Grazrapportnotizen
Anfang April bin ich ein paar Tage auf der Diagonale, Festival des Österreichischen Films, in Graz, etwas vorzustellen zu einem Projekt zu Filmvermittelnden Filmen. In Graz sind okaye Temperaturen. Vom Flughafen in Graz holt uns eine Fahrerin ab. Noch in Berlin reflektieren schöne Nachmittagssonnenstrahlen auf der regennassen Rollbahn und brechen sich auf den Unterseiten der Tragflächen eines anderen Flugzeugs. Im Nordosten des Flughafens die zwei Türme des türkischen Friedhofs. In der Reihe vor mir im Flugzeug sitzt M und liest einen augebleichten Ullsteinkrimi. Ich kann den Umschlag nicht erkennen. Ich lese in der Autobiographie von John Cook. Wir überfliegen Österreich und es herrschen Turbulenzen. Weil ich selten fliege, macht mich das nervös. Niemand sonst scheint nervös. S sitzt in der Reihe neben mir. Sie präpariert ihre Notizen. Sie sehen so ordentlich aus, dass es mir leid tut, sie aus ihrer Ordentlichkeit herauspräpariert zu sehen. Im Filmfestivalflugzeug sitzt auch R, ich hatte ihn vor 2 Jahren kennengelernt. Wir wohnen wieder im selben Hotel, das Mercure am Lendplatz. Im Zimmer wechsle ich den Pullover und gehe danach ins Kunsthaus. Keine 5 Minuten ist das entfernt. Das Wasser des Flusses zu meiner Linken rauscht. Wie heißt der Fluss? Kommt das Wasser aus hohen Gebirgen? Wie heißen diese Gebirge? Die Fahrerin hatte ich nach den Wahlplakaten an den Straßen gefragt und sie hatte mir von der Wahl erzählt. Eine Kommunistin sitzt jetzt im Stadtrat, aber der Landeshauptmann ist ÖVP. Von hinten im Wagen fragt M, ob SPÖ “Sozialistische Partei Österreichs” oder “Sozialdemokratische Partei Österreichs” heißt.
An einem Infostand im Kunsthaus treffe ich Christian Frosch. Zwei Filme von ihm laufen auf dem Festival. Ich verspreche ihm, mir den Spielfilm anzuschauen. Der Dokumentarfilm klingt aber auch interessant, stilisierte Porträts. Der Akkreditierungsschalter ist in einer anderen Ecke. M hat gerade seinen Ausweis abgeholt. Vor mir in der Schlange steht B. Sie hat mit M die Rappaport-Reihe gemacht. Da kommt O. Er trägt ein Karl-Marx-T-Shirt. B trägt auch ein Karl-Marx-T-Shirt. O lobt meine Abendsichtungspläne: Dietmar Brehm. Ich gehe in das Cafe im Kunsthaus und arbeite den Katalog durch. Neben mir sitzt Peter Kern und trinkt Tee. Ich schreibe mir ein paar Filme raus, die ich vor und nach den Filmvermittelnden Veranstaltungen anschauen könnte. Für mein Hotelzimmer muss ich einen Text in der nfk schreiben. Morgen früh einen kurzen und einen langen Rappaport. Morgen um 20:00 den Film von Christian Frosch. Und um 22:30 den John Cage von Michael Pilz. Im Cafe spricht mich K an, den ich aus Wien kenne. Er greift nach meinen Planungen, kommentiert sie, geht aber wieder nach einer Weile und ich arbeite den Rest des Katalogs durch, lese das Filmvermittlungsvoreditorial von der Diagonale Chefin Flos, das ÖFM-Programm-Editorial zur Filmvermittlung von Alexander Horwath. Ich lese ein bisschen im längeren Rappapport Text von Wurm und Möller. Dann mache ich mich auf zu den Dietmar Brehm Filmen. S kommt aber vorher mit dem Rad; sie holt ihre Akkreditierung; ich bewache ihr Rad. Ich gehe zu den Dietmar Brehm Filmen. Mir fallen tausend Sachen währenddessen ein. Metaphysische Pornographie. Brehm sagt vor den Filmen, seine Devise sei: Sehen oder Gehen und dass sich nach den Filmen ja noch ein Gespräch “abwickeln” werde. Aber nach den Filmen klatscht keiner. Zwei Klatscher kommen von mir, aber ich ersticke sie, als ich merke, dass ich der einzige bin. Dietmar Brehm wird von Daniela Sannwald zum Mikrophon vor der Bühne gebeten. Brehm nimmt das Mikro und sagt: “Der Vorhang ist gefallen und es gab keinen Applaus und daher gehe ich jetzt” und geht. Ich schäme mich, nicht weitergeklatscht zu haben. Für eine Gesprächsaufnahme aber ist es jetzt zu spät. Vorm Hotel Mercure esse ich am Nachtwürstelstand noch einen Käsekrainer, lasse mir am Foyer das Wireless Passwort geben und schreibe dies hier auf. 0:13. Morgen früh um 11:00 gibts den Rappaport im Augarten Kiz.
