz zuvor beim Betreten des Zimmers, als Nygren Gertrud beinahe beleidigt fragte, warum sie seinen letzten Brief nicht beantwortet habe, wird ein Riss spürbar, der schlicht nicht zu überbrücken ist. Im Grunde diktiert Gertrud durch den ganzen Schlussteil hindurch Nygren, dem Theoretiker des freien Willens, ihren letzten Willen, ihr Testament. Nygren ist ihr ein Zeuge, aber was in ihr vor sich geht kann er nicht, kann er niemals nachvollziehen, noch begreifen. Er kann es nur akzeptieren lernen. Nygren bleibt auf sie fixiert, er kann ihr nie wirklich ein Gegenüber sein. Das wird sehr deutlich.
In den Bildern und Tönen des Films von Carl Theodor Dreyer wird ein Seelenraum von Freiheit und Liebe erfahrbar, hör- und sichtbar, – der in seiner radikalen Konsequenz auf die Bildlosigkeit von Freiheit und Liebe, auf die Bildlosigkeit von Autonomie und Gnade verweist. Dieser Seelenraum beruht auf einem Vermögen, das niemals in Selbstdetermination und Überhebung aber auch umgekehrt nicht in Selbsterniedrigung und Unterwerfung aufgeht. Man könnte mit dem wunderbaren Wort von Keats sagen, dieser Seelenraum beschreibt ein „negatives Vermögen“, das sich aus Träumen und Schauen, aus Zuhören und Fühlen, aus Aufmerksamkeit und Nachsicht in freier, innerer Konsequenz und Intensität entwickeln lässt. Gertrud verabschiedet sich am Ende aus einer Welt, die sich weigert zu träumen, zu fühlen, zu schauen, zu zuhören, weil diese Welt sich zur Liebe und zum freien Willen der Menschen wie zu etwas Äußerem, Äußerlichem, Erwerbbaren, wie zu Ämtern und Berufen, zu Besitztümern stellt. Sie verabschiedet sich aus einer Welt, in der Männer ohne Eigenschaften das Sagen haben. Aber sie verabschiedet sich auch mit den Träumen eines Lebens nach dem Tod. So gesehen leben wir heute an den Kreuzungspunkten und Schnittstellen genau dieser Erfahrungen, die Carl Theodor Dreyer uns in seinem Film aufzeigt.
Nachspann:
Bald – bald schon
In den nächsten Tagen – schon
Werden sie singen
Werden wir sie hören können:
Die Amseln,
Die kleinen Prophetinnen
Der Übergänge
Der Liebe.
(Bardüttingdorf, im Winter 2004).