KINO WIE NOCH NIE
Dieses das Kino, das der Bully so liebt, ist ein wichtiger Darsteller in einer emphatischen Rede, die sich in einer langen, schlängelnden Abwärtsspirale von den Protagonisten der Nouvelle Vague, über die ihnen nachtuenden Intellektuellen der 60er Jahre, über die Casablanca-Harold&Maude-Programmkinokultur der 70er, die Komödienleichtigkeitsfans der Süddeutschen Zeitung der 80er schließlich zur Filmakademie der Jetztzeit herunter verlängert hat. Die Rede vom „Kino, wie noch nie“ meint eine ganz andere Rede vom Kino. Sie unterscheidet sich von der Rede von dem Kino nicht nur dadurch, dass sie auf den Artikel vor dem Kino verzichtet, obwohl das nicht der unwichtigste Eingriff ist.
Der bestimmte Artikel verringert ja nicht nur die Zahl möglicher Kinos auf den niedrigsten Grenzwert, er macht das Kino je nach Lesart zu einem in sich homogenen Objekt oder Projekt, zu einer kategorialen oder normativen Einheit oder zu einer zu Fanatismus verpflichtenden Mission, entrückt es also in jeder Bedeutung unserer unmittelbaren Reichweite. Während Kino ohne Artikel dagegen eine wohlschmeckende, unbegrenzte und unzählbare Masse aller mit ihm verbundenen Vorstellungen wäre, die man sich einverleiben kann. Etwas Leckeres, Anregendes und gar nicht so selten Verfügbares – so wie Schokolade, Urlaub oder Fußball, von dem man auch nie genug kriegen kann.
„Fußball wie noch nie“ ist ein Film von Hellmuth Costard. Man sieht darin 90 Minuten lang nichts als einen Spieler, nämlich George Best. Titel und Methode sind sich also einig, dass sie uns zwar Fußball geben, die begehrte, eigentlich unbegrenzte und unbegrenzt begehrte Substanz. Sie sagen aber auch, dass die Steigerung dieser begehrten Substanz weder darin bestehen kann, sie zählbar zu machen und zu dem Fußball zu erklären, noch aber dass man wirklich einfach nur immer mehr Fußball will, endlos viel, wenn man Fußball will. Eine Verlängerung nach der Verlängerung. 150 Minuten. Die Steigerung des Fußballgenusses verspricht eine Steigerung der Quantität, sie liegt aber viel mehr in der Qualität, dem „Wie“ in „wie noch nie“.
Diese Steigerung besteht in einem analytischen und zugleich begehrenstechnischen Mittel. Nur einen Spieler zu zeigen ist eine heuristische Maßnahme: sie bringt andere Perspektiven hervor, sammelt nie gesehene Eindrücke etc., zugleich aber folgt sie einem antidisziplinarischen, narzisstischen Wunsch. Einmal möchte man das störende, einschränkende Mahnen von Trainern und Lehrern, Ideologen und Staatsmännern vergessen, dass Fußball ein Mannschaftsspiel sei, ja eines in dem sich Vergesellschaftungsformen studieren und vergleichen lassen; statt dessen sich in dem Einzelnen und seinen Eigenheiten baden, die wir erleben und dann auch sehen zu können glauben wie unser eigenen Eigenheiten; vergessen aber auch den ewigen Imperativ, mannschaftsdienlich zu spielen, abzugeben und uns Fußball statt dessen so ansehen wie wir es selbst als Aktive empfinden, als eine Tätigkeit, die sich trotz aller Sozialität um uns und nur um uns selber dreht, bzw. deren entscheidender Moment der Kick ist, wenn sich dieses allgemeine und soziale Spiel plötzlich – weil wir den Ball haben – in uns realisiert.
