Queere Pose und erhabene Ungerechtigkeit: Politik und Moral bei Fassbinder und Warhol
von Diedrich Diederichsen
1975 beendet Manny Farber die Suche der amerikanischen Filmöffentlichkeit nach dem Verbleib des von Andy Warhol in den mittleren 60ern begonnenen Projekts. Er hat dessen Fortsetzung nämlich endlich lokalisiert: „It is interesting that the true inheritors of early Warhol, the Warhol of Chelsea Girls and My Hustler, are in Munich (…) By osmosis, Warhol´s kinkiness made a big dent in the Bavarian beer-Bratwurst-Bach film capital, Munich. Probably few of the Munichers have seen any Warhol, but (…) Bike Boy, Chelsea Girls are neighbors under the skin to some of (…) Fassbinder´s anti-cinema (…) The Tartar-faced director-actor has done one film a week (practically) since 1971 which is up to early Warhol pace.“(1) Weitere Parallelen seien Fassbinders „leggy females” – Irm Herrmans Stimme erinnert ihn an Viva – und die „painterly ability to hit innocent, insolent colors, using flat, boldly simple formats”. Darüber hinaus erwähnt Farber den „cool eyed use of Brecht”, der Fassbinder befähige „to imprint a startling kinky sex without futzing around in the Bertolucci Last Tango style”(2).
Fassbinder wird von zwei amerikanischen Mitarbeitern des Film Comment kurz darauf mit Farbers Parallelisierungen konfrontiert(3) und es stellt sich heraus, dass Farber tatsächlich in einem wichtigen Punkt Recht hatte. In München kannte man damals den Filmemacher Warhol kaum. Fassbinder nennt nur Paul Morrissey, und mit dem habe er weniger zu tun, allenfalls „Warum läuft Herr R. Amok?“ und dieser Film, das sagt er öfter, wäre weniger seiner als der der Gruppe. Fassbinder konzediert – allerdings in Unkenntnis der zentralen Filmproduktion Warhols, der Filme der Jahre 1964-66 – eine Gemeinsamkeit zwischen ihm und Warhol: die Arbeit in und mit einer Gruppe.
Nun ist diese Gruppe aber nicht nur irgendeine. In beiden Fällen handelt es sich um eine Gruppe, die teilweise zusammenlebt mindestens aber große Teile ihrer gesamten Zeit miteinander verbringt. In beiden Fällen wird diese gemeinsam verbrachte Zeit intern als kulturelle Produktion verstanden. Bei Warhol hieß der Ort, an dem man die Zeit verbrachte sogar explizit Factory, bei Fassbinder war es ein Theater, in dem man wohnte und arbeitete. Es hieß erst Action Theater, dann antiteater.
Diese Namen sind sowohl eine Gemeinsamkeit als auch ein kleiner Gegensatz. In der Factory ging es darum, dem, was sowieso stattfand, künstlerische Produktion mit allen denkbaren Medien, eine bestimmte Logik zuzuordnen, die der industriellen und mechanischen Produktion. Dies ist, so die Idee, kein romantisches Künstlertum, keine humanistisch verstandene Kreativität, keine Kritik der Kulturindustrie und des Star Systems, sondern dessen Überbietung. Im Action Theater oder antiteater ging es darum, das, was sowieso stattfand, ein emotional intensives und ökonomisch prekäres Zusammenleben, an dem keinesfalls nur Künstler teilnahmen, sondern auch sogenannte Gammler und Drop outs, also überspitzt gesagt soziale Romantik plus Revolte ohne eine entwickelte Kunst, durch die Beschwörung eines institutionellen künstlerischen Charakters zu stabilisieren.
In beiden Fällen handelt es sich aber um Namen für künstlerisch produktive Gruppen, die sich anders als bei den Künstlergruppen der Avantgarde und der Neo-Avantgarde nur indirekt und vage auf einen künstlerischen Inhalt bezogen. Unter den vielen Parallelen, die Farber aufzählt, habe ich nicht umsonst die der sagenumwobenen Produktivität der Factory wie der Fassbinder-Gruppe herausgegriffen. Diese Produktivität ist bei Warhol zu Beginn und bei Fassbinder dauerhaft tatsächlich selbst ein künstlerischer Inhalt. Ihr Hintergrund ist eine neue schnelle und flexible Verfügbarkeit von zwei Ingredienzien künstlerischer Arbeit unter seinerzeit neuen historischen Bedingungen: diese sind zum einen Medien und Medienformate und zum anderen Stoff.
