Mittwoch, 28.04.2004

Drei Sequenzen aus „East Side, West Side“

(USA 1927, Regie: Allan Dwan)

Von Volker Pantenburg

Allan Dwan: Es gibt ein Buch über ihn von Peter Bogdanovich. 1922 hat er einen Robin Hood-Film mit Douglas Fairbanks gedreht und fünfzehn Jahre später einen Heidi-Film mit Shirley Temple. Fairbanks und Gloria Swanson spielten, heißt es, am liebsten unter seiner Regie. Zu Stummfilmzeiten gehörte er zu den sechs bekanntesten Regisseuren Amerikas. In Kevin Brownlows Buch über die „Pioniere des Films“ kann man Erstaunliches über ihn lesen: „‚Ich habe einmal versucht, eine Liste meiner Filme aufzustellen‘, berichtete Dwan, als ich ihn 1964 in Hollywood besuchte. ‚Jemand schickte mir eine Liste mit 800 Titeln zu, und ich versuchte den Rest zu ergänzen. Ich kam bis 1400 und mußte dann aufgeben. Ich konnte mich an die anderen einfach nicht erinnern.'“ Wahrscheinlich sind es nicht ganz so viele – die IMDb kennt 251, viele davon sind heute verschollen -, aber trotzdem bleibt das Pensum unglaublich. Zu Einakter-Zeiten, vor 1913, bedeutete das, pro Woche drei Filme zu machen – „damit ich das Wochenende frei habe“, hat er sinngemäß gesagt und das keineswegs, wie man hoffen würde, als Scherz gemeint.

Angefangen hat er fast zeitgleich mit Griffith, sein Weg zum Film ist – wie so viele in der frühen Phase des Films – ebenso abenteuerlich wie zufällig: Für das Untergeschoss des Hauptpostamts in Chicago entwickelt er 1909 Quecksilberleuchten, damit die Leute bei künstlichem Licht länger Briefe sortieren konnten, ohne dass ihre Augen ermüden (ich musste dabei an Bartleby in seinem ‚Dead Letter Office‘ denken) – dieses Effizienz-Denken hat er sich offenbar auch später bewahrt. Das Licht, das aus dem dunklen Gebäude herausstrahlt, bringt jemanden ‚vom Film‘, der grad vorbeikommt, auf die Idee, solche Lampen am Set einzusetzen. Er fragt nach Dwan, und der findet sich plötzlich als Beleuchter beim Film wieder.

Ein paar Wochen später: Dwan, jetzt zugleich auch Drehbuchschreiber, weil er ein paar Geschichten in der Schublade hatte, fängt bei der neu gegründeten „American Film Manufacturing Company“ an. Es macht mehr Spaß, das rückblickend aus erster bzw. zweiter Hand zu erfahren; daher ein langes Zitat aus Brownlows Buch über den frühen amerikanischen Film: „Die neue Firma hatte ein Problem. Irgendwo in Kalifornien – niemand wußte genau, wo – befand sich eines ihrer Filmteams. Es kamen von dort keine Filme mehr und, trotz zahlreicher Fernschreiben, auch keine Nachrichten. Man bat Dwan, hinzufahren und herauszufinden, was eigentlich los sei. Er stöberte das Team in San Juan Capistrano auf. ‚Sie hatten keinen Regisseur mehr, denn der, den sie ursprünglich hatten, war Alkoholiker. Er hatte sich auf eine Sauftour nach Los Angeles davongemacht und hatte das Team sitzenlassen. Also telegrafierte ich: ‚Vorschlage, das Team aufzulösen – kein Regisseur vorhanden.‘ Sie telegrafierten zurück: ‚Sie führen Regie.'“ Wie das genau geht, weiß er selbst nicht, der Einfachheit halber fragt er die Schauspieler: „Die Schauspieler nahmen ihn mit und zeigten es ihm. ‚Ich fand das eine sehr erfolgreiche Vorgehensweise und machte mir das zur Regel. Ich lasse mir einfach von den Schauspielern erklären, was ich tun soll, und damit komme ich ausgezeichnet klar. Ich mache das jetzt schon seit 55 Jahren so – und niemand hat mich bisher dabei erwischt.'“ Im Tonfilm rutscht Dwan – einige hundert Filme später – wie viele andere aus der ersten Liga ab in die B-Film Produktion, um erst von den Cahiers ab Anfang der Sechziger Jahre wiederentdeckt zu werden. Mit 95, ein Jahr vor seinem Tod, ließ er sich noch mal interviewen, jemand, der fast volljährig war, als das 20. Jahrhundert begann.