Durch Costards Film kriegen wir aber beides: zum einen die Analyse des Sozialen am Beispiel des Einzelnen, der ja häufiger unbeschäftigt ist, abgeben muss, als dass er glänzt; zum anderen aber eben auch die pure Steigerung unserer Fußballgier. Schließlich und drittens ist das „… wie noch nie!“ ein typischer Teil von Slogans einer noch unbeholfenen und nicht zielgruppenspezifisch werbenden Konsumgüterindustrie. Ihr fällt noch nichts anderes ein als nach dem Muster der Steigerung allein auf der Seite des Produkts zu werben. Sie sagt noch nicht, was mit mir und meinesgleichen passieren könnte, wenn ich das Produkt konsumiere, wie sie das heute macht, sondern nur, dass ich mehr von dem Produkt bekomme, und zwar mehr in der komischen nicht mehr nur quantitativen Sinne des „…wie noch nie“, der die reinen Hungerjahre der Nachkriegszeit schon hinter sich hat, aber der andererseits die qualitative Vermehrung sich auch nicht anders als eine größere Portion auf dem Teller der Sinne vorstellen kann.
Mehr auf dem Teller plus Analyse ist nun vielleicht auch die Prämisse, mit der diese Ausstellung uns die ewig leckere Substanz Kino auftischen will – warum sonst hätten die Kuratoren diesen Titel gewählt? Nun gut, aus Gründen der Hommage an einen Film, der mit einem einfachen heuristischen Kunstgriff so ganz anders geworden war, als wäre es ein neues Genre oder als hätte er auf die Einführung einer komplett neuen Technologie reagiert. Und das ist in der Tat, wie mir scheint, ein weiterer entscheidender Einsatz dieser Ausstellung: sie plädiert für die Produktion weiterer, anderer Fälle von Kino, die nicht auf das Kino noch auf dessen eine entscheidende Revision, noch auf einen reinen Pluralismus hinauslaufen. Stattdessen, so zeigt diese Ausstellung, kann man an Kino überall anbauen, überall neue Formate hinzufügen, die trotzdem das, woran man sich so gerne überfrisst, mit einer spezifischen Analyse verbinden.
Ich habe darüber nachgedacht, wie man das Verhältnis aus unbegrenzbaren Genuss und Analytik bei den Arbeiten hier beschreiben soll, denn ich denke, es ist ihre entscheidende Gemeinsamkeit, eine Konstante, die sie tatsächlich mit „Fußball wie noch nie“ verbindet. Ist dies einfach ein humanistisch-didaktisches delectare et prodesse, handelt es sich um in die dick machende Schokolade des Kinos verpackte kritisch gesunde Konterbande, wie man das – ein bisschen kunstfern – vielleicht in den 70ern formuliert hätte, oder um die berühmt-berüchtigte Subversion der 80er Jahre? Aber all die Verben, die zu räumlichen Metaphern für dieses Verhältnis beitragen, mussten deleted werden: verpacken, enthalten, aufspannen, in Stellung bringen etc. Geht alles gar nicht.
Kinofilme gehören zu einer größeren Einheit, die durch ihren Werkcharakter und Kunststatus vor einer zu kannibalistischen Liebe geschützt ist und doch zugleich ein Vergnügen jenseits ihrer Sinnangebote ermöglicht: Spannung, Bilder, in denen man versinken möchte, Bilder, die man anhalten möchte, Kamerapositionen oder -bewegungen, in die man hineinkriechen möchte. Diese Momente herauszubrechen und in einen anderen Kontext zu manövrieren, ist eine eigentlich verbotene, kindliche Organisation von Genuss. Es ist das ewige Nochmal! von Kindern, Party People und Teletubbies. Oder andere primäre, anti- und unökonomische Organisationen eines Konsums des Angenehmen, nicht angemessen für das Schöne: man will immer das Gleiche, will verdoppeln, vergrößern oder ein Partialobjekt auslösen, den Belag ohne das Brot.
Dass aber und wie das Angenehme – im weitesten Sinne des Terms – im Schönen steckt, kann man an allen magisch technischen Künsten des 20. Jahrhunderts in einer ganz anderen Weise erfahren als in den Künsten, die auf primären Handwerk basierten und deren Studium und philosophische Betrachtung uns ursprünglich dieses Gegensatzpaar schenkte, das Angenehme und das Schöne, der Kick und die Konstruktion. Diesem anderen Verhältnis von Effekt, Affekt und Sinn im Kino (im Übrigen auch in der aufgezeichneten Musik) aber gab u.a. Eisenstein den Namen der Attraktion.