Zum einen: Warhol kaufte sich eines Tages eine Bolex. Fassbinder übernahm in einer langen verschlungenen Kette von Machtkämpfen Theater weil man damals eben Institutionen einfach so übernehmen konnte, sie waren in den Tagen der Studentenbewegung verfügbar geworden. Vor allem aber, davon handelt zum Beispiel „Warnung vor einer heiligen Nutte“, stellte er immer wieder im Kampf mit deutschen Fernsehsendern, Filmförderungen und diversen internationalen Deals den Zwang her, fortgesetzt zu arbeiten, um im Besitz der lebens- und intensitätssteigernden Produktionsmittel zu bleiben. In beiden Gruppen gab es die, einem perpetuum mobile verwandte Idee, dass man durch sichtbare Produktion von Intensität in den Besitz von Produktionsmitteln kommen konnte, dieser Besitz wiederum und die damit verbundene Produktion steigerte wiederum die Intensität. Die Konstruktion und Reproduktion dieses Produktionsmodells war so ein wesentlicher Inhalt der künstlerischen Arbeit – als Voraussetzung und Inhalt. Alle Zweifel an der Gruppe werden nicht als Zweifel an den Produkten, sondern als Zweifel an der Lebensform, am Lebensstil und als Klage über Intensitätsverlust artikuliert. Man denke etwa an Fassbinders beleidigte Klage über die Gruppenangehörigen, die lieber „ihr kleines Pantoffelleben führen“ wollen in Joachim von Mengershausens Dokumentarfilm „Ende einer Kommune“ von 1970. Ähnlich klingen Warhols Klagen darüber, dass nach dem Attentat auf ihn nichts mehr dasselbe war.
Für dieses Produktionsmodell war es aber auch wichtig, dass es keine klar bestimmten Jobs, keine Arbeitsteilung gab. Wer aus der Gruppe was vor wie hinter der Kamera machte, war im Prinzip aushandelbar. Der Dichter Gerard Malanga wird zum Peitschentänzer, in „Camp“ führt jeder vor, dass er auch irgendetwas Anderes kann. Die Rollen und Funktionen vor und hinter der Kamera sind in der Factory und ihrem Umfeld, den Multimedia-Performances von Jack Smith oder John Vaccaros Theater of the Ridiculous, absolut im Fluß. Nicht absehbar war aber auch in Fassbinders Umfeld, wer eigentlich welche Spezialisierungen entwicklen würde. Dass etwa der Regisseur Peer Raben später sich zum Komponisten spezialisieren wird oder Kurt Raab, ursprünglich Requisiteur, zum zentralen Schauspieler wird etc. Fassbinder nutzt diese Ungeklärtheit später öfter als Machtmittel, wenn er etwa in seiner Zeit als Intendant am Theater am Turm einerseits Mitbestimmungsmodelle durchsetzt, andererseits die Schauspieler in A- und B-Schauspieler mit unterschiedlichen Bezahlungen und Pflichten einteilt.(4)
Genau diese Voraussetzung aber, dass keiner prinzipiell für irgendetwas zuständig ist, jeder alles machen kann und die technischen und medialen Apparate immer irgendwie zur Verfügung stehen, sorgt in beiden Gruppen für 1.) die gewünschte Intensität beim Übergang von Leben in Darstellung, 2.) Konkurrenzkämpfe mit diversen Verletzten und Opfern, Traumatisierten, Mordversuchen und erfolgreichen Selbstmorden, 3.) für eine hohe produktive Flexibilität, 4.) – und das gilt vor allem für die Fassbinder-Gruppe – für ein hohes Gespür für die so entstandenen Machtverhältnisse bei allen Beteiligten: sie liegen offen zutage und werden ständig ausgetragen und auch politisch diskutiert. Das stark entwickelte Bewusstsein aber schützt nicht davor, dass ständig neue Opfer produziert werden.
Zum anderen: die so intensivierte und in Hassliebesbeziehungen ineinander verstrickte Gruppe liefert selbst sehr schnell und unmittelbar den Stoff. In Filmen wie Warhols „Camp“ oder den diversen „Screen Tests“, in „Couch“, „My Hustler“ oder „Sleep“, den diversen Filmen mit und über Edie Sedgewick und unzähligen anderen spielen die Figuren der Factory sich selbst. In Fassbinders Filmen tragen die Rollen oft die Namen der Protagonisten oder die Namen anderer Leute aus dem Umfeld. In allen frühen Filmen spielen die Darsteller entweder sich selbst oder einen andere aus der Gruppe. Hinzugefügt wird lediglich ein, meist einem schon bestehenden Genre entnommener fiktiver Rahmen.
