Sonntag, 11.09.2005

Die sekundäre Metafilm-Erfahrung

Heutzutage gibt es in allen Haushalten Videorekorder, und manche jungen Leute sehen sich einen Film zehn- oder zwanzigmal an. Aber rezipiert man einen Film richtig, wenn man ihn sich immer wieder auf Video ansieht, und das auch noch in Privaträumen? …
Ich bin über lange Zeit in Kinos gepilgert, in denen die so genannten Klassiker gespielt wurden, und habe mir eine beträchtliche Anzahl von Filmen angeschaut. Filme wie Hitchcocks Eine Dame verschwindet, den wir zusammen in einem Pariser Vorstadtkino gesehen haben. Die jungen Cineasten heute sehen sich einen Film auf Video wieder und wieder an und können lauter Tiefsinniges zu den Details einer Szene sagen. Aber ich für mein Teil habe solchen Diskussionen nie etwas Produktives abgewinnen können.
Wenn man bestimmte Szenen eines Films in kurzer Zeit mehrmals sieht, kann sich jeder, und mag er noch so mittelmäßig sein, ihre Komplexität vor Augen führen. Man kann nicht nur den Protagonisten in der Bildmitte, sondern auch die Bewegungen der Personen in dessen Hintergrund wiedergeben. Absolut lächerlich. …
Ist das die angemessene Art, Filme zu sehen? Erfährt man so jeden Moment eines knapp zweistündigen Films? Gelangt man wirklich zu einer profunderen Rezeption, indem man das, was man beim ersten Betrachten nicht richtig gesehen hat, nachträglich in einem weiteren Durchgang erfasst? Sieht man ab dem zweiten Mal nicht gleichsam den Metafilm des Films, den man beim ersten Mal gesehen hat? Ist es nicht eine ganz andere Art der emotionalen Erfahrung als die, wenn man durch einen neuen Film berührt wird? Die sekundäre Metafilm-Erfahrung also…
Deswegen möchte ich einen Film machen, den man sich nicht mehrmals angucken muss. Ich möchte einen Film machen, in dem man mit wachen Augen alles beim ersten Mal erfasst. Ich greife dabei aber nicht auf solch spießige Mittel wie ständige Close-ups zurück, mit denen man dem Betrachter vorschreibt, was er zu sehen hat. Das Prinzip ist, im Bild die Szene als Ganzes wiederzugeben. Und all denen, die den Film anschauen, Zeit zu lassen, damit sie die Szene in all ihren Details erfassen können. Bisher habe ich der Öffentlichkeit allerdings noch nichts in dieser Art präsentiert. Bisher waren meine Filme Einzelteile. Und weil die, die meinen schließlich realisierten ganzen Film sehen, diesen von selbst ganzheitlich sehen werden, müssen sie ihn auch nicht noch einmal sehen. Doch diese ganzheitliche Erfahrung wird ihre Sicht auf die Welt verändern…

S. 153-154 aus dem gerade erschienenen Roman „Tagame. Berlin – Tokyo“ von Ôe Kenzaburo, in dem er sich mit seiner langjährigen Freundschaft mit Itami Juzo (der auch der Bruder seiner Frau war) beschäftigt, dessen Alter Ego Gorô dies sagt.

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