Donnerstag, 17.04.2008

Zu OUT 1. NOLI ME TANGERE

Von Ekkehard Knörer

Pierre: Der Stein, auf den diese Kirche gebaut ist. Dieser Film. Diese Verschwörung. Pierre (N.N.). Pierre tritt nicht auf, tritt nicht in Erscheinung und weil dieser Anfangs- und Schlussstein, dies Alpha und Omega des Nichtganzdreizehnstundenfilms OUT 1. NOLI ME TANGERE nur in Behauptungen, Erinnerungen und Andeutungen existiert, steht nichts fest. Darum ist OUT 1 eine komplex verschachtelte Konstruktion, ein luftiger Bau, eine Gestalt im beständigen Wandel, ein Ding aus konkreter Materie und abstraktem Bauplan, ein Wesen aus Luft und Stein: auf dem Weg zu sich selbst.

Die Gruppe von Lili: Vom Band die Trommelmusik. Man übt das Gegeneinanderprallen. Man kommentiert, was man von dem hält, was die anderen tun. Man liegt auf dem Rücken, biegt die Beine nach hinten. Man marschiert im Kreis, rhythmisch. Man spricht im hohen Ton, künstlich. Man probt ein Stück, das Buch in der Hand. Man spricht, man variiert, man setzt neu an, man setzt sich auf die Rampe, die die Mitte des Raumes füllt. Marie strickt, die Wolle ist gelb. Einmal legt sie den Faden auf den Boden der Probebühne, setzt eine Grenze; gleich darauf wird der Faden wieder entfernt. Das ist der Setzungsvektor des Films. Etwas behaupten, etwas in die Welt setzen, eine Linie ziehen, eine Verschwörung erfinden. Dann weitersehen. Alles zurücknehmen vielleicht, oder einen Teil. Oder auf dem Gesetzen beharren, weiter behaupten, weiter setzen, etwas sich verfestigen lassen.

Die Gruppe von Thomas: Im Anfang ist nicht das Wort, sondern der Körper. Ein Plural der Körper, in Bewegung. Sind die Körper der Gruppe im Bezug auf sich selbst und andere Körper. Sind sich verkörpernde, sich entkörperte Körper, die nicht wissen, was sie tun, sondern im Tun erst ein Wissen suchen über sich selbst und über ihre Verhältnisse zueinander. Das ist der Improvisationsvektor des Films. Es gab dafür kein Drehbuch. Es gibt nur den Versuch, zurückzufinden hinter „sich“, hinter das „Ich“, das man ist, um aus dem, was man hat eher als was man ist, etwas zu formen. Was man hat, sind Impulse, die man findet, indem man sich vergisst. Es gibt ein Während und ein Hinterher und den Übergang. Das Vorher sieht man nie. Das Während ist die Entwicklung, ein Hineinfinden. Der Übergang ist ein Zurückfinden in den, der „Ich“ ist. Und im Hinterher findet man die Worte, mit denen man „sich“ erklärt. Sich den anderen erklärt. Sich erklärt, was einem widerfahren ist. Auch sich sich erklärt.

Drinnen und Draußen. Drinnen ist der (bedrohte) Zusammenhalt, draußen lauert die Einsamkeit. Drinnenfiguren und Draußenfiguren. Drinnenfiguren, die zu Draußenfiguren werden. Werden müssen. Von der Stadt ans Meer. Vom Probenraum ins Geisterhaus. Das Freie, das Offene, die Grenze zwischen Land und Meer, der Strand, an dem der Film (fast) sein letztes Bild findet. Die Draußenfiguren: Colin, der taubstumm tut oder vielleicht gar nicht weiß, dass er nicht taubstumm ist, und in Pariser Cafés die Leute mit Mundharmonika-Misstönen zu Spenden nötigt. Frédérique, die in einer Kammer über den Dächern lebt, durch die Straßen zieht und Menschen begegnet, die sie bestiehlt und dann wieder aus dem Blick verliert. Unbekannte und Bekannte. Honey Moon, der schwul ist und einen Hund hat, aber der ist nicht immer dabei. Und dann ein gewalttätiger Typ, dem Frédérique das Geld stiehlt, der sie zusammenschlägt, aber nicht deshalb.

Die Draußenfiguren kommen der Gruppe der Dreizehn auf die Spur. Der Existenzform ist – und bleibt, auch wenn sie klarer wird – unklar. Am Ende ist die Spur sogar die eigentliche Existenzform, wer weiß. Es gibt: Briefe, Gespräche, Kontakte. Nostalgie bzw. den Vorwurf der Nostalgie. Es gibt, natürlich, nichts erklärend: Balzac, Die Geschichte der Dreizehn, Auftritt Eric Rohmer mit angeklebtem Bart. Er sieht aus wie einer, der einen Professor nur spielt und ihm gegenüber sitzt einer, der aussieht wie ein Irrer, der für den Moment so tut, als sei er nicht irre. Pierre als Gründerfigur entzieht sich. Man darf spekulieren. Pierre macht Colin zum Boten, der erst widerwillig ist, dann immer gläubiger wird und sein Botensein am Ende widerruft. Ein merkwürdiger Engel mit dem Gesicht von Jean-Pierre Leaud. Der sich spät umgekleidet von dunkel zu hell. Sonst wird sich wenig umgekleidet; meist: von der Straßenkleidung in die Probenkleidung. Kleider machen Identitäten, deren Veränderungen sind an den Kleidern nicht zu erkennen. Später dann: Michael Lonsdale im Schafspelz.

