Von schöner Unordnung
Im Katalog des 6. I mille occhi (Trst, 22.-29.9.’07) charakterisierte dessen Großer Aushecker, Sergio Grmek Germani, eines der Meisterwerke des Festivals wie überhaupt des Jahres 2007, Giulio Questis VISITORS (2006), als einen ‚Film von absoluter Unaktualität, der bestens demonstriert, wie man Partei ergreifen und zugleich frei sein kann — wider alle revisionistischen Anmaßungen‘. Was auch dieses in seinem Entwurf gigantische, allein von seiner Gestalt her kleine Festival bestens beschreibt: völlig desinteressiert am jeweils letzten Schrei einer kontemporären Filmkultur von beunruhigend kleingeistiger Krämerseeligkeit, Produkt jenes – immer rasenderen – aber stopbaren! – Fortschritts ohne Entwicklung, vor dem Pasolini immer warnte, an dem Pavese erlosch, gegen den Huillet & Straub arbeite(te)n…
I mille occhi, das ist – der Traum vom – Neorealismus, konkret rossellinisch wie als anwendbare Utopie: Kino als Kommunikation, beständiges Forschen, pragmatisch aufklärerisch, vor allem neugierig, darin verspielt wie widerspruchslustig, nahezu ferronisch, ergo stets gewillt, Ideen neu zu bedenken, immer komplexer zu definieren. Man könnte und sollte hier auch von der permanenten Revolution sprechen – Du bist nur die Gegenwart!: ward je rossellinischeres gesagt? -, ob der Art, wie sich das Festival von Durchgang zu Durchgang aus dem vorherigen neu erfindet, idiosynkratisch wie luzide. Ganz so wie Jacques Baratier, seine Filme — ein paar Appetithappen nur ’07, zwei kurze, zwei lange, doch schon die machen sichtbar, wie besessen er sich beständig neu schöpft… nächstes Jahr mehr; und dann endlich auch die vier Fassungen von Mario Bavas unvollendeten CANI ARRABIATI (1974): vier praktische Phantasien über einen auteur… Bava, wiederum, wurde dieses Jahr mit dem kürzlich verstorbenen Avantgarde-Meister Alberto Grifi kurzgeschlossen, durch die Väter, die beide Erfinder waren — und überhaupt: habe ich nicht schon wiederholt gesagt, daß Alberto Grifi & Gianfranco Baruchellos LE VERIFICA INCERTA (DISPERSE EXCLAMATORY PHASE) (1964/65) der perfekte Vorfilm wäre zu Mario Bavas TERRORE NELLO SPAZIO (1965)?, die könnten ja sogar ihre Titel tauschen.
Anders als in früheren Jahren gab’s diesen Durchgang kein dominantes Ganzes, keine Werkschau(en) als Planet(en) mit Film-Monde drumrum. Stattdessen: kleinteilige Poesie komplexer Kontraste höchster Steilheit, Fortschreibungen früherer Programme – z.B. Werner Schröter – werden zu Vorankündigungen kommender Attraktionen – J. Lee Thompsons YIELD TO THE NIGHT (1956), präsentiert a prospos DEUX (2004), in dem Isabelle Huppert die Fabel dieses monströs bewegenden Melodrams recht verdreht erzählt bekommt, verheißt das Glück einer für 2008 annoncierten Seth Holt-Retrospektive -, Preis in all dem des Fragments, Lob der geistigen Bewegungen zwischen den Dingen, des Unterschwelligen, Subversiven, Transgressiven. Wer sein Festival eröffnet mit der Uraufführung einer seinerzeit unterdrückten Kurzdokumentation von Carl Theodor Dreyer, VANDET PAA LANDET (1946), gefolgt von Huillet & Straubs letztem Brandkanon, EUROPE 2005 – 27 OCTOBRE (2006), gefolgt von Werner Schröters frühen, weitestgehend Maria Calles gewidmeten Normal-8-Exerzitien, abgerundet durch drei weitere, kurze erzieherische Maßnahmen Dreyers, der kennt keine Furcht: der weiß wohl, einfach und befreiend, um die Wirkung des klar empfundenen Sehens und Hörens, und auch darum, daß es keine Nebenwerke gibt, nur Filme. Zur Klärung der Verhältnisse, als Linie im Sand folgte später noch Shinkichi Tajiri & Ole Eges demütig-zärtlicher BODIL JOENSEN ‚A SUMMERDAY‘ JULY 1970 (1970): ein Dänenmann für die Jünger der Kanonischen Korrektheit — zack!, Kino als Kunst der Beunruhigung, Erkenntniszittern ob der irrlichternde Harmonien zwischen Dreyers – von seinen Auftraggebern als defätistische Nestbeschmutzung empfundene – Aufklärungsarbeit über die Vergiftung von Brunnenwasser durch rurale Schlampertheit und Tajiri & Eges Portrait eines zoophilen Pornostars gesehen als Godiva der Verlorenen… FEROCE.
Ähnlich schallerte es zur Nacht des Märtyrer-der-afrikanischen-Befreiung-Tages dank – der englischsprachigen Exportfassung von – Gualtiero Giacopetti & Franco Prosperis AFRICA ADDIO (1966), denn: das meistdiskutierte aller Mondo-Werke mag ja in seiner ganzen todesgeilen Desinvoltura erzfaschistisch sein, bringt – dabei – aber allerhand ganz konkret und korrekt auf den Punkt. Ziemlich verstörend, jetzt, ist u.a. das Ruanda-Segment: ein Völkermord, der in den 90ern vielen angeblich unbekannt war, kommt in einem der erfolgreichsten, durchpolemisiertesten Filme der 60er Jahre zur Sprache, wobei Jacopetti & Prosperi an Analyse und Hintergründen ziemlich exakt, wenn auch bloß skizzenhaft das liefern, was man 30 Jahre später – immer noch – zu hören bekam… 41 Jahre ist das jetzt alles her.