Warhols Idee der Produktion ging ungefähr so: Wenn die Konstante Produktion maximal unaufwendig und mechanisch läuft, dann wird die Variable Person maximal groß, der Star wird zum Superstar. Da aber jede Erzählung oder Handlung wieder die Produktion größer und komplizierter machen würde und von der Person und ihrer Präsenz ablenken, muss der maximal eindrückliche Superstar als lebendes Bild verharren, als Pose eines Versprechens, eines Potenzials. Selbst bestimmt, aber noch vor der Handlung.
Fassbinders Grundidee ist ungefähr die: Im Kapitalismus übersteht das Subjekt sein elendes Leben nur in der Pose. Pose ist auch hier ein Rest Selbstbestimmung um den Preis der Handlungsunfähigkeit, aber es ist eine Notlösung, freilich die, an der sich der letzte Rest individueller Würde zeigt: nichts machen, aber auch keine Scheiße. Pose steht in der Mitte zwischen Aktion und Passion. Diesen gesellschaftlichen Mechanismus nicht nur darzustellen, sondern zu reproduzieren ist die Arbeit des Schauspielers. Die Arbeit des Regisseurs sei es nun die Pose entstehen zu lassen und dann wieder kaputt zu machen – so entsteht Bewegung und Narration, die Mechanik und die Genealogie der Pose wird sichtbar. Fassbinder will ja erklärtermaßen aufklären. Später wird auch die neuartige medienspezifische Idee der Pose durch die alte theaterspezifische Idee der Lebenslüge ersetzt. Auf diesem Wege entfernt sich Fassbinder in einigen Filmen von Warhol.
Die Pose im Sinne eines narzisstischen lebenden Bildes, einer Kinokategorie, die nicht nach der Narration und der Konsequenz, sondern nach dem gedehnten Moment strebt, ist auch in einem allgemeineren Sinne die neue, man kann sagen: minoritäre oder auch in einem weiteren Sinne queere Position zwischen Selbstermächtigung und Unterdrückung. Erfunden haben sie James Dean und Montgomery Clift, verfeinert und vom Nebenprodukt zur Hauptsache befördert hat sie Andy Warhol. Auch Fassbinder liebt die Pose, zugleich muss er sie zerstören und in die Zange der benachbarten Möglichkeiten, vollständige souveräne Subjektwerdung und sklavische Abhängigkeit nehmen. Bei Fassbinder sind die Poser nicht positiv. Die Über-Poser in „Katzelmacher“ entwickeln sich zu rassistischen Widerlingen. Bei Warhol stellt hingegen die Pose ein Versprechen dar. Zunächst ist sie einfach das, was entsteht, wenn man einen originellen, interessanten Menschen filmt, die Gewährung des Rechts gefilmt zu werden, das Walter Benjamin jedem Menschen zugesteht.
Craig Owens hat das Posieren vor der Kamera mit dem grammatischen Begriff des Mediums verglichen.(5) Man spricht ja in der grammatischen Terminologie nicht nur bei den Substantiven von Geschlechtern, sondern auch bei den Verben gibt es das sogenannte Genus verbi. Die vertrauten Genera verbi sind Aktiv und Passiv, das dritte Geschlecht ist aber, anders als bei den Substantiven, nicht ein Neutrum, sondern die etwa im Altgriechischen eigenständig vorkommende Form des Mediums: man übersetzt das Medium reflexiv. Sich geben versus geben und gegeben werden. Owens und andere heutige Interpreten von Warhol aus einer Sicht der queer studies kann man so lesen, dass für sie dieses posierende Subjekt im Medium auch so etwas wie ein blueprint eines politischen Subjekts ist, jenseits von Sadismus und Masochismus, jenseits von ungebrochener Macho-Souveränität und minoritären Opfer.
