Nochmal Marseille
D 2004, Regie: Angela Schanelec
Das Anfangsbild: ein Blick von der Rückbank aus nach vorne, aus der Frontscheibe eines Autos heraus. Man sieht den Nacken der Fahrerin und angeschnitten ihr Gesicht. Die Geräusche im Innenraum – das Gerumpel durch die Unebenheiten der Straße, Gasgeben, Kuppeln, nochmal Gasgeben – sind von Anfang an sehr präsent, fast überdeutlich, das bleibt auch im weiteren Verlauf des Films so. Das Rascheln der Plastiktüte zum Beispiel, als Sophie Lebensmittel in den Kühlschrank einräumt, legt sich als irritierende Tonblende über einen Schnitt: Es raschelt weiter, aber nach dem Schnitt sind wir nicht mehr in ihrer Wohnung, sondern beim Epicier, der an der Kasse ihre Einkäufe einpackt.
Die ersten gesprochenen Worte des Films: Tu connais le coin? Kennst du das Viertel? Nein. Anhalten, Aussteigen, einen Stadtplan kaufen: Un cadeau. Zwei Frauen haben die Wohnungen getauscht. Auf unbestimmte Zeit lebt Sophie, die aus Berlin kommt, jetzt in Marseille. Beide Frauen kennen sich nicht; das wird, wie alles hier, sehr indirekt klargemacht, als Sophie fragt, ob die Französin Deutsch spreche. „Guten Tag. Auf Wiedersehen. Mein Freund der Baum ist tot.“ Dann ein kurzer Abschied.
Eine halbe Stunde lang bin ich allein mit jemandem, der allein in einer fremden Stadt ist. Die langsame Annäherung, die sich zwischen Sophie und Marseille abspielt, bildet deshalb auch das Verhältnis zwischen mir und Sophie ab. Eine Stadt kennenlernen, einen Menschen kennenlernen, das ist – Sophie fotografiert – über Blicke gesteuert. Was bedeutet, dass mir viel Zeit eingeräumt wird, jemandem beim Sehen zuzusehen. Schon in der Wohnung, ganz zu Beginn, weist die Blickachse einmal aus dem Bild heraus in die Ferne, dahin, wo den Geräuschen nach der Hafen zu vermuten ist. Die Kamera lässt diesem Blick keinen Gegenschuss auf das Gesehene folgen; man müsste das Erblickte schon im Blick erkennen oder es sich, von diesem Blick ausgehend, selbst ausmalen.
Das Geschäft, in dem Sophie regelmäßig einkauft, von der gegenüberliegenden Straßenseite fotografiert. Im Vordergrund, unscharf, schleift jemand ein Auto ab. Auch hier ist der Ton ganz weit vorne, ein manchmal verwirrendes Durcheinander unterschiedlicher Stadtgeräusche. Städte sind laut, immer, überall, hat Angela Schanelec sinngemäß mal in einem Interview gesagt. Sophie überquert die Straße, geht in den Laden hinein, die Kamera wartet geduldig, bis sie wieder herauskommt und nach links das Bild verlässt. Der exakte Gegenschuss zu dieser Einstellung, aus dem Laden heraus, in dem Sophie im Vordergrund an der Kasse steht, kommt mehrere Minuten später. Jetzt erst erkenne ich die Treppe, die sie vor ein paar Tagen heruntergegangen ist, die Autos, die dort in der Werkstatt umlackiert werden, den Mann von vorhin hinten im Dunkel der Garage.
Nach einem Schnitt ist der Film plötzlich in Berlin; die Geräusche sind jetzt ganz anders. Sophies Rückkehr ist ein Hineinfallen in eine andere Sprache. Das Deutsche und die Klänge der Stadt sind Fremdsprachen, und zugleich ist es ein Sprung in andere Erzählmodi und Räume. Die Verhältnisse in Berlin sind viel verworrener, und ich bekomme eine Ahnung, auf welche Fragen Marseille für Sophie die Antwort sein sollte. Während Sophie selbst in den Szenen, in denen sie nur klein im Bild war, vorher immer der zentrale Bezugspunkt für die Kamera gewesen ist, verliert der Film sie zwischenzeitlich jetzt fast ganz aus den Augen. Anwesend bleibt sie indirekt, als Koordinate zwischen dem siebenjährigen Anton und seinen Eltern Hanna und Ivan.
Ivan ist Fotograf, Hanna Schauspielerin. Auf den Sohn der beiden passt Sophie manchmal auf. Es gibt zwei lange Exkurse in Hannas und Ivans Alltag: Einmal zeigt der Film Ivan beim Fotografieren der Arbeiterinnen in einer Waschmaschinenfabrik; die Frauen, die er fotografiert, posieren im Kittel. Einmal sind wir bei einer langen Probenszene des Strindberg-Stücks dabei, in dem Hanna mitspielt. Gegen das Ungeklärte der Beziehungen steht die Klarheit der Anspannungen, die zwischen den Personen herrscht. Wo genau Sophies Platz ist, bleibt unbestimmt, es ist auch ihr selbst wohl nicht ganz deutlich. Ivan jedenfalls steht zwischen den beiden Frauen, wie sich in einem Gespräch zwischen Hanna und Sophie herausstellt, und bei Sophie, merkt man, sind Gefühle im Spiel, denen sie sich stellen müsste, wenn sie in Berlin bliebe.
Sie geht dann nochmal nach Marseille. Wenn vor dem Zugfenster die Lichter vorbeifliegen, ist ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen. Wie stark der Film in dem ist, was er nicht erzählt sondern auslässt, wird in den folgenden Einstellungen klar. In einer nahen Einstellung sehen wir eine Polizistin von der Hüfte aufwärts bis zum Hals und einen Teil ihrer Uniform mit dem Polizeiabzeichen. Schweigend nimmt die Beamtin eine Hose entgegen, alles deutet auf eine Inhaftierung hin. Sophie sitzt im Verhör, in einem gelben Kleid, von dem nicht klar ist, ob es sich um die Gefängniskluft handelt oder um Ersatzkleidung. Wird sie als Täterin verdächtigt? Erst das Gespräch mit dem Polizeibeamten (den man nicht sieht) gibt allmählich Aufschluss: Den Überfall, von dem man glaubte, er werde ihr zur Last gelegt, hat sie nicht verübt; sie selbst ist die Überfallene. Aber als sie anfängt zu weinen, geht es um anderes als um diesen Überfall. Es ist ein Neubeginn, eine Häutung. Man kann noch einmal von Null anfangen.
Wie der Strand und das Meer klingen, das habe ich bisher nirgendwo so gehört wie in den letzten Einstellungen von „Marseille“.
– Volker Pantenburg –