Montag, 27.03.2006

Heide Schlüpmann, „Öffentliche Intimität. Die Theorie im Kino“

Frankfurt am Main / Basel (Stroemfeld Verlag) 2002.

Von Johannes Beringer

Der vielleicht ‚zentralste Satz‘ in diesem Buch ist für mich: „Über der Hingabe der Theorie an die Filme kehrt ihm sein Erkenntnisvermögen in neuer Gestalt wieder.“ (Über den ‚Außenseiter der Theorie‘ Siegfried Kracauer.)
Es geht in „Öffentliche Intimität“ zwar auch um Siegfried Kracauers „Theorie des Films“ – und in einer Weise, wie man es noch nie gehört hat -, aber Kracauer ist hier eher ‚Mittler‘ (oder ‚Passeur‘ in Serge Daneys Sinn): um sich von dem, was heute Philosophie und Theorie heißt, abzukehren und die Kinoerfahrung vom Dunkel ins Licht der Erkenntnis zu heben. „Das Dunkel ist das vielleicht am wenigsten beachtete Moment des Kinos …“ (S. 113) Die Verstrickung in die Philosophie bleibt natürlich bestehen (die Autorin kann ihre Lebensgeschichte nicht einfach ablegen oder negieren) – aber es geht, bekenntnishaft und durch geschichtlichen Aufriss, vor allem auch darum, zu sehen, was durch sie verhindert worden ist. Schreibend ‚zu sehen‘, am ‚Leitfaden des Leibes‘ und am ‚Leitfaden der Liebe‘ (in einem gegenüber früher vielleicht geläuterteren Schreiben).

Tatsächlich ist bislang die ‚Faszination des Kinos‘, die ja (trotz neuer Medien) bis heute anhält, zwar ‚deklariert‘ worden und doch einigermaßen unerklärt geblieben. Es gab und gibt diejenigen, die vom ‚Virus‘ befallen sind, und die ’sich erkennen‘ (wie wenn sie einem losen Geheimbund angehörten) – was nicht zuletzt daher rühren könnte, dass ihre Leidenschaft einen unerklärten oder verschwiegenen Kern hat. In Heide Schlüpmanns Buch wird dieser ‚Kern‘ berührt und in einen geistes- und lebensgeschichtlichen Zusammenhang gestellt, den ich hier nur andeuten kann. Der Regress in die philosophische Intimität – die im 19. Jahrhundert angesichts von Positivismus und Zersplitterung in Einzelwissenschaften notwendig war, um Wahrnehmung, Verstand und Geist zu bewahren – ist heute verloren: Schlüpmanns Rettungsversuch besteht eben darin, dieses ‚Verlorene‘ (über die „Theorie des Films“ hinweg) in einer andern Art von Regress – in der „öffentlichen Intimität“ des Kinos – wiederzufinden und zu behaupten.
Was mir das Buch sofort sympathisch machte, war der Affekt gegen die Macht der Wissenschaft und ihren Anteil am „Grauen der Fortschrittsgeschichte“. Der Film selbst hat ja auch wissenschaftliche Ursprünge, aber, sagt Schlüpmann, „das Kino entsteht aus der Entfernung des Films von den Wissenschaften.“ (S. 84) Für sie rettet das Kino – d.h. das Dunkel, in der die Projektion geschieht – das Affektive – also genau das, was von der wissenschaftlichen Haltung ausgeschlossen oder ’neutralisiert‘ wird. „… die Einheit des Subjekts des Wissenschaftlers ist durch die Affektion, die die aufgenommene Wirklichkeit in der Projektion hervorruft, bedroht.“ (S. 81) Das gilt ebenso für eine philosophische und theoretische Haltung, die mit dem Kino auch die Wirklichkeit von sich fernhält, sich im Gehäuse einer abstrakten, körperlosen Begrifflichkeit einsperrt und verliert.
„Die Theorie mag ja mit dem Wissen um den Tod zu tun haben. Aber vielleicht doch so, dass es auf halbem Wege stehen bleibt, nicht einverleibt wird. Die Sterblichkeit denkt und fühlt dann nicht mit. Sie wird nicht zu einem Moment unserer Wahrnehmung der Welt. In die Welt wie ins Kino gehen: in das Dunkel der Vergänglichkeit. Das uns erwischt im Weinen. Die dumme Theorie, dumm aus Überheblichkeit, die der Angst entstammt. Weisheit, in der wir uns der körperlichen Reaktionen, des Lachens, des Weinens entheben, die allein uns doch retten.“ (S. 125)