Für entsprechend Bewegte, Engagierte mag es ein Affront gewesen sein, AFRICA ADDIO nach u.a. Flora Gomes‘ wundersamen Musical NHA FALA (2002), Gaston Kabores Instantklassiker ZAN BOKO (1988), und Raoul Pecks kontemplativer Recherche LUMUMBA: LA MORT D’UN PROPHETE (1992) zu zeigen — im Kontext des Festivals, jedoch, seines rossellinischen Geistes, war es vor allem: konsequent. Denn: die Mondo-Filme stellten genau jene Glaubwürdigkeit des Bildes, jene Wahrhaftigkeit des Wirklichen implizit in Frage, auf der die Idee des Neorealismus basiert, auch dadurch, daß sie sich auf die Kamera als Wahrnehmer der Realität beriefen, also auf eine realistische Tradition, neorealistische Tropen, Konzepte, Phrasen; im Raum hingen, so, wieder einmal, die faschistischen Wurzeln, die der Neorealismus auch hat. Will der Neorealismus politisch wirksam sein, muß er sich aktiv mit seinem eigenen Widerspruchspotential auseinandersetzen, sonst droht Gefahr. (Die sieht dann vielleicht so aus wie die kürzlich veröffentlichte dvd-Edition von „La rabbia“, 1963: die Pasolini-Hälfte ist der Film, die Guareschi-Hälfte ein Bonus…)
Gleich genial war’s, Rick Salomons 1 NIGHT IN PARIS (2004) aus der Sphäre des Heimischen – Internet, dvd – zu reißen und in einem Kino zu projezieren: so eine Banalität des Banalsten zu thematisieren, politisieren — das Kino als moralische Anstalt, durch den unfaßbar durchschnittlichen Sex zweier Menschen, die nur noch Darsteller eines – kann man überhaupt noch sagen: ihres? – Daseins sind, quasi Modelle, Bresson pervers.
Einer der unheimlichsten Reime des I mille occhi-Programms: Hilton, wie in Paris, aber auch in Mary, der von Pin-Up-Ikone Diana Dors verkörperten Todeskindidatin aus YIELD TO THE NIGHT; der auch „Eine zum Tode verurteilte kann nicht entfliehen, oder Der Wind weht wie er will“ hätte heißen können, oder, schlicht, „Kein Loch“ — die reverenziell paraphrasierten Filme von Bresson und Becker waren auch zu sehen, letzterer in einer extrem seltenen italienischen 16mm-Fassung, ersterer als Miszelle zu ersterem, von dvd im Nebensaal; Dors, dann, ähnelt in dem Film, speziell in den Rückblenden, ganz verblüffend Maria Callas — The Basis of Make-Up: Zeitgeist.
Womit man wieder beim Eröffnungsabend wäre. VANDAT PAA LANDET wurde – bislang – bloß digital – restauriert? rekonstruiert? – zugänglich gemacht, eine Einstellung fehlt auch noch, was durch eine entsprechende Schrifttafel platzhalternd vermerkt wird; die Normal-8-Werke Schröters wurden von digiBeta projeziert, was ihnen auf der großen Leinwand des Teatro Miela eine Sichtbarkeit, Gegenwart verlieh, die sie von ihrem Originalformat aus bloß im kleinsten Rahmen haben (in Oberhausen, vor einigen Jahren, konnte man sie noch einmal so sehen); BODIL JOENSEN ‚A SUMMERDAY‘ JULY 1970, schließlich, war der einzige Film des allein aus dvds bzw. Videos bestehenden Programmsegments Tabu (v.o. fuori formato), in dem der Idee des Verbotenen im Kino nachgegangen wurde — nun gut, eine weitere Ausnahme gab’s: der Überraschungsfilm, MAESTRO Nando Ciceros rabiat theoretisches Debüt. LO SCIPPO (1966) lief unter Einsatz der angeblich einzigen noch existierenden Kopie (danke, Sergio!).
Mit einem mal ging’s dann um Alles: wie sich die Verhältnisse verschieben, wenn das Private und das Öffentliche, das Vage und das Konkrete, das mehr und das weniger Sanktionierte die Räume tauschen, wenn die Materialien keine Wertsicherheiten mehr bieten – was spätestens dann der Fall ist, wenn Murnau & Flaherty, Bresson, und de Oliveira von dvd laufen, Lee Thompson, Tajiri & Ege, und Cicero aber als Film – oder? -, wenn plötzlich Arbeiten in einem öffentlichen Raum zu sehen sind, die man aus Rechtsgründen nicht zeigen darf und die doch X Leute auf Video bzw. dvd bzw. im Computer haben, dank gewisser Beziehungen – eines dieser Werke tauchte in einem anderen, völlig ‚legalen‘ Film unkreditiert auf, als Delirium -, wenn also alle Werte durch gezielte Vertauschungen in Frage gestellt werden, wenn Surrealismus zur materialistischen Dialektik wird. Das mag man vielleicht alles wissen, aber wo zeigt es sich in unserer Filmkultur ja? Und wenn es sich nie so zeigt, wissen’s denn auch wirklich alle – wichtiger noch: kümmert’s wen? Sind’s die eigenen Angelegenheiten?
Das alles im Gedenken an den Filmsammler und Altcinephil Piero Tortolina, der u.a. Giacomo Gentilomos exquisites, halblanges Debut ECCO LA RADIO! (1940) rettete.
– Olaf Möller –