Attraktionen stehen – von diesem Kontext einmal abgesehen – in einem schlechten Ruf bei der Kulturkritik, sie gelten als die Moleküle der Fetischismen und der Konsumismen, als die sich verselbstständigenden Elemente, deren fortwährende schlechte Emanzipation vom Zusammenhang und vom Sinn, hin zu Special Effects und Klingeltönen den gegenwärtigen, beklagenswerten Stand von Kulturindustrie markieren. Diese Betrachtung hat gar nicht einmal nur Unrecht, aber sie weiß eben nur von der einen Seite des Verhältnisses. Nämlich derjenigen, die heute kulturindustriell dominant geworden ist. Die andere Seite aber ist die Wissenserotik des Herausbrechens und Wiederholens, des Präparierens und Vergrößerns, in dem der Attraktionsgenuss und das Erkenntnisinteresse des Präparierens, der auf der Einzelheit herumreitenden Dekontextualisierung sich als ein und dieselbe Sache erweisen. Die Frage „Wie funktioniert das, warum sieht das gut aus?“ und das „Nochmal!“, das ein bestimmtes Kunststück immer wieder sehen will, lassen sich an diesem Punkt nicht mehr so leicht von einander trennen.
Ich glaube, dass man einen gewissen Teil der hier ausgestellten Arbeit darauf bringen kann: Am Kino fasziniert sie das normalerweise Unmarkierte, die bedeutsame Einzelheit, das auffällig Unauffällige – und zwar im Modus der Attraktion, als etwas, das mich überwältigt aufgrund eines Tricks, den ich nicht ganz durchschau, durchaus aber durchschaue, dass es etwas zu durchschauen gibt – und das kommt direkt mit dem Kick. Ihre Rekonstruktionen, Wiederholungen und Vergrößerungen wollen herausfinden, warum sie herausfinden wollen, wiederholen, dass sie wiederholen wollen. Sie wollen sich immer wieder ansehen, wie es ist, den Grund und den Abgrund der eigenen Faszination zu konstruieren. Um das aber tun zu können, schaffen sie immer mehr und virtuosere Architekturen und Installationen des Displacements und des Laboratoriums.
Vielleicht nebenher eine ganz brauchbare Losung für eine zurzeit wieder so intensiv gesuchte Konvergenz von Wissenschaft und Kunst, von so genanntem artistic research: Architekturen der Dekontextualisierung bauen, in denen sich die Objekte der Begierde als Objekt der Neugier erweisen und umgekehrt. Vielleicht aber auch nicht brauchbar.
Nun treffen hier aber all diese Labors, Sammlungen von Präparaten und Wissensbordelle auf eine oder mehrere parallele Entwicklungen in der Verständigung zwischen Kino und Kunst, die in den letzten Jahren vermehrt zu beobachten waren. Parallel soll hier heißen: ähnlich, aber womöglich ganz anders. Sowohl auf Seiten künstlerischer Arbeiten als auch auf Seiten kuratorischer Projekte. Antje Ehmann und Harun Farocki haben für diese Version der zuvor schon in der Wiener Generali Foundation gezeigten Ausstellung auf die jüngere Geschichte solcher kuratorischen und akademischen Bemühungen reagiert und die entsprechenden Kataloge hier verfügbar gemacht.
Das Verhältnis von künstlerischen Bewegtbild-Arbeiten im Kunstkontext im Allgemeinen zu diesen hier im Besonderen lässt sich darüber hinaus aber nicht darauf reduzieren, dass die hier gezeigten nicht nur versuchen, auf eine neue Art oder eben wie noch nie Kino zu sein, sondern darüber hinaus auch Kino zum Thema haben, während man das von der Mehrzahl der Museums- und Galerien-Black-Boxes und -Projektionen nicht sagen könne. Tatsächlich thematisiert nämlich die Mehrzahl der Black-Box-Arbeiten in der Bildenden Kunst kinobezogene Themen und Fragestellungen. Wie auch nicht, wie könnte irgendeine seriöse und satisfaktionsfähige postkonzeptuelle Kunst nicht ihre medialen und dispositionalen Bedingungen reflektieren? Dennoch gibt es einen offensichtlichen Unterschied: zwischen etwas, das die hier ausgestellten Arbeiten gemeinsam haben und das keineswegs die Regel bei anderen Bewegtbild-Arbeiten in Museen und Galerien ist.
