Viennale 2006 (3)
Die Hommage war Olivia de Havilland und Joan Fontaine gewidmet und Hauptgrund meiner Vorfreude gewesen. Davon, dass die beiden Schauspielerinnen Schwestern sind, hatte ich zuvor nichts gewusst. Auch nichts von einem berühmten Rechtsstreit, den Olivia de Havilland mit den Warner Brothers führte, und den sie gewann. Nach anderthalb Jahren Zwangspause nahm sie als nun freiberuflich tätige Schauspielerin die herausfordernde Rolle in TO EACH HIS OWN an, für deren Darstellung sie prompt den Oscar erhielt. Mit diesem Film von Mitchell Leisen, aus dem Jahr 1946, begann für mich die Viennale.
Filme, in denen Schauspieler mit Unterstützung von Maskenbildnern Jahrzehnte altern, gehören nicht zu meinen liebsten, denn im allgemeinen möchte ich lieber glauben können, was ich sehe; realistisch muss es ja gar nicht sein. Dieser Film aber nutzte die Vorgabe, ein halbes Frauenleben zu erzählen, um auf verblüffende Art die Liebe darzustellen. Und zwar so: Eine junge Frau findet Gefallen an einem Piloten; andere Männer, von denen sie im kleinen Laden ihres Vater umschwärmt wird, machen neben ihm eine blasse Figur. Der Draufgänger wendet eine originelle – und wohl von ihm schon erprobte – Methode an, um an schnellen Sex zu gelangen. Von einer Tanzveranstaltung weg, auf einen Probeflug in seine Maschine entführt, wird ihr durch heimliches Stoppen des Motors ein leerer Tank vorgegaukelt. Lautlos segelt das Flugzeug in großer Höhe dahin. Doch statt sich im Moment des scheinbar bevorstehenden Todes an seinen Hals zu werfen, erschreckt sie ihn mit einer heiteren, fast burschikosen Seelenruhe, die von Zuversicht in ein gemeinsames Leben zeugt. Davon will er jedoch nichts wissen und startet schnell den Motor. Sie aber will ihn und kriegt ihn, und als er im Krieg stirbt, erwartet die Unverheiratete ein Kind von ihm – immerhin das, so sagt sie sich trauernd. Um den Skandal zu umgehen, will sie fern von ihrem Dorf das Kind zur Welt bringen und dann im Dorf vor eine fremde Tür legen, um sich sogleich als Adoptivmutter anzubieten. Der Plan misslingt. Eine Freundin, die gerade ihr Kind verlor, wird mit dem Findling beschenkt. Das Räderwerk des Melodrams arbeitet nun ganz vorzüglich. Das Ende aber hat mich überrascht und ein wenig gegen meinen Willen – so muss es sein! – tief gerührt. Die ganze Geschichte war als Rückblende erzählt, und dort wo sich der Rahmen schloss, an einem Bahnsteig, an dem Olivia de Havilland wartend saß und an zwei Jahrzehnte unerfüllter Mutterliebe dachte, da kam mit dem Zug ihr Sohn an, inzwischen Pilot im Folgekrieg. Und das fand ich wunderbar, irritierend und konsequent: der junge Mann wurde vom selben Schauspieler gespielt wie der Vater. Nach einigen Komplikationen, wie sie auch konventionellem Liebesglück im Wege stehen, zeigte das tolle Schlussbild Mutter und Sohn als tanzendes Paar.
Irgendwo hatte ich über die Stadt gelesen, sie sei nichts anderes als eine Konditorei am Rande des Balkans, Wien genannt. Mir kam es in diesem spätsommerlichem Oktober tatsächlich so vor, als würden nicht frischgestrichene Häuser sondern imponierende Tortenstücke die schattigen Straßen säumen, so als beleuchte das schräge Sonnenlicht auf den Dächern stolze Sahnehauben, Kirschen, Schokoraspel und doppelköpfige Adler aus Marzipan.
Der schönste neue Film in Wien war LA LEÇON DE GUITARE von Martin Rit, nur 18 Minuten lang. Dem Katalog entnehme ich: Martin Rit, geboren 1978, hat sein Kamerastudium 2004 abgeschlossen. Volker Pantenburg, der mir den Tipp gab, hat schon in der NEW FILMKRITIK über den Film geschrieben. Hat er den Namen des fantastischen Hauptdarstellers (Serge Riaboukine) erwähnt? Bestimmt. Noch einem anderen Serge, nämlich Gainsbourg, verdankt der Film einen Anteil seiner Schönheit, denn eines von Gainsbourgs Liedern ist der Stoff der GITARRENLEKTION. Ich sehe das Gesicht des Hauptdarstellers wieder vor mir, seine Neugierde, sein Lernen wollen. Ich fühle wieder, wie ich mich gespannt frage: Wird er das denn lernen können? Interessiert er sich nicht zu sehr für die Freundin des Gitarrenlehrers? Ich habe eine unbändige Lust diesen Film wiederzusehen.
