Donnerstag, 14.08.2008

“Arbeit mit den Geistern”

Ein Buch aus Wien würdigt Josef von Sternbergs verschollenen Film „The Case of Lena Smith“.

Von WERNER DÜTSCH

Sternbergs letzter von acht Stummfilmen kommt 1929 und 1930 in den USA, Europa und Asien (oder nur in Japan?) in die Kinos. Zu spät – der Tonfilm dominiert bereits – um jene Beachtung zu finden, die ihm damals wenige (aufmerksame) Beobachter gewünscht haben. Nach 1945 ist der Film nicht marktfähig und berühmt genug, die Umrüstung von Nitrosefilm auf Acetatfilm zu überstehen. Die Paramount vernichtet das verbliebene Material. 2003 findet der japanische Filmhistoriker Komatsu Hiroshi ein einhundert Meter langes Fragment des Films bei einem Antiquitätenhändler in Dalian, dem vormaligen Port Arthur. Die erhaltenen vier Minuten, eine Szene im Wiener Prater, werden zur Ur-Zelle dieses wunderbaren Buches, das Beschwörung, Evokation, Rekonstruktion, Klage über einen Verlust und Einsicht in das Werk Sternbergs ist.

Um es gleich festzuhalten: Wir brauchen Bücher über drohende und tatsächliche Verluste, über abwesende Dinge. Es sind oft genug die notwendigen Dokumente unverzeihlicher Untaten, und im allerschönsten Fall werden solche Bücher damit belohnt, dass ein Objekt der Begierde wieder auftaucht. Von den dreißig Filmen in John Careys Buch ‘Lost Films’ aus dem Jahre 1970 sind inzwischen zehn Filme zu Teilen oder gar vollständig wieder aufgetaucht; zweifellos hat das Buch die vermeintlich so ausichtslose Suche befördert.
Des Rezensenten eigenes Interesse am deutschen Stummfilm wurde über viele Jahre, in denen die Filme gar nicht oder nur höchst unzureichend zugänglich waren, mit einem Buch wach gehalten: Lotte Eisners ‘Dämonische Leinwand’. Uns interessieren heute Georges Sadouls Filmkritiken nicht mehr sonderlich, aber höchst interessant sind seine Texte zum Kino vor 1914 geblieben, einem Kino, dem immer noch ein viel zu geringes Interesse gilt, das praktisch unsichtbar geworden ist.

Zwei Autoren, Herausgeber und Kuratoren haben das Buch gemeinsam ediert: Alexander Horwath und Michael Omasta; der eine Direktor in einem der besten Freudenhäuser Europas, dem Österreichischen Filmmusem, der andere Filmredakteur des ‘Falter’. Zusammengetragen und in eine sehr brauchbare Ordnung gebracht wurde eine unglaubliche Fülle von Material: Verschiedene Versionen der zugrunde liegenden Story von Samuel Ornitz, eine ’Sequence Synopsis’, Auszüge aus dem Drehbuch von Jules Furthman, eine sehr detaillierte, Einstellung für Einstellung nachvollziehende Beschreibung des Films (die 1929 in einer japanischen Filmzeitschrift erschienen ist!); die vollständig erhaltenen österreichischen Zwischentitel, sämtliche auf der deutschen Zensurkarte festgehaltenen deutschen Zwischentitel (die österreichisch-deutsche Differenz der Titel verdient sehr wohl, festgehalten zu werden); zahlreiche Fotos, 30 Photogramme aus den erhaltenen einhundert Metern der Sequenz im Prater, Kalkulationen der Produktionskosten, Zeichnungen des Ausstatters Hans Dreier; schließlich Zitate aus literarischen und journalistischen Texten und aus Sternbergs Autobiographie; Texte von Filmhistorikern zur zeitgenössischen Rezeption und vollständig zitierte amerikanische Kritiken.
Es gibt sogar noch eine Zugabe: Alles Wissenwerte zu ‘Daughters of Vienna’, jenem 1922 unter Sternbergs Namen erschienen Roman, über den man immer schon Genaueres wissen wollte, sich aber keine Mühe gegeben hat, es herauszufinden.

Auffällig auf den Photogrammen der Prater-Sequenz und auf vielen Szenenfotos (von denen man, Vergleiche ergeben es, annehmen darf, dass sie den originalen Bildern des Films sehr nahe kommen) ist der Gebrauch von Weiß, genauer, der Abstufungen und Varianten zwischen Weiß und Grau, einem hellen Grau. Das ist aus Sternbergs Dietrich-Filmen hinlänglich bekannt, am auffalligsten vielleicht in ‘Shanghai Express’. („Wir liehen uns von der Santa Fe-Bahn einen Zug, lackierten ihn weiss …“) Es dürfte richtig sein, bei Sternberg in Umkehrung der üblichen Reihenfolge von Weiß-Schwarz-Filmen zu sprechen.
Die Weiß-Vermutung anhand der reproduzierten Fotos findet ihre Bestätigung bei Curtis Harrington, der ‘Lena Smith’ wohl als letzter gesehen hat und darüber 1949 schreibt: „For the first time von Sternberg painted a dark set white for photographic purposes. Among many beautiful sequences in the film, Lena’s escape through the misty corn-fields stood out as especially beautiful study in light and shade.“
Das Spiel mit dem Weiß, das Ausschöpfen der Varianten zwischen Weiß und Grau, das ist mit der Empfindlichkeit des damals bereits allgemein eingeführten panchromatischen Filmaterials möglich geworden – im Gegensatz zum orthochromatischen Filmmaterial. Andere, die von den neuen Weiß-Möglichkeiten exzessiven Gebrauch machten: die Astaire-Roger-Musicals der RKO, die fröhlichen Geometrien des Busby Berkeley, nicht zu vergessen die besondere Liebe des Kinos zum Schnee, über die Bazin so schön geschrieben hat.

