Moullet über Moullet
Ich bin einer der wenigen französischen Cineasten von einfacher Herkunft: Mein Vater war Vertreter, meine Großmutter Concierge, und meine Urgroßväter hüteten Schafe. Sie stammen aus dem südlichen Voralpengebiet, einer Gegend, die der Pariser Intelligenzija ungefähr so fremd ist wie die Lozère oder die Creuze.
Als Folge dieser proletarischen Zugehörigkeit ist es mir unmöglich, Filme zu konzipieren, die große Mittel erfordern: Die Budgets meiner Spielfilme liegen zwischen 150.000 und 550.000 Francs, also FORT SAGANNE [1984, Regie: Alain Corneau], geteilt durch 100 oder 300. Es sind Filme, deren Finanzierung relativ leicht zu bewerkstelligen war, die aber natürlich weit entfernt bleiben von den schicken Industrieprodukten, an die das Publikum gewöhnt wurde.
Wenn man davon ausgeht, daß meine Filme ein Interesse haben, dann das, daß sie einen schrägen, ungewöhnlichen Blickwinkel zeigen, unabhängig von der allgemeingültigen Optik. Gleichzeitig beschränkt dies natürlich auch ein wenig ihr Publikum. Die Schrägheit zeigt sich vor allem in der Komik, denn mir erscheint die heutige Wirklichkeit unverbesserlich komisch, selbst in ihren tragischsten Aspekten, selbst in den Filmgenres, die alles andere als komisch sind. Ein zerstreutes Lachen in einer Kontinuität, die dies auszuschließen scheint. Ich neige dazu, einige meiner Filme abzulehnen, weil sie mich zu sehr berühren, aber vielleicht sollte ja gerade das ihren Wert ausmachen.
UN STEACK TROP CUIT, das auf einer Beobachtung beruht, stellt die Erfindung in der Gewöhnlichkeit wieder her, die sich als Maske der Schüchternheit zu verstehen gibt. Es ist schwierig, alles, was interessant ist, in die normale Dauer eines Dokumentarfilms hineinzubringen. Deshalb hat TERRES NOIRES (genau wie sein Zwilling GENÈSE D’UN REPAS) einen kursiven Rhythmus, an der Grenze des Verstehbaren. Das, was die Aufmerksamkeit des Zuschauers zuspitzt, zwingt ihn auch, das Beste von sich zu geben. Also genau das Gegenteil der aktuellen Tendenz in den Medien. Man spürt, dass es immer noch etwas gibt in diesem Film, das man nicht wahrnimmt, eine geheimnisvolle Welt, die über das Normalkino hinausgeht, wo alles leicht verdaulich zubereitet wird.
CAPITO?, von dem nur eine schlechte Kopie existiert, lehnt sich an das bei Joseph L. Mankiewicz so beliebte Prinzip der Situationsumkehr an. Es erweist sich aber für so einen kurzen Film als eher fragwürdig. Es hat einen kitschigen Effekt, der irgendwie nicht passt. Godard ist gewiß der einzige, der behauptet, das sei mein bester Film.
BRIGITTE ET BRIGITTE ist eine persönliche Abrechnung mit der Sorbonne: Damals hatte das Studium nichts mit der Tätigkeit als Lehrer zu tun, auf die das Studium doch vorbereitete. Man springt ununterbrochen von der Beobachtung der Wirklichkeit zur erzwungenen Unwirklichkeit: Anstrengung in Richtung Komik, bemerkenswerte Preziosität, aber zu systematisch. Die genau kalkulierten Effekte tragen, aber es sind eben nur Effekte. „Um Erfolg zu haben, muß man etwas schlecht machen können“, lautet meine Devise. Mein am wenigsten guter Spielfilm ist gleichzeitig mein erfolgreichster. Mein bester hingegen (nach einstimmiger Meinung der Leute, die ich schätze, ist gleichzeitig mein größter Mißerfolg: LES CONTREBANDIÈRES, mit einem Minus von 30.000 Francs, ist mein einziger defizitärer Spielfilm. Ein ziemlich schrulliger Film, fast martialisch, mit wenigen Einflüssen. Viele Leute können nicht verstehen, warum ich ihn überhaupt gemacht habe. Die Konzentration vieler verschiedener Ereignisse auf 80 Minuten, für die eigentlich 10 Stunden angebracht wären, führt zu einer Abstraktion und läßt so die Absurditäten des Lebens deutlicher hervortreten.