Die T-Shirts, die ich gestern nacheinander O, B und heute C tragen sah, zeigen doch nicht, wie ich gestern noch dachte, den deutschen Philosophen und Theoretiker des Kapitalismus, Karl Marx. Die T-Shirts zeigen den italienischen Schauspieler Bud Spencer. Es ist mit ihrem Tragen die Mitgliedschaft in der O’schen Kino-Geheimgesellschaft angezeigt, den Ferronista. C brachte am Morgen vor dem prima Rappaportfilm, die originellste Bemerkung des Tages. Er habe gehört, sagte er, dass ich jetzt ins Filmvermittlungsstraflager versetzt sei. „Gulag Filmvermittlung“, retournierte ich, was für mich die zweitschönste Formulierung des Tages war. Wie auch sonst: eine abgeleitete.
Beim Frühstück im Hotel Mercure saßen am Nebentisch ein Osteuropäer und ein Österreicher. Der Osteuropäer ist entweder Filmkritiker oder Festivalmacher, der Österreicher machte deutlich, dass er Filmemacher ist. Er erzählte von seinen Projekten, von einem Porträtfilm nach dem nächsten. Ich war zu früh losgegangen zum Rappaportfilm. Das Augarten Kino ist das weitentfernteste der Festivalkinos hier, ich erinnerte mich daran am Morgen, aber nicht mehr, wie weit es in Minuten entfernt ist. So war ich schon kurz nach 10 am Kino und der Film erst um 11 programmiert. Nach und nach kamen aber Freunde, du bist niemals ganz allein. Der Sohn von Rappaport ist im Kino, er begrüßt mich herzlich, ich lasse mir nichts anmerken bis er merkt, dass ich nicht der bin, für den er mich hält. Mein Russisch… Möller und Wurm machen eine schöne 20-Minuten-Einführung in die Filme. Sie fallen sich gegenseitig ins Wort, es ist ein schönes Wissen, was sich da überschlägt zu einem mäandernden Dialog. H sitzt neben mir und klatscht als erster laut und hört als letzer, immer noch laut, auf. So wird das mit dem Klatschen gemacht. Der Rappaportfilm ist ein Hybrid, sehr schön.
Ich gehe mit S dem Restauranttip von C nach. Das Ginko in der Nähe des Jakomiplatzes. Ausschließlich vegetarisches oder sogar veganes Essen, das man nach Gewicht bezahlt. Weil V sich die Mühe mit dem Cafehinweis machte, gehen wir dann in das hingewiesene Cafe. Es ist gleich neben dem Kunsthaus. Auf der Straße vor dem reißenden Fluss sitzen wir, werden Zeugen eines Beinaheauffahrunfalls und betrachten mit S’s Computer, der hier vor dem Cafe kabellos mit den Netzen der Welt verbunden ist, die neue Website. Sehr schön. Die Korrekturen, die später an ihr vorgenommen werden, bekommen wir gar nicht mit.