Fassbinder ist sich da nicht so sicher. Es ist nicht klar, ob er den Poser nur durch sadistische Angriffe und masochistische Zustände testen, verstören und letzten Endes erheben will oder ob er gerade den Schritt aus der Pose für den eigentlichen und wünschenswerten Durchbruch zur Politik hält. Man könnte den Unterschied zwischen beiden in dieser Frage in die Sprache von 1975 übersetzen. Hughes und Riley unterscheiden im Gespräch mit Fassbinder zwischen der Warholschen Homosexualität als Folge sexueller Unterdrückung und Fassbinders Homosexualität als Spiegelbild der Heterosexualität. Farber stellt Fassbinders „marxist world“ dem „liberated SoHo“ gegenüber. Die in den 90ern ausgetragenen Diskussionen zwischen „subkulturalistischen“ und „universalistischen“ Befreiungstheorien werfen hier die Schatten ihrer Antagonismen voraus.
Es gibt aber auch bei Warhol eine andere, eine zweite Instanz, die sich zwischen die rein mechanische Kamera und die reine Pose schiebt – ohne jetzt zur Narration zu streben. Diese Instanz verkörpert mehrfach Warhols Kollaborateur und Script-Autor Ronald Tavel. Während des „Screen Tests No 2“ mit Mario Montez stellt dieser später vor allem als Theaterautor hervorgetretene Ronald Tavel aus dem Off einige Fragen an Montez. Montez bewirbt sich für eine Rolle und anders als bei den meisten anderen Filmen aus der Screen- Test-Reihe scheint es sich tatsächlich um eine Art Casting zu handeln, jedenfalls glaubt Montez das. Montez, der u.a. in Jack Smiths „Flaming Creatures“ eine Drag-Rolle gespielt hat, soll auch hier für eine weibliche Rolle vorsprechen. Doch Tavel treibt ihm immer weiter in die Enge und demütigt ihn. Schließlich befiehlt er ihm seinen Hosenschlitz zu öffnen. Montez ist sichtbar im Kern seiner Person zutiefst beschämt, beleidigt und gedemütigt. Zum einen wegen der immensen allgemeinen Respektlosigkeit und sexuellen Demütigung an sich, zum anderen wegen der spezifischen Demütigung seiner sexuellen Identität als Drag Performer.
Zugleich erscheint dem Zuschauer Montez Verwirrung und seine Scham auf verwirrende Weise als ein schöner und vor allem beabsichtigter Moment. Die verhaltene Empörung und Unsicherheit von Montez, die in keinem Verhältnis zu Tavels Gemeinheit steht, nicht weil Montez höflich wäre, sondern weil ihn Tavel so getroffen hat, öffnet einen unüberschaubaren moralischen Abgrund, der sich zwischen der Zumutung und Beleidigung und ihrer Grundlosigkeit öffnet. Während die starre Kamera immer mehr zum Freund des Darstellers wurde, zu seinem Anker in seiner Darstellung, erscheinen die immer sarkastischeren Regieanweisungen von Tavel bodenlos und gemein. Montez wirkt wie von einer Waffe getroffen. Der Moment hat eine Tiefe, die dazu führt, dass der Voyeurismus und die Identifikation oder Empathie mit der beschämten Figur sich gegenseitig verstärken und infrage stellen.
Douglas Crimp hat darauf hingewiesen, dass hier strukturell und historisch ein proto-politischer Moment steckt, der eben nicht so sehr in einer Aufklärung über sexuelle Unterdrückung läge, sondern in der Mobilisierung gerade der Besonderheit des queeren Subjekts(6) – und zwar in einem historischen Sinne für die proto-politische Entwicklung von queer politics vor Stonewall, die Crimp „Queer before Gay“ nennt als auch im Sinne einer Mechanik der Entstehung und Herstellung von Präsenz und Ausstrahlung. Im Anschluss an Eve Kosofsky Sedgwick beschreibt Crimp wie Tavels wohl gesetzte und sadistisch fein komponierte Grausamkeit schließlich die „außerordentliche Reinheit des Superstars“ hervorbringt: „Er hat nichts an sich als Glamour“, zitiert Crimp Stefan Brechts einschlägiges Werk „Queer Theater“ aus dem Jahre 1972. Mit anderen Worten, erst die zusätzliche Arbeit eines Dompteurs und Dominators bringt die Qualität dieser Reinheit hervor, die Warhol ursprünglich für die reine, nur von dem Darsteller und einer demütig aufzeichnende Kamera erwartet hatte.