A GIRL IS A GUN (UNE AVENTURE DE BILLY LE KID) leidet unter der zu großen Aufmerksamkeit, die der Psychologie und der Logik der Geschichte beigemessen werden, die im Rahmen dieser Fantasie etwas verloren wirken. Anfangs enttäuscht die Kontinuität, aber es gibt auch einige Lichtblicke: Überraschungen, Emotionen, Komik und die Genialität Jean-Pierre Léauds.
Trotzdem habe ich danach, der schwierigen Beziehungen zu den Schauspielern müde, beschlossen, selber zu spielen, indem ich, wie der Schauspieler Jean Renoir, von meiner „Outcast“-Seite profitiere.
Mag sein, daß es dem Zufall zu verdanken ist, aber ANATOMIE D’UN RAPPORT ist gelungen, vielleicht sogar in dem Maße, in dem er mir entgleitet. Antonietta Pizzorno hat die Szenen mit der Heldin gemacht und ich die mit mir. Obwohl der Film anfangs auf zum Teil heftige Ablehnung stieß, wurde er dann, trotz seiner Fehler, zu einer Art Kultfilm. Eigentlich beschreibt er einen pathologischen Fall, aber mittlerweile erkennen sich viele Leute darin wieder.
GENÈSE D’UN REPAS wurde kontinuierlich gespielt und hat einhellig positive Kritiken erhalten. Ist es ein Film, der sich anbiedert? Ich glaube nicht. Der Zufall wollte, daß er mit einer Ideologie zusammentraf, die gerade modern war, aber es keine Gefälligkeit darin. Vielleicht ist es der erste komische Dokumentarfilm über die Ausbeutung der dritten Welt.
Nach einem sozial engagierten Film eine Nabelbeschau: MA PREMIÈRE BRASSE oder: die Kreuzigung in Form einer Schwimmunterrichtsstunde. Mein erster konsequent komischer Film seit dem STEACK. Die reduzierte Länge bietet sich dazu an. Der Rhythmus ist mit dem abstrakten Denkkurs am Anfang lebhafter, leichter zu beherrschen, und scheint dann nachzulassen, als er den Wirren der marinen Wirklichkeit unterworfen wird.
Bei INTRODUCTION (1981), einem Film über das Phänomen der Veränderung, habe ich nicht gewagt, das Thema frontal anzugehen, so wie das später in CÔTÉ COEUR, CÔTÉ JARDIN der Fall sein wird. Die Veränderung wird dort auf einer abstrakten Ebene evoziert, wie in L’ARITHMÉTHIQUE von Pierre Kast. Der Hauptfehler: Die Veränderungen des Tons sind weniger hervorgehoben als die des Bildes.
LES MINUTES D’UN FAISEUR DE FILMS oder: Wie ich einige meiner Filme geschrieben habe. Da die Materie sehr einfach ist, bleibt der Film präzise bis auf die tausendste Umdrehung. Das gefällt mir sehr, aber vielleicht ist das auch nur Eigenliebe.
LES HAVRES ist der Ersatz für ein Filmprojekt, einen komischen Film, der mit mir geplant war: Ich hatte Angst, mich zu wiederholen. Meine Marginalität hat mir Lust am Standard gemacht, und ich wollte mir die Illusion geben, einen Auftragsfilm zu drehen, obwohl ich völlig frei war. Ein perverses Vorgehen, das durchaus diskutabel ist. Die Originalität meiner Stimme widerspricht der Objektivität des Films.
BARRES, ein Beobachtungsfilm, ist eine Hommage an die bewundernswerte, aber im Aussterben begriffene Kunst des Überspringens der Drehkreuze am Metro-Eingang. Es wäre zu schade gewesen, wenn man nicht versucht hätte, dies zu verewigen.
Es war ungefähr 1972, da hatte ich als Produzent Probleme mit einem Film über einen Hund, LE CABOT. Zwei Jahre lang wurde er von der Zensur blockiert. Damals wurde mir klar, daß diese Tiere in Frankreich tabuisiert sind. Bei uns ist der Hund ein heiliges Tier, so wie in Indien die Kuh. Der Hund ist immer im Recht, egal, was er tut. Und der Mensch, der ihn kritisiert oder sich über ihn lustig macht, ist immer im Unrecht. Eben diesen zynischen Stand der Dinge wollte ich in L’EMPIRE DE MÉDOR mit der Sanftheit des Komischen darstellen.
Das Prinzip von Bibliotheken ist es, Bücher zu konservieren, alle Bücher. Aber ein Element entzieht sich völlig diesem Drang nach Konservierung, obwohl es den Bibliotheken sehr eng verbunden ist. Man spricht nie darüber: Es handelt sich um die Gewohnheiten und Sitten der Leser und des Bibliothekspersonals. In LA VALSE DES MÉDIAS habe ich versucht, diese Konservierungsarbeit zu leisten.