Im Kunsthaus wollen wir einen Technikcheck machen lassen. Fast kommt es nicht dazu, weil nach und nach D und L uns begegnen; später setzen wir uns, das Panel fängt gleich an, im Cafe neben T und B. D zieht aus seiner Tasche die neue kolik.film. In der neuen kolik.film sind erstmalig Abbildungen den Texten zugeordnet und nicht in den Mittelteil des Heftes verbannt.
Dann geht das Panel los. Birgit Flos, deren Namen mit scharfem S ausgesprochen wird, plädiert für Leidenschaft. Sie sagt das oft. Es werden dann viele medienpädagogische Standpunkte vorgetragen. Ein durchgehender Streit auf dem Podium und mit dem Publikum entfacht am Semiotik(kritik) Dauerbrenner: Ist denn der Film nun ein Text oder nicht? Peter Kern sagt fuchtelnd, dass die Fantasie in den Beiträgen fehle, also: nicht genannt wurde, verlässt dann als Beleidigter und Erniedrigter den Zuschauerraum (aus dem er sprach) und ist fürderhin Referenz jedes zweiten Beitrags von Podium und Publikum. „Künstler wie Peter Kern…“, „man soll ja nicht über Abwesende sprechen, aber was der Peter Kern da…“, und so weiter. Peter Menasse, Chronist des Panels, fordert die Beteiligung der Künstler am Filmvermittelnden ein; manch anderer meint dagegen, Künstler seien nicht gut im Erklären. Die Diskussion versandet im heimisch gehegt Diskutablem. Vor der Tür treffe ich auf C. Ihr und ihren Filmen ist am Samstagnachmittag ein Special gewidmet. Sie wird es mir vielleicht einst übelgenommen haben, dass ich nicht gekommen bin. S geht mit T essen, ich gehe zum Film von Christian Frosch. Der Film lief in Toronto und hat daher hier Europapremiere. Er ist überkonstruiert. Vorm Kino habe ich ein wenig Zeit, mit H zu sprechen.
Ich bin zu müde geworden. Es ist nach halb Zwei in der Nacht und ich komme den langen Weg vom Geisberg Kino zu Fuß zum Hotel. Auf der Grazkarte sieht es nicht so weit aus. Ich vermute, dass die Karten, die hier verteilt werden, nicht maßstabgetreu sind, die touristisch erschließbare Kompaktheit der Stadt zu suggerieren. Im Geisbergkino war der Film Cage von Michael Pilz gezeigt worden, 140 Minuten, Österreich 1999. Proben zu einer Tanzperformance nach Musik von Cage und anderen Heroen der Moderne. Während der 4 Wochen Improvisation stirbt Cage in New York. Dem Film ist ein Vorwort beigegeben, auf einer Schrifttafeln, eine komplizierte Sentenz, die auf Laotse zurückgeht und von Octavio Paz variiert wird. Es gehe darum, in den Käfig des Vogels einzudringen, ohne ihn zum Singen zu bringen, und dabei aber auch um Worte, Poesie, Stille, Existenz, Sein…, dieser spezielle Mix aus Fernöstlichem und Moderne. Dafür wohl stehen auch Pilz Arbeiten, von denen ich wenige kenne. Pilz sagt ein paar Worte vor dem Film, ein Armani ähnlicher Anzug, pfirsichfarbenes T-Shirt, rote Sportschuhe, grauweiße lange Haare, die bis zur Schulter fallen, voller Spannkraft. Der Film besitzt ein hohes Maß an Konzentration, Pilz hat ihn allein mit den 12 oder 14 Tänzern und dem Choreographen Prantl aufgenommen. Die Improvisation handelt von den Wirkungen der Freiheit. Schön, dass das aber nie zur Metapher gerinnt in den Bildern, nur zwischendurch beim Betrachten schlägt man solch große Begriffe an. Dennoch nickte ich zwischendurch ein. Das Zwischendurcheinnicken beim Schauen von Filmen passiert mir in den letzten Jahren immer öfter.