Warhol brauchte also eine Doppelspitze. Während er mit der Kamera zu seiner geliebten Maschine verschmolz und sich quasi als Spiegel anbot, und Tavel (oder andere wie Chuck Wein, der in „Beauty # 2“ die arme Edie Sedgewick quält), die mit Regieanweisungen und auf die einzelnen Akteure zugeschnittenen Fragen und Verunsicherungen die Spiegelung in der Rolle gefährdeten. Dabei war für die Factory-Akteure die Fallhöhe besonders hoch. Sie hatten schließlich auf ihre Rolle gewettet, sie sollte tragfähig sein, wurde sie kaputt gemacht wie bei Mario Montez, gab es keine andere Identität, keine allgemeine Schauspieler-Profi-Routine, auf die sie sich zurückziehen konnten. Mit Warhols Kamera hatten sie sich geeinigt, dass sie mit dieser Kamera-Person identisch werden würden, Tavel durchbrach diesen Vertrag, indem er sich benahm wie ein Regisseur. Fassbinder, das wäre meine These, wäre eine Synthese aus Warhol und Tavel, dem good cop des spiegelnden Mediums und dem bad cop des sadistischen Theatertyranns. Diese Synthese ist nicht nur die Synthese aus zwei scheinbar gegensätzlichen Schauspielertheorien sondern auch zweier verschiedener Medienpraktiken, zwischen dem nackten, gefährlichen Präsenz auf der Bühne, verschärft dadurch dass auf dieser Bühne in Kommune und Factory mein Leben stattfindet, einerseits und der sicheren Situation, in der ich eine Kamera allein durch meine idiosynkratische, glamouröse Präsenz zwingen kann, mir zu folgen andererseits.
Man hat sich immer gewundert, warum es Fassbinder so leicht fiel zwischen Theater und Film, aber auch Film und Fernsehen zu wechseln, hat seine Meisterschaft der Adaption von einem Medium zum anderen gelobt. Genau das ist aber die eigentliche synthetische Fähigkeit, die sich in den beiden gegensätzlichen Ideen der Schauspielerführung spiegelt: einerseits soll der Schauspieler gar keiner sein, sondern nur eine beautiful person, die nur ihre Pose, die ihr Leben ist, zur Schau stellt; andererseits soll der Schauspieler durch persönliche Verletzungen auf das Unwahre seiner Pose zurückgeworfen werden in den Abgrund der Darstellung, bei der es gerade für ihn, den Schauspieler/Superstar des Warhol-Typus keine Versicherung gibt.
Diesen Moment gibt es nun bei Fassbinder andauernd. Für die frühen Filme hat auch wieder Farber eine sehr schöne Formulierung gefunden, er spricht von dem Prinzip der Musical Chairs – also dem Spiel, das im deutschen Sprachraum „Reise nach Jerusalem“ heißt. Eine Gruppe ist in Bewegung eine ganze beiläufige Szene lang, der im Grunde nur Posen eingenommen und ausgefüllt werden und plötzlich trifft einen die Keule der Demütigung und er ist am Boden oder draußen. In „Warnung vor einer heiligen Nutte“ hat Fassbinder die eher flachen Bühnenbilder seiner aller ersten Filme etwas weiter geöffnet. Die posierenden Gruppen stehen nun in der Tiefe eines Raumes, meistens ein Hotelfoyer oder ein Filmset. Wieder stehen Paare und kleine Grüppchen an der Bar oder knutschen oder betreiben das, was man früher Engtanz nannte zu Fassbinders geliebten Leonard-Cohen-Songs. Die Bewegung besteht nun darin, dass immer einer in die Gruppe einbricht, jemanden beleidigt wird und der Gedemütigte zur nächsten Gruppe zieht, wo er entweder erneut beleidigt wird oder einen anderen Vorgang auslöst, der in einer Demütigung endet.
Wir schauen also zu, wie sich die Personen gruppieren, sich in Posen stabilisieren und dann in der Pose zerschmettert werden und vor Scham die Gruppe verlassen müssen. Später schälen sich bei Fassbinder aber Einzelschicksale heraus. In „Faustrecht der Freiheit“, „Händler der vier Jahreszeiten“ und „Angst essen Seele auf“ geht es nicht mehr um einen endlosen Zirkel von Pose und Zerstörung, sondern um exemplarische Schicksale, um Narration und Entwicklung. Hier kann die Logik der Pose nicht mehr greifen und womöglich sind diese Filme auch im Sinne der oben angedeuteten Möglichkeit als ein Einspruch gegen die Pose zu lesen.