Die so vielfältig gestaffelten Bewegungen in Sternbergs Bildern, in diesem Buch lassen sie sich den Photogrammen der Prater-Sequenz und den so sorgfältigen Beschreibungen aus dem Jahre 1929 ablesen: „A woman hanging up clothes. Her shadow is visible on a sheet hung up for dying. She removes the sheet. Another woman hanging up the washing in the background.“ Curtis Harringtons Erinnerung 2007: „…gibt es ein Bild, an das ich mich mehr erinnere als an alle anderen: die Szene mit den jungen Wäscherinnen – die Bettlaken, die in der Sonne hängen, und die Schatten der Frauen, die sich dahinter bewegen.“ Wir wissen, bis zu welcher Verwirrung Sternberg diese Effekte treiben konnte: Die weiß gewandeten Betenden in einer sonnendurchfluteten Gasse in ‘Morocco’, auf die – und auf die sich bewegenden Betenden – ein die Gasse überspannendes Holzgitter Schatten wirft. Bewegen sich da die Betenden, die Schatten, das Gitter? „Jede Person löst sich auf und wächst wie ein Schatten…“ heisst es 1930 in einer französischen Kritik zu ‘Lena Smith’.

In den Filmen der Großen gibt es jene Szenen, in denen sich das ganze Werk wie in einem Kristall niedergeschlagen hat. Man möchte die erhalten gebliebene Prater-Szene für ein solches Juwel halten: ein karnevalesker Trubel aus Licht und Bewegung, der die Heldin ins Unglück stürzen wird. Dem Prater muss Sternbergs besondere Aufmerksamkeit gegolten haben: In der Kalkulation sind die Kosten der Prater-Szenen, also für technical salaries, set construction und set dressing die größten Positionen für die Ausstattung eines der Schauplätze. Dem Verhältnis des geborenen Wieners Sternberg zu ‘seiner’ Stadt gilt denn auch eine besondere Aufmerksamkeit des Buches. Lena Smith ist keine Wienerin. In der österreichischen Fassung des Films heißt sie Eleonora Anna Maria Theresa Szemesegyeri. Sie kommt vom Lande, aus Ungarn, nach Wien, direkt in den Prater und die Polizei wird ihr den Namen Lena Schmidt geben.

Sternberg selbst konnte sich den Film der Zukunft nur als etwas völlig Künstliches, Synthetisches vorstellen. Er sollte sich irren, der Fetisch der Authentizität klebt noch immer am Kino. Aber ein so aufmerksamer Beobachter wie Rudolf Arnheim schreibt 1929 angesichts eines Sternberg-Films, dass man einen solchen Film „mit Freilichtaufnahmen niemals zuwege gebracht“ hätte, und vermerkt „die immer stärker werdende Verdrängung der Außenaufnahmen durch eine Atelierkunst, die sich nicht auf die Zufälle des von der Wirklichkeit Geschaffenen verläßt“. Im gleichen Jahr rückt ein japanischer Kritiker ‘Lena Smith’ in die Nähe der shinpa-Melodramen, deren Stoffe in der Gegenwart angesiedelt sind und in denen eine sehr stilisierte Darstellungsweise verwendet wird, die aus dem Kabuki-Theater hervorgegangen ist. Und Dwight Macdonald 1931: „The most completely satisfying American movie I have seen is von Sternberg’s last silent film: The Case of Lena Smith, …his luminous photography, in which the composition of light and shadow is always sensitively controlled, and his pronounced sense of tempo, which makes his pictures flow along in continuous pulses of rhythm more smoothly than those of any other director.“

Schon 1929 konnte die ‘Los Angeles Time’ schreiben: „Josef von Sternbergs Leistungen als Regisseur gewinnen für jene zusehends an Bedeutung, welche die Handschrift eines Regisseurs von der eines anderen auseinanderhalten können.“ Wieso aber mussten wir hierzulande warten, bis Frieda Grafe uns beibrachte, dass Sternberg ein bisschen mehr ist als der camp für Susan Sontag? Vielleicht sind es die alten Geschichten: Die Stummfilme wurden durch den Tonfilm schnell verdrängt und vergessen gemacht, und Sternbergs zweiter Tonfilm gilt wohl immer noch als Verrat an Heinrich Mann. Die sechs nachfolgenden Dietrich-Filme sind oft genug als ein Abstieg beschrieben worden und die Dietrich war längere Zeit hierzulande alles anderere beliebt. Da kommt dieses Buch daher wie ein Geschenk, das klarstellt, warum Sternberg bereits mit seinen Stummfilmen sehr angesehen war und dass ‘Lena Smith’ der erste seiner Filme ist, der eine Frau im Zentrum hat, deren Identitat inmitten von Klassen- und Machtverhaltnissen in Frage gestellt ist. Der Film ist also „keineswegs einer von jenen romantisch überzuckerten Walzerfilmen, an denen sich unsere Industrie beinahe gesund gemacht hätte, sondern eine der schärfsten, erbittertsten Abrechnungen, die sich jemals mit dem Geist einer schmuck uniformierten k.u.k. Vorkriegsmonarchie auseinandersetzten. Schon einmal hat ein österreichischer Offizier, Erich von Stroheim, der nach Hollywood ging, um Wien zu vergessen, dieser Welt einen gellenden ‘Hochzeitsmarsch’ aufgespielt. Josef von Sternberg ist zurückhaltender in seinem Angriff, aber auch er hat den bösen Blick…“ (Hans Sahl, 1930).
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Josef von Sternberg: The Case of Lena Smith,
Herausgegeben von Alexander Horwath und Michael Omasta
Wien 2007

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