Wenn ich hier diese Informationen zusammenstelle, soll das nicht heißen, dass ich mich mit Dwan auskennen würde. Im Gegenteil, gestern Morgen hatte ich noch keinen einzigen seiner Filmen gesehen, selbst der Name war mir, auch wenn ich ihn mal irgendwo gelesen haben sollte, unbekannt. Man erinnert sich erst dann an etwas, wenn es aus unerwarteter Richtung zum zweiten Mal auftaucht. In diesem Fall ist das die MoMA-Retro, die im Mai im Berliner Arsenal zu sehen sein wird. Dwans Film „East Side – West Side“, ein Melodram aus dem Jahr 1927, kann man dort gleich zweimal sehen, am 9. Mai als Eröffnungs- und am 5. Juni als Abschlussfilm.

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„East Side – West Side“ ist ein Film, der – eingerahmt von zwei sinkenden Schiffen – vom Aufstieg eines Jungen erzählt, der beim Wolkenkratzerboom der Zwanziger Jahre nicht mehr bloß als Ziegelsteinlieferant auf dem East River, sondern als Architekt und Ingenieur mitmischen will. Nachdem das Boot, und mit ihm Mutter und Stiefvater, untergegangen ist, strandet er mit leeren Taschen in der East Side und boxt sich im wahrsten Sinne des Wortes hoch. Tellerwäscher, Millionär. Natürlich spielt genregemäß die Liebe eine wichtige Rolle und soziale Schranken, die diese Liebe 80 Minuten lang verhindern. Ein verlorener Vater muss ein zweites Mal verloren werden, und das, bevor er überhaupt von seinem Sohn erkannt worden wäre. New York ist dabei, wie in so vielen Filmen, mehr als eine Stadt, es ist immer auch Allegorie und Inbegriff des Von-Unten-nach-Oben. Eine U-Bahn-Baustelle kommt vor und die halbfertigen Wolkenkratzer, beide Orte messen die vertikale Aufstiegs- und Fallhöhe aus und sind gleichzeitig Bestimmungsort für Ziegelsteine.Ich will den Film hier nicht im Einzelnen nacherzählen, sondern nur drei kurze Sequenzen beschreiben, die aus dem Film herausfallen und in diesem Herausfallen zugleich zeigen, wie groß die Spielräume waren, die das vermeintlich fließbandartige Erzählen – „continuity“, „unsichtbarer Schnitt“ – sich damals nehmen konnte. Wie sich also die Fiktion immer auch öffnen ließ in Richtung Dokument und Gegenwart und welches Vergnügen in diesem Ausscheren aus der narrativ vorgegebenen Linie lag.