Die größte Entdeckung in Wien war LIGHT IN THE PIAZZA eine M-G-M-Produktion aus dem Jahr 1962, in Metrocolor und Cinemascope, inszeniert von Guy Green. Darin war Olivia de Havilland die Mutter von Yvette Mimieux. Die beiden Amerikanerinnen, unterwegs in Florenz, wurden umschwärmt von zwei italienischen Männern. Der junge George Hamilton und der verführerische Rossano Brazzi. Halliwell’s Filmlexikon nennt den Film ein „puzzling romantic drama in which one is never quite sure why the characters behave as they do“. Leslie Halliwell meint das nicht wohlwollend. In seinem Versuch einer Inhaltsangabe hat Olivia de Havillands die Absicht „to marry off her mentally retarded daughter to a wealthy Italian.“ Es ist aber eben gerade das Herrliche an diesem Film, dass der Zuschauer in jeder Szene überlegen darf, ja höllisch aufpassen muss, ob Olivia de Havilland denn überhaupt ihre Tochter abgeben will; ob Yvette Mimieux denn überhaupt so sehr zurückgeblieben ist; ob diese beiden Italiener denn überhaupt reich und Vater und Sohn und ehrenwerte Gestalten sind. Nachher im kleinen Kreis bei Tagesteller und Bier gerieten wir darüber wunderbar einig ins Schwärmen. Es bestand nicht der geringste Zweifel, genau im Aufrechterhalten dieser flirrenden Ungewissheit bestand die hohe Erzählkunst des Films. Tatsächlich „puzzling“ war dieses romantische Drama, und außerdem eigentlich eine Komödie. Und noch dazu (in einem Kino, das zufällig Metro hieß) in Metrocolor und Cinemascope! Das bedeutete, dass man neugierig an den Schauspielern vorbei in die Straßen von Florenz blicken konnte, als säße man dort vor fünfundvierzig Jahren gemütlich in einem Straßencafe. Unabgesperrt geht rundum das Leben seinen Gang. Und alles hat die Schönheit jener künstlichen Farben, die die Welt nie und nirgendwo hatte, auch 1962 nicht, auch in Florenz nicht.
Neben LIGHT IN THE PIAZZA gab es noch einen zweiten Film zu sehen, zu dem Julius J. Epstein (damals noch gemeinsam mit seinem Bruder Philip G. Epstein) das Drehbuch geschrieben hat: THE STRAWBERRY BLONDE von Raoul Walsh aus dem Jahr 1941. Auch hier unternahm das Erzählen langsam und nachdrücklich eine Korrektur an der Vorstellung, die sich der Zuschauer von den Helden gemacht hatte. James Cagney und Olivia de Havilland waren am Ende ganz andere Menschen als am Anfang des Films. Nicht weil sie sich verändert hätten, sondern weil wir sie nun kennen gelernt hatten. Sie entpuppten sich als eher schwach, verletzlich und – sehr glücklich. Als im Abspann die Zuschauer überraschend aufgefordert wurden, das so oft erklungene titelgebende Lied gemeinsam zu singen, fürchtete ich sehr, das würde geschehen. Ich wäre vor Rührung auf der Stelle in lautes Schluchzen ausgebrochen, und das wäre sogar mir zu peinlich gewesen.
Am letzten Tag meines Aufenthaltes in Wien machte ich einen Abstecher in ein Vorortkino. Die Breitenseer Lichtspiele zeigten Harald Reinls SCHLOSS HUBERTUS von 1973. Beim Anblick des hundert Jahre alten, schmalen Saales, mit seinen hellbraunen Holzsitzen, befiel mich ein feierliches Gefühl, als wäre es doch möglich, dass ein Ort, der ärmlich, bescheiden und schön ist, ewig fortbestehen darf. Der ruhelose Film, der wie rasend bemüht war, einen viel zu umfangreichen Roman mit all seinen Aktionen komplett wiederzugeben, passte gut in meine Stimmung. Höhepunkt war das überaus spannende Erklettern eines Adlernests im felsigen Steilhang, über viele aneinandergefügte Holzleitern, erfolgreich, bis giftiger Staub, getrockneter Kot der Vögel, dem gierigen Räuber in die Augen rieselte und ihn erblinden ließ. Am nächsten Tag saß ich zufrieden im Zug nach hause. Hoffentlich würde es mir gelingen, meine Freundin an ihrem morgigen Geburtstag zu überzeugen, wie schön es sein könnte, in Düsseldorf-Bilk im Metropol EL CID zu sehen, von Anthony Mann. Mit Charlton Heston und Sophia Loren. Charlton Heston! Und Sophia Loren!
– Rainer KNEPPERGES –