So wie Douglas Crimp die Strategie Tavels im „Screen Test No 2″ im Kontinuum proto-politischer schwuler Kultur vor Stonewall gelesen hat und in der vorhin beschriebenen Weise gerade in der Vertiefung der Pose und ihrer Zuspitzung in Momente der Scham und damit verbundener Ausstrahlung und nicht in ihrer normalisierenden Eintragung in ein Drama ihren wesentlichen Punkt einer spezifisch queeren Politik sieht, die heute durch die Homogenisierung und Desexualisierung schwuler Kultur in den USA“ gefährdet sei, so hat Fassbinder darauf bestanden, keine „romantische Sicht auf das Leben der Homosexuellen“(7) zu entwerfen, wie er sich ausdrückt, zu zeigen, dass alle seine Minderheiten eben einfach nur Unterdrückte seien, wenn auch markierte Unterdrückte.
Crimp weist dagegen daraufhin, dass diese Beschämung (oder Bestrafung) im Kontext einer frühen Selbstverständigung einer schwulen Community gelesen werden muss. Fassbinder hat die posierenden Subjekte universalisiert: es sind Proletarier, Gastarbeiter, Prostituierte und andere Marginalisierte. Dennoch funktionieren auch bei Fassbinder ihre Posen und Beschämungen genau so wie sie von Warhol/Tavel bzw. Crimp als schwule bzw. queere konstruiert wird, nach dem gleichen Mechanismus. Und das gilt nicht nur für die fiktiven Charaktere, sondern auch und vor allem für das Verhältnis der Darsteller zu ihrer Rolle. Die Rolle ist zugleich Chance der Selbstdarstellung und Beschämung. Folgt man indes Crimp, und dafür gibt es bei Fassbinder viele Bilder, führt aber gerade diese Beschämung zu dem Glanz der Figuren in einem queeren Sinne.
Was Fassbinder nur anderes macht, ist dass er die Beschämung aus der Immanez der Darstellung löst, sie gilt auch den fiktiven Charakteren. Ja, sie verschiebt sich immer mehr zu den unglaublichen Ungerechtigkeiten, die diese erleiden müssen. Wie sagt doch Farber über das entscheidende Element der Plots des mittleren Fassbinder: Humiliation; daily, hour by hour, in the shop, at breakfast, humiliation everywhere(8). Diese fortgesetzten Demütigungen sind aber nur locker an Plots gebunden, sie haben nur sehr locker etwas mit Entwicklung zu tun. Sie sind eher zirkulär wie Höllenstrafen und Hadesqualen – so statisch wie die Pose selbst. Die Demütigung bricht nicht wie bei Warhol und Tavel in die Pose ein, sie ist genauso permanent wie diese – und sie hat noch einen anderen, einen zusätzlichen Hintergrund. Die Demütigung ersetzt nach und nach die Pose und wird zu einer eigenen ähnlichen, aber alternativen Struktur. Sie erscheint nämlich nun vor dem Hintergrund einer unfassbaren Ungerechtigkeit. Während die Demütigung bei Tavel/Warhol punktuell und gemein ist, ist sie bei „Angst essen Seele auf“, „Händler der vier Jahreszeiten“ etc. unfassbar ungerecht und strukturell. Die Opfer leben in ihr wie in einer Pose, nur dass sie nicht mehr die Macht haben, sich im Vollbesitz ihrer expressiven und exhibitionistischen Kräfte an eine Straßenecke zu stellen oder sich in eine bestimmte Schale zu werfen: sie werden gestellt.
Doch wie bei „Screen Test No 2“ hat die Ungerechtigkeit etwas Schönes, nein sie hat etwas Erhabenes. Sie ist unendlich und scheint uns verschlingen zu können, aber wir stehen diesseits mit aller unserer Empathie und schauen zu. Fassbinder hat wiederholt darauf hingewiesen, dass man die Schönheit des Leidens verstehen lernen muss, um seine Filme zu verstehen(9). Dennoch ist da kein simpler Masochismus gemeint, der ja immer schon die eine Demarkationslinie der Pose gebildet hat und als Nachbar jederzeit zur Verfügung steht. Im Masochismus wird das Leid gesucht und gefunden: es kann keine Erhabenheitseffekte geben, es bleibt diesseitig. Der Erhabenheitseffekt entsteht vielmehr durch das Gegenüber der ungerechten Macht und das Gerechtigkeitsgefühl, das sich beim Zuschauer einstellt, der sich versucht des Bodens, der Sicherheit zu versichern, der ihn davor schützt, in diesen Abgrund zu stürzen.