Ständig wird über die Arbeitslosigkeit gesprochen. In LA COMÉDIE DU TRAVAIL habe ich, um die Wiederholung von Gemeinplätzen zu vermeiden, einen Angriffswinkel eingenommen, der der herkömmlichen Position genau entgegengesetzt ist: Es geht um die kleinen Dramen, die in dem Augenblick entstehen, wenn eis einer Arbeitsmarktspezialistin gelingt, allen Leuten Arbeit zu verschaffen…
ESSAI D’OUVERTURE hat, wie auch LA CABALE DES OURSINS, etwas von der Pataphysik Alfred Jarrys, d.h. von der Wissenschaft von dem, was nicht (oder wenn, dann nur wenig) existiert. ESSAI beleuchtet die Wissenschaft, die man beherrschen muß, damit es einem gelingt, eine Coca-Cola-Flasche zu öffnen, und LA CABALE widmet sich der Schönheit und den Kohlehalden.
LES SIÈGES DE L’ALCAZAR schildert das große Dilemma des cinephilen Menschen: Soll er die unwiderruflich letzte Aufführung eines Meisterwerks bis zu Ende anschauen oder sofort mit dem Mädchen schlafen, das er liebt und das sich weigert, noch eine Sekunde länger zu warten…
PARPAILLON geht in einer gewissen Weise ebenfalls auf die Pataphysik zurück, denn die Bezwingung eines Bergpasses mit dem Fahrrad scheint das einzige Ziel im Leben der Protagonisten zu sein. Aber es ist auch eine auf Beobachtung beruhende Beschreibung der Lebensgewohnheiten der Radfahrer. Es ist gleichzeitig eine Art Wagnis: der Versuch, einen Film ohne Hauptdarsteller und ohne Geschichte zu machen. In gewisser Hinsicht stellt der Film einen Versuch dar, reines Kino zu machen, ohne eine Erzählung als Stütze zu haben.
Supermärkte sind die Kathedralen der Zukunft, so lautet die These von TOUJOURS PLUS. Nach zehnjährigen Nachforschungen bekam ich die objektive Bestätigung für das, was ich vermutete.
Kein Zweifel, verglichen mit anderen Städten ist FOIX unbestritten und bei weitem die altmodischste Stadt Frankreichs. Dort geschieht alles gegen die Vernunft, ohne die geringste Planung und mit dem schlechtesten Geschmack. Man bedenke nur, daß das Kulturzentrum sich zwischen dem Gefängnis und dem Friedhof befindet.
Der für die USA so charakteristische Kontrast hat mich schon immer verblüfft: Es ist das Land, das an der Spitze der Welt steht, das als Modell dient und das man beneidet. Und auf der anderen Seite das innere, das mittlere Amerika, das ein trübseliges, unmenschliches und häßliches,, von dickleibigen Menschen bevölkertes Land ist. Ich bin nach Des Moines gefahren, um LE VENTRE DE L’AMÉRIQUE zu drehen.
Ich mag es, meine Personen Dinge tun zu lassen, die ungewöhnlich sind, im Widerspruch zur Logik (und die im Leben ziemlich häufig sind). Vielleicht ist es ja auch ein Versuch, meine vielleicht vorhandene Stärke zu beweisen: Es geht darum, daß der Zuschauer auch noch das Unwahrscheinlichste akzeptiert. Im Rahmen des Komischen ist das relativ einfach – deshalb sind auch die meisten meiner Filme witzig. In der Komödie lacht man über das Ungewohnte und die Unwahrscheinlichkeit der Personen und der Situationen.
In LE FANTÔME DE LONGSTAFF bin ich ein größeres Risiko eingegangen. Es handelt sich um ein Drama, das in diesem Fall auf einer Novelle von Henry James, meinem Lieblingsschriftsteller, basiert. Das ist – noch ein Paradox – der einzige meiner 29 Filme, bei dem es sich um eine Adaption und nicht um ein Originalthema handelt.
NOUS SOMMES TOUS DES CAFARDS ist in der ganzen Filmgeschichte der erste und einzige Film, der es wagt, die Problematik der Heuchelei aus der Sicht der Religion und der Sexualität zu erörtern.
– Luc Moullet –
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[Aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt von Katharina Maes. Erstveröffentlichung in: Viennale. Vienna International Film Festival, 16.-28. Oktober 1998, S. 181-184. Dank an die Viennale für die Genehmigung zum Wiederabdruck]