Wie ein roter Faden zieht sich dann ein Begriff durch das Buch, der auch auf einer ‚Rückführung‘ beruht: es geht nicht um die Theorie, sondern um die <i>Theoria</i> – um das Schauen und die Schau im antiken Sinn. Davon hat ebenfalls der schweizer Schriftsteller Ludwig Hohl etwas gewusst, wenn er in ‚Bild‘, dem zwölften Teil seiner „Notizen“, schreibt: „<i>Schauen ist tatsächlich alles, Wissen geht immer fehl</i> (das heißt das Wissen, das dauern will; das <i>höchste</i> Wissen kann nur einen Moment bestehen, eben den Moment, da es entsteht, im Schauen enthalten ist).“ Dieses Schauen meint also eine Bewegung, die nicht nur in einem rein äußerlichen (akkumulierenden) Sehen aufgeht, sondern sinnvolle und sinnhafte Verbindung von innen und außen ist – auch innere Schau sein kann.
Auf die Kinematographie bezogen – das Licht der Projektion, das Dunkel des Kinos – ist dann im Hinblick auf das Aufgenommene und Wiedergegebene sinnvoll, von „einer immensen Dunkelzone der Wirklichkeit“ zu reden. Das, was der Filmemacher in seinen Film aufnimmt, „führt …. einen Bruch in der Wirklichkeit herbei“ – die Wirklichkeit des Films und die filmische Wirklichkeit ist „Fragment durch und durch“ (S. 116). „Der Film, wie sehr er äußere Wirklichkeit aufnimmt, hat seine Bedeutung für das Leben der Menschheit darin, dass dieses Aufgenommene auf die Wirklichkeit im Dunklen, die sich nicht aufnehmen lässt, verweist.“ (S. 117)

Interessant ist auch das Schlusskapitel, ‚Kinematographie in der Wissenschaftsinstitution‘, dem nicht umsonst dieses Motto vorangestellt ist: „Kinema, griech.: Bewegung, Erschütterung; übertr.: innere Aufregung, Aufruhr.“ Eine Setzung, die auch eine Entgegensetzung ist.
Es werden Weichenstellungen beschrieben: die Humboldtsche Universität, die das 20. Jahrhundert überdauerte, hat unter dem Signum der bürgerlichen Kultur die Auswirkungen der Massenkultur abgewehrt. („Das Kino markiert wie kein anderes Kulturphänomen den Anfang der Massenkultur.“ S. 143) Dazu hat auch die Kritische Theorie nach ihrer Rückkehr aus dem Exil beigetragen: Ihre Abwehr galt jedoch mehr der „kulturindustriellen Entmündigung“, also „einer in Kulturindustrie umgeschlagenen Massenkultur“. (S. 145) Die heutige Verabschiedung der Humboldtschen Universität (und damit der Einheit von Forschung und Lehre) geschieht nicht im Kontext der Massenkultur (obwohl es ja die ‚Massenuni‘ gibt), sondern eher kulturindustriell – die ‚Medienwissenschaft‘ hat die zarten Versuche einer Filmlehre und -forschung schnell überholt. „Seit längerem schon hat sich die Wissenschaft aus dem Verbund von Forschung und Lehre herausgelöst, wird als Erwerb und Anhäufung von Wissen verstanden und als oberstes Gebot jenen vorangesetzt. In dieser Dynamik bildet Wissenschaft jedoch eine Einheit mit dem Erwerb und der Akkumulation von Kapital, bevor sie überhaupt offiziell auf die Wirtschaft eingeschworen wird. Dieser Einheit sehen sich heute die Lehrenden und Studierenden subsumiert.“ (S. 145/6)

