Errata
Wer den Text über die Filme der DZIGA-VERTOV-Gruppe in einer der letzten Ausgaben der Zeitschrift „film-dienst“ gelesen hat, wird sich die Sache folgendermaßen vorstellen:
Anfang 1968 zieht Jean-Luc Godard in die Schweiz. *** Als es in Paris brenzlig wird – „Anzeichen für eine Entladung des sozialen und intellektuellen Unmuts“, gemeint ist wohl das Frühjahr 1968 – reist Godard nach London, um die Rolling Stones bei den Proben im Aufnahmestudio aufzunehmen. *** Dann ist das Festival von Cannes. *** Godard gründet die DZIGA-VERTOV-Gruppe und macht von nun an Filme unter diesem Namen. *** Was die Autorschaft dieser Filme angeht, so ist es unklar, wer außer Godard an ihnen beteiligt war. *** Nein, „[b]ei genauerem Hinsehen“ merkt man, dass die DZIGA-VERTOV-Gruppe „im Wesentlichen aus Jean-Luc Godard und seiner Lebensgefährtin Anne-Marie Miéville besteht“. *** Der Film PRAVDA von 1969 ist zu kritisieren, weil Godard das in der CSSR aufgenommene Material im Schneideraum „von der komfortablen Schweiz“ aus montiert. *** 1974 dreht Godard das „Meisterwerk“ TOUT VA BIEN.
Undsoweiter.
Möglicherweise hat Claus Löser (dessen Arbeit ich gemeinhin schätze, darum geht es nicht) spektakuläre neue Dokumente gefunden, die all das belegen. Wenn ja – sein Text erwähnt allerdings nichts Derartiges –, dann ziehe ich meinen Beitrag zurück und freue mich darauf, seine Recherchefunde kennenzulernen. Wahrscheinlicher aber scheint mir, dass das oben Aufgezählte zur folgenden Gegendarstellung Anlass gibt:
Keineswegs zieht Godard 1968 in die Schweiz (das tut er 1977 oder 1978). Zwischen 1968 und 1972 ist er fast ununterbrochen unterwegs in Europa, dem Nahen Osten und den USA. 1972 verlegt er seinen Wohnort nach Grenoble. *** Die Rolling Stones filmt Godard im Juli/August 1968, zwei Monate nach dem Festival von Cannes. In welchem Bezug die Reise nach London zu den Anzeichen für eine Entladung des sozialen und intellektuellen Unmuts stehen soll, ist mir nicht klar. Ebensowenig weiß ich, für wen diese Reise „überraschend“ war. Für Godard? Für seine Frau Anne Wiazemsky? Für Claus Löser? *** Die Gründung der DZIGA VERTOV-Gruppe, wenn man denn von einer Gründung sprechen will, findet irgendwann im Laufe des Jahres 1969 statt; einige frühere Filme wurden im Nachhinein „adoptiert“; ohnehin ist „Autorschaft“ in diesem Fall eine Frage der Zuschreibung, denn einen Vor- oder Abspann, der die Gruppe nennt, gibt es nicht. (Es gibt allerdings eine sehr umfassende und verlässliche Filmographie von David Faroult.) *** Man weiß sehr wohl (und kann das schon im Reihe Hanser-Band von 1979 nachlesen), wer zur DZIGA VERTOV-Gruppe gehörte (federführend neben Godard zunächst Jean-Henri Roger, dann, ab VENT D’EST Jean-Pierre Gorin). *** Ich wüsste nicht, wo man „genauer hinsehen“ müsste, um zu erkennen, dass Anne-Marie Miéville, mit der Godard ab dem nicht realisierten Projekt MOI JE (1973) zusammenarbeitet, an den Filmen der DZIGA VERTOV-Gruppe maßgeblich beteiligt gewesen wäre. Im Gegenteil: Man müsste an allen denkbaren Stellen besonders ungenau hinsehen, um auf diesen Gedanken zu kommen. *** TOUT VA BIEN wurde im Januar / Februar 1972 gedreht und hatte Anfang April des gleichen Jahres seine Premiere.
Undsofort.
Ich will nicht auf die sprachlichen Merkwürdigkeiten eines Texts eingehen, der damit beginnt, dass jemand in die „’innere Emigration’ in der Schweiz“ geht (was nun: geht er in die innere Emigration oder geht er in die Schweiz?) und damit einen öffentlichen Rückzug einleitet, den ich mir allenfalls als einen Rückzug aus der Öffentlichkeit vorstellen kann. Ich will eigentlich überhaupt nicht über diesen Text sprechen, weil alles, was man über ihn sagt, den Beigeschmack von Herablassung und – weil man es besser weiß – Besserwisserei haben muss. Andererseits wäre es ein Missverständnis, den Hinweis auf Selbstverständlichkeiten, die fern von jedem Geheimwissen liegen, sondern immer wieder in Texten über Godard zu lesen waren, als Arroganz auszulegen. Was mich ratlos macht, ist eher die Frage, wie ein Text zum Abdruck kommt, der seinen Gegenstand so wenig ernst nimmt, aber aus haltlosen Fehlinformationen Spekulationen ableitet, die im Tonfall des selbstsicheren Urteils daherkommen.
Ein guter Freund, dem ich von meiner Mut- und Ratlosigkeit berichtete, wie (und ob überhaupt) auf das Falsche richtig zu reagieren sei, sagte mir, ich solle es jedenfalls nicht einfach ignorieren; sonst strenge sich doch bald niemand mehr an.
[Die Filme des GROUPE DZIGA VERTOV sind noch bis zum 24.7. im Berliner arsenal zu sehen, darunter der burleske VLADIMIR ET ROSA, der lehrstückhafte TOUT VA BIEN, der analytische LETTER TO JANE und der hochreflexive ICI ET AILLEURS. Wer nicht in Berlin wohnt, dafür aber Französisch oder Spanisch spricht, hat seit kurzem die Möglichkeit, die Filme der DZIGA VERTOV-Gruppe – incl. dem knapp einminütigen Werbeclip für das After Shave „Schick“ – auf DVD zu kaufen.]
17.07.2008 10:09
Man wartet gerade aufgrund solcher Vorkommnisse- und da die Biographie von Colin McCabe eher in die Abteilung „Fanliteratur“ gehört- mit Bedenken auf Richard Brody’s „Everything Is Cinema: The Working Life of Jean-Luc Godard“:
http://www.powells.com/biblio/1-9780805068863-0
Eventuell wird sich- so es den Anspruch des Definitiven auch nur annähernd zu erfüllen vermag- dann so etwas nicht mehr ereignen können… .
Christopher P.
17.07.2008 14:46
Über Brodys Buch, das jetzt offenbar draußen ist, schreibt die NYT hier; allerdings mag Stephanie Zacharek Godards Filme nach 67 nicht.
Ich finde den begleitend zur Pompidou-Ausstellung 2006 erschienenen Band „Documents“ (hg. von Brenez, Faroult, Temple, Williams und Witt) sehr instruktiv, weil er so viel neues Material zur Verfügung stellt. Anhand dessen, was Faroult dort und andernorts über die Filme der DZIGA VERTOV-Gruppe schreibt, kann man diese Phase sehr viel genauer einschätzen als es zuvor möglich war.