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Ziemlich zu Beginn, nach Untergang und Wiedergeburt gerät John Breen – so heißt der etwas naive Aufsteiger -, in eine Schlägerei auf den Straßen der East Side. Man merkt, dass er ein guter Kämpfer ist, aber im immer unübersichtlicher werdenden Getümmel droht er seinen Gegnern schließlich zu unterliegen. Becka, seine große Liebe, greift nach einem Ziegelstein – zentrales Motiv von Beginn an, als es einmal eine ebenso naheliegende wie schöne Überblendung vom Ziegelsteinberg auf einen Wolkenkratzer gibt -, den sie einer der Halbweltgestalten über den Schädel zieht. Anstatt nun dem Gerangel weiter zu folgen, setzt sich die Kamera plötzlich rückwärts in Gang, als zöge sie die taumelnde, wankende Figur aus der Szene heraus. Kamera und Geschlagener bleiben dann lange auf einer Höhe, immer weiter verschwindet der Kampf im Hintergrund, immer deutlicher wird das Gefühl, dass man jetzt ebenso gut hier weitererzählen könnte, bei dieser Nebenfigur.
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Bei einem der Boxkämpfe: Breen hat seinen Gegner so gut wie KO geschlagen, der jetzt fast bewusstlos mit den Armen über die Seile des Rings hängt. Wir sehen sein Gesicht in Großaufnahme. Dann folgt eine Überblendung: auf dem gleichen Kopf sitzt jetzt der Hut eines Fauns und an den kurzen, krummen Zähnen vorbei pfeift er verzückt in eine Panflöte. Die Kamera fährt zurück, man sieht nun, dass er, der grade noch am Boden lag, Flöte spielend in einem Reigen junger Mädchen steht, die um ihn herum tanzen. Dann gibt es eine zweite Überblendung, zurück auf den bewusstlosen Boxer. Wir sind also für einen kurzen Moment in seinen betäubten Kopf hineingeglitten und haben eine oder zwei Sekunden lang den Film gesehen, den sein verlöschendes Bewusstsein ihm von hinten auf die Netzhaut projiziert. Realität und bewusstlose Halluzination gehören hier dem gleichen filmischen Register an und man erkennt den Spaß darin, Bilder zu finden für Immaterielles und beides mit der gleichen Aufmerksamkeit zu behandeln. Zugleich spricht daraus auch die Faszination, die Eisensteins Filme und sein Konzept einer „Montage der Ideen“ Mitte der Zwanziger Jahre auslöste. Sich nicht mit dem Sichtbaren zufrieden geben, Beziehungen, Verborgenes, Abstraktes zeigen wollen.
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Später im Film: Breen hat den sozialen Aufstieg von Ost nach West geschafft. Zusammen mit dem Mann, von dem er nicht weiß, dass es sein Vater ist, steht er im luxuriös eingerichteten Arbeitszimmer an der West Side. Vor dem Fenster regnet es Papierschnitzel, offenbar findet draußen gerade eine große Kundgebung statt. Erst als in den Zwischentiteln der Nonstop-Flug nach Paris erwähnt wird, merken wir plötzlich, dass von Charles Lindbergh die Rede sein muss, der im Mai des gleichen Jahres den Ozean erstmalig überquert hatte. Diesem Impuls, unmittelbare Gegenwart in den Film einzubauen und die fiktionale Geschichte immer wieder dokumentarisch aufzuladen, folgt Dwan noch auf einer anderen Ebene. Man müsste das am Schneidetisch überprüfen oder auf einer DVD, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er an dieser Stelle Newsreel-Aufnahmen in seinen Film einmontiert und die Straßenszenen kurzerhand aus der existierenden Berichterstattung übernimmt. Für den Bruchteil einer Sekunde jedenfalls sieht man eine Einblendung, die wie die Titeleinblendung einer damaligen Wochenschau aussieht, dann folgen Aufnahmen von der Parade und den Leuten auf der Straße.Godard hat in „Les Carabiniers“ – aus anderen Gründen und mit anderen Effekten – etwas Ähnliches gemacht, als er die Kriegsaufnahmen weitgehend aus bestehendem Wochenschaumaterial zusammenstellte. Hier, bei Dwan, kann man das sicher auch als ökonomische Geste verstehen: auf das zurückgreifen, was ohnehin schon da ist an Material; Drehzeit sparen und mit dem geringsmöglichen Aufwand operieren. Aber stärker noch spürt man darin den Wunsch, den Film einzubetten in die Gegenwart der Stadt, in die Bilder und Realitäten, die New York ohnehin von sich produziert.

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Dass der Film, von dem diese drei Momente scheinbar weg führen, auch sonst sehenswert ist und eine Geschichte erzählt, zu der man von diesen exzentrischen Augenblicken aus gerne zurückkehrt, ist die Voraussetzung dafür, dass solche Momente funktionieren.

Ein Kommentar zu “Drei Sequenzen aus „East Side, West Side“”

  1. Knörer schreibt:

    Das mit den Newsreels (ich hatte bei Dwan denselben Eindruck) macht Rohmer in seinem „Triple Agent“ auch, zu noch einmal anderem Effekt. Da steht das sehr schroff gegeneinander, die „Normalversion“ des Schwarzweiß/Newsreel-Film gewordenen Geschichts-Erinnerns, und sein sich aller Lösung und endgültigen Einbettung immer wieder und zuletzt entziehendes Rekonstruktions-Schachspiel.

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