Im Gegensatz zu vielen anderen zeitgenössischen Bewegtbild-Installationen – und hier sind ja nicht einmal alle bewegt – geht es nicht darum, ein neues Kino, ein neues Dispositiv zu bauen, das je nach Arbeit unter heutigen technischen Bedingungen oder unter heutigen künstlerischen Bedingungen das alte Kino oder das alte Avantgarde-Kino oder auch den Bezugsrahmen der Bildenden Kunst, den White Cube beerbt, sondern es geht um Beiträge zu Kino, der Substanz, die man immer wieder haben will. Immer wieder wie noch nie.
Das heißt auch, dass eher Arbeiten entstehen, die sich als Genre-Unikate verstehen, als einmalige Vorschläge für ein Modell von Kino oder Bewegt-Bild-Installation, das dann aber auch sogleich bespielt und ausgereizt werden muss. Das erinnert mich an die alte Unterscheidung zwischen einem Zwölf-Ton-System auf der einen Seite, das zwar als neues Modell mit den alten bricht, nicht aber mit dem Verhältnis von Modell und Realisierung, dessen Erfinder weiterhin darauf setzt, dass auch andere sein Modell nach ihm benutzen können, und auf der anderen Seite, dem postseriellen Komponieren oder einer postkonzeptueller Kunst, bei der jede Arbeit sowohl Modell als auch dessen – meistens einzige oder einzigartige – Realisierung zugleich sein muss.
Wenn man durch ein Museum oder eine Ausstellung von Bewegtbild-Installationen läuft, fällt einem der Unterschied vielleicht gar nicht so auf, es ist ja auch ein Unterschied zwischen Legitimationsdiskursen: An der Kunst und ihrem Schönen im Gegensatz zum Angenehmen zu arbeiten oder am Kino und dem Schönen im Angenehmen – als dessen Analyse oder Kritik.
Darin besteht nicht zuletzt eben auch die Erlebnisqualität des „Wie noch nie“, auf die Sie sich hier freuen können, und unterscheidet sie vom herkömmlichen Event, also dem Ereignis im Genre des Ereignisses, das zu Erlebnissen im Genre des Erlebnisses führt. „Kino wie noch nie“, wie ich es verstehe, soll heißen, dass alles, was wie immer ist, und sonst einfach nur demarkiert und in den Hintergrund geschoben wird, als stille Voraussetzung des Verständnisses, dass gerade diese stille Voraussetzung des Verstehens als das eigentlich Geile in den Mittelpunkt gerückt wird.
Das, was an der Konvention, am Genre glückt, das, was flutscht und klappt und passt, ist nicht kritisierenswert, weil es klappt, sondern weil dieses Gelingen als Routine und Verstehensvoraussetzung im Hintergrund bleibt. Konzentriert man sich darauf, ist die Konvention nicht mehr stummes Machtprinzip im Hintergrund, sondern besonders fulminantes Solo im Vordergrund, oft das Solo einer Maschine, eines Dispositivs, einer Routine, nun aber voller Leben. Es gibt zugleich kein Machtprinzip im Hintergrund mehr, kein ewiges Modell, dem die jeweilige Realisierung egal ist, solange das Modell nicht angetastet sind, sondern alle Modelle nur als einmalige Realisierungen. Viel Spaß dabei!
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[11. Mai 2007, Einführung zur Ausstellung „Kino wie noch nie“, kuratiert von Antje Ehmann und Harun Farocki, Akademie der Künste, Berlin, 12. Mai bis 8. Juli]