Kracauer selbst wird „errettet“, weil er an einem „Naturrest“ festgehalten hat – mit seiner Außenseiterposition Obdach im Kino fand. Dieser „Naturrest“ wird bei Schlüpmann, wenn ich recht verstanden habe, dem „Nicht-Menschlichen“ zugeschlagen (was gewiss etwas anderes ist als das Un-Menschliche, das ja sehr viel mit geistiger Vermessenheit zu tun hat). Ich würde an dieser Stelle (mit dem schweizer Philosophen Hans F. Geyer) lieber die Kategorien „Geschichtsnatur des Menschen“ und „Naturgeschichte“ einsetzen – auf letzterer, die sehr viel langsamer vor sich geht, gipfelt sich der menschliche Geist so auf, dass der Rückbezug (der schon physiologisch, über den eigenen Körper gegeben ist) in Vergessenheit gerät oder negiert wird.
Vor allem im hinteren Teil des Buches gibt es einige Begriffs-Oppositionen (oder Komplementaritäten), die, glaube ich, Sinn machen. Schlüpmann insistiert auf dem ‚alten Affekt‘ der Liebe zur Wahrnehmung und zum Wahrgenommenen (den noch Adorno pflegte) – aber es gibt für sie, „jenseits des Spiegels und der Spiegelungen“, auch das Nicht-zu-Liebende am Kino. Dieses hervorzutreiben habe die Avantgarde als ihre Aufgabe angenommen – und darin habe sie einen (verstellten) Bezug zum frühen Kino. Es gebe da eine Leerstelle, die produktiv zu machen sei, ein utopisches Potential, das nur über die Kultur der Massen (die Vorstellung des Publikums von einem menschlichen Leben) zu aktivieren sei – und diese Leerstelle müsse offengehalten werden, dürfe nicht überspielt werden durch spektakulären Einsatz von Technik. (Von daher komme Kracauers Misstrauen gegenüber der ‚Formtendenz‘, schon bei Méliès.)
„Wer zur Menschheit dazugehören will, muss sich an der Reproduktion westlicher Kulturgüter, an ihrer Mediatisierung, beteiligen. Dieser Tendenz entzieht sich ein Umgang mit dem Film, indem er weder Kulturgüter vermittelt noch selber eines wird, sondern sich in der Schaulust des Kinos der <i>Theoria</i> bewusst wird.“ (S. 154)
„Das Kino hat die Vereinzelten, der Leere Ausgesetzten, noch einmal im Zeichen einer Liebe zur Wahrnehmung versammelt. Es tritt darin durchaus die Nachfolge der Philosophie an, einer entsublimierten Philosophie ….“ (S. 158)
„Erst wenn das Publikum sich eine andere Kultur vorstellen kann, gewinnt die Leerstelle für es Bedeutung. Um diese Vorstellung bilden zu können, setzen sie sich der Leere aus, verweilen sie bei ihr. Diese Bildung kommt aus den Kräften, die auch die Träume hervorbringen, sie kommt nicht aus dem Bewusstsein. Das frühe Kino hat ein starkes utopisches Potential …“ (S. 161)
„Bei der Leere verweilen fordert wieder die Möglichkeiten heraus, die im Unbewussten liegen. Möglichkeiten, von deren Verwirklichung wir uns abgeschnitten fühlen ….“ (S. 166)

Man wird vielleicht bemerkt haben, wie schwierig es ist – über ’68 hinaus -, an etwas festzuhalten, was noch Züge des Emanzipatorischen trägt. Die Hypostasierung des Kinos, die in Heide Schlüpmanns Texten evident ist, ist wohl eine Auswirkung dieser Schwierigkeit – andrerseits ist eine solche Vereinseitigung völlig gerechtfertigt, weil gerade so und nicht anders eine Wahrheit aufscheinen kann. (Die Hypostase selbst – wie etwa auch bei der Musik – verweist ja darauf, dass an etwas Rettendem, Dahinter-, Darunterliegendem, festgehalten werden soll.)
Wirklicher Progress kann sich heute, scheint mir, nur noch in einem Rückgriff äußern auf ein Davor – als Hinwendung zu dem Punkt oder Ort, wo noch etwas anderes möglich war und dann verstellt worden ist. (Allerdings könnte man ja sagen, das utopische Potential des frühen Films, von dem Schlüpmann spricht, sei ausgeschöpft worden – als <i>eine</i> Möglichkeit, die eben auch drin lag.) Es gibt jedoch, wie Bernd Nitzschke sagt, nicht nur die pathologische Regression, sondern auch die schöpferische – in Frankreich etwa hat der ‚unterirdische‘ Bezug auf Charles Péguy (der im 1. Weltkrieg gefallen ist) Kräfte des Beharrens und Ausharrens freigesetzt, die weiterwirken. (Durch Huillet & Straub zum Beispiel, auch durch Rivette u.a.) Die Frage ist also, auf wie ‚verlorenem Posten‘ der Regress steht – ob noch etwas auszurichten ist damit. Ob er nicht – in der Vergegenwärtigung, Sondierung dessen, was ist – notwendigerweise in die ‚leibliche Geste‘ eingeht, also ganz einfach lebensnotwendig ist.

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