Gruppenzusammenhänge. Nichts steht fest. Die Gruppe von Thomas und die Gruppe von Lili sind entstanden durch Spaltung. Es wird Veränderungen geben. Mitglieder verschwinden, andere kommen hinzu. Die eine Gruppe, vom Zusammenwirken zwischen Glück im Spiel und einem Eindringling zerstört, zerstreut sich. Von der Drinnengruppe zur Draußenvereinzelung. Seltsames Theater, zwischen Suche und Spiel, in den Straßen der Stadt. Einer verhält sich, als spielte er weiter. Man läuft sich über den Weg und verfehlt sich dabei. Straßentheater, Metatheater, Posttheater. Der Stadtplan weist schon voraus auf PONT DU NORD. Ein Spiel, aus dem Ernst wird, jedenfalls auf Umwegen. Frédérique, die Renaud findet, den die anderen suchen. Die Spiel-Ernst-Transsubstantiation: Wie aus der Waffe, die ein Spielzeug scheint, eine Waffe wird, die – im Gegenschuss – den Tod bringt.

Der Setzungsvektor, der Improvisationsvektor. Und der Umschlagsvektor. Die ontische Kippe als Grundsachverhalt. Verschwörung ist nur ein Wort. Und doch existiert sie. Aus der Luft Gegriffenes, das sich verfestigt. Der Verschwörungszusammenhang als Allegorie des narrativen Zusammenhangs überhaupt. Eine Allegorie, die hast-du-nicht-gesehen zum Faktum wird, auflöst, in unklare Zustände begibt. Festes Auftreten auf doppeltem Boden. Es wird sich mit großer Selbstverständlichkeit zwischen der Sachebene und der Metaebene hin- und herbewegt, ohne dass jemand dabei einen Unterschied macht. Man setzt etwas und dann ist es: im Handumdrehn. Man behauptet etwas und es wird wahr: die reine Zauberei.

Aber eigentlich – eigentlich, eigentlich – sind die Luftwesen Körperwesen. Zwischen denen sich schwerelos, unbemerkt fast, atemberaubend, sähe man hin, Pierre-William Glenns Kamera bewegt. Die Körperwesen berühren sich, streicheln sich, sehnen sich, prallen aufeinander, umschleichen sich. Wollen sich und fliehen sich. Schlagen sich, umarmen sich, verbinden sich, vereinzeln sich. Spiegel sind im Spiel, die Körper trennen und so verdoppeln und vervielfachen, dass sie sich nicht mehr berühren lassen. Nebeneinander im Bett gegen Ende Emilie und Sarah. Erst zusammen im Spiegel im Bild. Dann herausvereinzelt: Emilie. Die Worte, die sich wiederholen, die ins Leere gehen in nächster Nähe. Als liefe alles aufs Alleinsein hinaus. Auf Thomas im Schafspelz am Strand. Auf Colin, der endet, wie er begann. Auf Frédérique tot auf dem Dach. Die Gruppen zerstreut, die Hoffnungen verflogen. Am Ende: ein Abgesang?

Und doch, letztes Bild: Marie. Eine Göttin aus Gold. Etwas wie ein neuer Anfang.

P.S.: Zu erwähnen vergessen: Die Komik. Das merkwürdige Medium, zu dem die Zeit wird beim Zusehen. Die Wahrzeichen von Paris vor dem Fenster, beim Blick vom Dach. Überhaupt: Die Oben/Unten-Differenz. Die Zeitschriftengründung. Die Marmelade/Einschlafgruppe in der Hippieboutique. Einmal wie Geister weiße Figuren im Dunkeln am Strand von Obade. Die Porno-Amerikaner. Noch mehr Spiegel (zum Beispiel der unendliche Spiegel). Frédériques Messer. Noch ein Hund. Der Überläufer Quentin. Der Slapstick-Sturz von Arsenal/Nicolas/Papa/Theo. Der Kurzauftritt von Miss Blandish. Der Ethnologe, von Michel Delahaye gespielt. Die Anwältin. Der Schachspieler. Das körnige 16mm-Bild. Zersetzungsspuren immer wieder im Zelluloidmaterial. Die Erinnerung an die ersten sieben Stunden, die ich vor rund zehn Jahren schon einmal sah. Der Wunsch, die Spectre-Fassung zu sehen. Das Staunen darüber, dass ein solcher Film möglich war.

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