Im Gegensatz zur klassischen Tragödie, die ja ähnlich funktioniert, aber zur Grundlage hat, dass genau das Gesetz, das den mit Empathie besetzten Protagonisten ins Unglück stürzt, von uns bejaht wird und werden muss, ist diese Gerechtigkeitsidee, die sich im Negativ an den Ungerechtigkeiten entwickelt, erst im Werden. Sie ist unfertig, wir schauen ihr zu, wie sie sich bei uns entwickelt. Das ist in jedem Falle politisch: es ist eine Gerechtigkeit a venir und doch ist sie auch unmittelbar und quasi spontan zur Stelle. Sie wirkt auf den ersten Blick banal, weil sie sich so verlässlich einstellt wie die Tränen sich im Melodram einstellen, aber sie beruft sich nicht auf Selbstverständlichkeiten zwischen Guten und Bösen, sondern muss mit den Konfliktabgründen umgehen, die sich unter lauter Opfern entwickeln. Es gibt einen Bezugspunkt der Bosheit außerhalb des Konflikts – außer den aus der Ungerechtigkeitserhabenheit sich negativ entwickelnden Gerechtigkeitsgefühlen. Wir sind gezwungen, um dies aushalten zu können, uns Gerechtigkeit vorstellen zu müssen.
Vermutlich hat Fassbinder wie Warhol die gesellschaftliche Produktion der Pose und die technisch darstellerische im Leben der Darsteller und ihrer Gruppe immer wieder parallelisiert. Die verheerenden immer wieder gemeldeten und in Memoiren von Fassbinder-Vertrauten und auch ihm selbst gerne geschilderten Grausamkeiten innerhalb der Gruppe(10) scheinen die auf der fiktiven Ebene dargestellten Ungerechtigkeiten überlagert und befeuert zu haben. Nur in der Gruppe gab es dann den, den es in den Filmen oft nicht gibt: den Chef, den Machthaber, die Autorität. Die Leute haben ihn dann geliebt und gehasst, die Zuschauer hatten den Vorteil darüber hinaus geraten zu können.
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(1) Manny Farber, Rainer Werner Fassbinder, Film Comment Vol. 11, No 6, Nov./Dez. 1975, zitiert nach derselbe, Negative Space, New York: da capo 1988 S.307f. (zurück)
(2) a.a.O., S.312 (zurück)
(3) John Hughes/Brooks Riley, A New Realism, Film Comment Vol. 11, No 6, Nov/Dez 1975, zitiert nach dieselben, Ein neuer Realismus, (deutsch von Marion Schmid), in: Robert Fischer(Hg.), Fassbinder über Fassbinder, Frankfurt/M: Verlag der Autoren 2004, S.348f. (zurück)
(4) Kurt Raab/ Karsten Peters, Die Sehnsucht des Rainer Werner Fassbinder, München: Bertelsmann 1982, S.137 (zurück)
(5) Craig Owens, Posing, in derselbe, Beyond Recognition. Representation, Power and Culture, Berkeley, Los Angeles und London: University of California Press 1992, S.201-217, zitiert nach: derselbe, Posieren (dt. Von Wilfried Prantner), in Herta Wolf, Diskurse der Fotografie, Frankfurt/M: Suhrkamp 2003, S.112f. (zurück)
(6) Douglas Crimp, Mario Montez, for shame, in Diederichsen, Frisinghelli, Gurk, Haase, Rebentisch, Saar und Sondergger (Hg.), Golden Years – Positionen und Materialien zur queeren Subkultur 1959-1974, Graz: Camera Austria, im Druck (zurück)
(7) Hughes/ Riley, a.a.O., S.348 (zurück)
(8) Farber, a.a.O., S.313 (zurück)
(9) John Hughes/Ruth McCormick, Der Tod der Familie – Rainer Werner Fassbinder über Angst vor der Angst, in Robert Fischer (Hg.), a.a.O., S.394 (zurück)
(10) Wolfgang Limmer/Fritz Rummler, „Alles Vernünftige interessiert mich nicht“, in Fischer, a.a.O., S.510ff (zurück)
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[Dieser Text ist zuerst in französischer Übersetzung erschienen in: Trafic, Revue du cinéma, Nr.55, Automne 2005.]