Ich stehe am Morgen um 8:00 auf, was sehr früh für mich ist und ungewöhnlich. Der zweite Tag der Plattform zu Medienbildung und Filmvermittlung der Diagonale 08. S und ich müssen heute vortragen.
Gestern, in der kalten Wohnung angekommen, ließen sich die Grazeindrücke nicht mehr weiterschreiben wegen der aus den erschöpfenden Graztagen induzierten Müdigkeit. Mir wird trotz all der Jahre des Nachdenkens und Mitmachens nicht klarer, wie sich als Michael einerseits, als Entuziazt anderseits gegen oder für Strukturen zu verhalten wäre, welche Haltung ich und der Entuziazt in mir da einnehmen mögen, oder: Wie auch immer zum Institutionalisierten man sich verhalten kann. Einerseits sehe ich den Überschuss, den die Institution zu erzeugen in der Lage ist, anderseits sehe ich die Tendenz des Strukturgefäss‘, zum Grab der Idee zu werden. Weil diese Fragen sich ständig ineinander drehen, führen sie als zu beantwortende nicht wirklich, tatsächlich zu einem Außen, zu produktiver Reibung zu mir, sondern zum verhaltenem Trotz. Die Notizen, die ich nach dem Donnerstag in Graz in mein Notizbuch eintrage, werden immer spärlicher, weil ich es nicht mehr schaffe die Leute und die Situationen und deren Sprechen, Blicken, Aussehen und Gestikulieren aus meinen Kopf vor meine Augen zu bringen. Die Leute und die Situationen verwischen sich. Sie werden zum Feld, in dem ich mich nicht zu bewegen weiß. Die Institutionen und die Strukturen gehen quer durch die Leute und ihre Sprachen, die ja zugleich auch Eigensprachen sind, verheddern sich mit denen, die durch sie hindurchsprechen. Ich stehe so wie ein Ochs vor den Leuten. Beim Tagungsgraz begegnen mir kaum mehr Spuren der Leute. Worte. Beim Wort „abholen“ (in: „Man muss die Kinder dort abholen, wo sie sind“) denke ich daran, wie in Deutschland Talkshows und Soaps verteidigt werden (die Quote; das, was die Leute sehen wollen). Beim Wort „abholen“ denke ich an den Staat, der Leute aus ihren Wohnungen zur Deportation holt. Ich denke beim Wort „abholen“ in keinem Moment an die Überwindung der hierarchischen Didaktik, bei der man sich statt „von oben herab“ auf die Erfahrungsebene der Kinder begibt. Beim Wort „abholen“ denke ich an die „Fälscherwoche“, die bald in Österreich stattfindet. Während der „Fälscherwoche“ wird der österreichische Film DIE FÄLSCHER in allen Kinos des Landes gezeigt und die Kinder in den Schulen werden aus den Schulen abgeholt, den Film in den Kinos zu sehen und Zeitzeugen werden herangekarrt, mit den Kindern in den Kinos über den Film DIE FÄLSCHER und die Zeit, von der er erzählt, zu sprechen. Zehntausende Kinder, Experten, Zeitzeugen, moderierte Gespräche, eine große, konzertierte Parallelaktion wie im Mann ohne Eigenschaften. Gegen Abholen kann man sich nicht wehren. Man wird abgeholt. Man hat keine Wahl, ob man will oder nicht wird man dort abgeholt, wo man sich zu befinden hat. Employabilität. Pädagogik-Konzept, das die überholten Ideen der Input-Steuerung überwindet und sie zur zeitgenmässen Outputsteuerung wandelt. Davor, denke ich, muss meine Art, etwas aufzuschreiben, schließlich kapitulieren.