Freitag, 15.08.2008

Ursprung der Musik

Nach dem Anschauen und -hören von LA FRANCE von Serge Bozon – zu Tränen gerührt – Erinnerung an eine Stelle bei Adorno:

„Wie das Ende, so greift der Ursprung der Musik übers Reich der Intentionen, das von Sinn und Subjektivität hinaus. Er ist gestischer Art und nah verwandt dem des Weinens. Es ist die Geste des Lösens. Die Spannung der Gesichtsmuskulatur gibt nach, jene Spannung, welche das Antlitz, indem sie es in Aktion auf die Umwelt richtet, von dieser zugleich absperrt. Musik und Weinen öffnen die Lippen und geben den angehaltenen Menschen los. Die Sentimentalität der unteren Musik erinnert in verzerrter Gestalt, was die obere Musik in der wahren am Rande des Wahnsinns gerade eben zu entwerfen vermag: Versöhnung. Der Mensch, der sich verströmen lässt im Weinen und einer Musik, die in nichts mehr ihm gleich ist, lässt zugleich den Strom dessen in sich zurückfluten, was nicht er selber ist und was hinter dem Damm der Dingwelt gestaut war. Als Weinender wie als Singender geht er in die entfremdete Wirklichkeit ein. „Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder“ – danach verhält sich die Musik. So hat die Erde Eurydiken wieder. Die Geste der Zurückkehrenden, nicht das Gefühl des Wartenden beschreibt den Ausdruck aller Musik und wäre es auch in der todeswürdigen Welt.“

Adorno: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt/M 1978, S. 122

2 Kommentare zu “Ursprung der Musik”

  1. Ekkehard Knoerer schreibt:

    Sehr richtig beobachtet hat Adorno, wie mir jetzt schlagartig klar wird, auch, dass LA FRANCE eine Orpheus-und-Eurydike-Geschichte ist. Wenn auch gut ausgehend und, wie alles in diesem Film, geschlechterverkehrt und sonstwie verdreht.

  2. Volker Pantenburg schreibt:

    Ich bin nicht sicher, ob es hierher gehört, sprich: ob Robert Walsers Prosa aus der Berner Zeit etwas mit Serge Bozons Film zu tun hat (aber jetzt, wo ich die Sätze lese und mich an die Bilder und die Musik des Films erinnere, denke ich: doch, ja.) In „Aus dem Leben eines Schriftstellers“ schreibt Walser über die Musik: „Sie nimmt von unseren Verschlossenheiten gleichsam einen Deckel weg, ähnlich, wie es der Arzt bei einem Patienten tut, von dessen Wunde er den Verband entfernt, um ihren Zustand zu untersuchen. Wund sind wir ja in gewissem Sinne alle, nur gewöhnen wir uns an, über diese zu zarte Tatsache, die vom Alltag nicht berücksichtigt werden kann, und die darum nicht vorhanden sein darf, hinwegzugehen.“ (in: Zarte Zeilen. Prosa aus der Berner Zeit 1926, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986, S. 8.)

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