Montag, 27.10.2008

Die geliebteste der lebenden Maschinen

Jean Epsteins Schriften zum Kino

Eine Black Box und ein Erdbeben eröffnen den kompakten Band mit Texten von Jean Epstein, die seit kurzem zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorliegen. „Der Portier, dann der Geschäftsführer näherten sich den beiden Unbekannten, die eine schwere schwarze Truhe auf der Terrasse abgestellt hatten, und zwischen den vier Männern entbrannte eine lebhafte Diskussion.“ Aus der geheimnisvollen schwarzen Truhe, deren Ankunft Epstein als Kind beunruhigt und fasziniert beobachtet, wird kurz darauf ein Filmprojektor herausgehoben. Kaum hat allerdings die Filmvorführung begonnen, sorgt ein plötzlicher Erdstoß abrupt für ihren Abbruch.

Eine Urszene, in der Jean Epsteins Auffassung des Kinos sich wie in einem komprimierten Denkbild zusammengefasst findet: Mit dem Kino ist eine Erschütterung des Denkens in die Welt gekommen, für die es keine treffendere Metapher geben könnte als das Erdbeben. Die Begegnung von Naturkatastrophe und technisch avanciertem Apparat lässt zwei Paradigmen aufeinander treffen, die für Epstein untrennbar zusammengehören. Zwar ist das Kino eine hochmoderne und dem technischen Fortschritt geschuldete Maschine, aber diese Maschine erzeugt einen mehrfachen Überschuss, der zurückführt zu animistischen und mythischen Fragen, die so alt sind wie die Menschheit. Im Kino, so Epstein, seien Materie und Geist „wie Wasser und Dampf“. Die hartnäckigen philosophischen Dichotomien lösen sich auf in unterschiedliche Aggregatzustände.

Epstein, 1897 In Warschau geboren und in der Schweiz aufgewachsen, entscheidet sich schon früh für das Kino. Zuerst geht er zum Medizinstudium nach Lyon und lernt Auguste Lumière kennen, dann, 1920, zieht er nach Paris und bewegt sich im Zentrum einer ersten cinéphilen Bewegung, der neben ihm Abel Gance, Jean Grémillon und Louis Delluc angehörten. Kinobegeisterung hat zu diesem Zeitpunkt – ob in Paris oder andernorts bei Dziga Vertov oder Béla Balász – wenig mit Verklärung zu tun, sondern verbindet zahlreiche Forschungsbewegungen im Aufbruch.

Anders als Siegfried Kracauer oder André Bazin leitet Epstein seine theoretischen Überlegungen nur selten aus einzelnen Filmbesprechungen ab. Bei ihm lässt sich der Filmemacher nicht von seinem denkerischen Schatten ablösen, und wohl auch deshalb vollziehen sich seine Reflexionen nicht im Modus der Filmkritik, sondern begründen etwas Neues, das er selbst in mehrfachem Sinne als (literarisch imprägniertes) Film-Denken begreift. „Der Film denkt“, wie Godard später einmal zugespitzt formuliert, und diese Eigenständigkeit versetzt auch das Denken mit und über Filme in Unruhe.

Innerhalb dieses Denkens sind Themen auszumachen, auf die Epstein bis zu seinem Tod 1953 immer wieder zurückkommt. Zum einen lässt ihn die eigentümliche Zeitlichkeit des Apparats nicht los, den er als „Maschine zum Denken der Zeit“ bezeichnet. Nicht nur durch Manipulationen wie Verlangsamungen, Beschleunigungen des Bilds, die Epstein in seinen frühen Filmen selbst vielfach anwendet, werden Kamera und Projektor zu Forschungsinstrumenten, die dem Mikroskop oder dem Fernrohr in nichts nachstehen. Selbst in der bloßen Reproduktion und Montage des Lebens setzt die Maschine eine wiederholbare, „zeitlose Zeit“, die Epstein umkreist, ohne sie dingfest machen zu können. „Gewiss, diese Maschine ist von handfester materieller Substanz, mit ihrem Spiel aber bringt sie solch elaborierte Erscheinungen hervor, bietet sie sich so hervorragend als Werkzeug des Geistes an, dass man geneigt ist, sie als etwas zu nehmen, in dem selbst schon zur Hälfte Gedachtes niedergelegt ist.“

Ein zweites Gravitationszentrum markiert der Begriff „Photogénie“, den Epsteins Kollege Louis Delluc zur Beschreibung der spezifischen Fähigkeiten des Films geprägt hatte. Im Adjektiv „photogen“ ist eine verblasste Erinnerung an das Konzept noch enthalten, das in den 20er Jahren kein Attribut des gefilmten Menschen bezeichnete, sondern das diagnostische Vermögen des Apparats, durch Großaufnahmen und andere Verfahren etwas an Menschen und Dingen zu zeigen, das der herkömmlichen Wahrnehmung verborgen bleibt. Die Großaufnahme eines Revolvers, so Epstein, transzendiere dieses Objekt, „es ist der Charakter des Revolvers, oder anders gesagt, etwas, das mit dem Impuls oder den Gewissensbissen im Verlauf eines Verbrechens, eines Scheiterns, eines Selbstmords zusammenhängt.“

Das Kino ist daher ein Forschungsinstrument mit zweifacher Ausrichtung: Untersucht werden die Gegenstände, auf die sich das Objektiv richtet; untersucht wird aber im gleichen Maße die Zeitlichkeit der sichtbaren Welt. Dass dieser Impuls – wie so viele Filmpoetiken der 20er Jahre – zu etwas anderem führt als zum Erzählkino, versteht sich beinahe von selbst. „Ich wünsche mir Filme, in denen nicht nichts vorgeht, sondern nichts Besonderes.“

Neben diesen systematischen Bestimmungsversuchen des Kinos machen vor allem die vermeintlichen Randbeobachtungen und ihr erzählerischer Stil Epsteins Texte so lesenswert. Zwar ist ihm an einer deutlichen Abgrenzung des Films von den anderen Künsten gelegen, aber diese Abgrenzung erfolgt in einer Sprache, die ihrerseits literarisch ist; was in seiner Ernsthaftigkeit wie eine Verwissenschaftlichung des Kinos klingen könnte, bekommt seine Besonderheit nur durch diese Ausdrucksform. Es wird schwer fallen, Beschreibungen des Kinematographischen zu finden, die denen Epsteins in ihrer poetischen Präzision nahe kommen, und diese Qualität ist in Ralph Eues Übersetzung sehr genau getroffen. Die Sätze laufen gleichmäßig dahin, ohne dass die Ecken und Kanten von Epsteins Denken in ihrem Fluss abgeschliffen würden.

Man hat Epstein in Deutschland bislang vor allem durch Gilles Deleuzes Kino-Bücher hindurch wahrgenommen, in denen dem Zeit-Denker des Kinos ein prominenter Platz eingeräumt wird. Jetzt hat man die Gelegenheit, mit und in Epsteins Texten selbst das Kino zu denken, das der Regisseur und Theoretiker einmal „diese geliebteste der lebenden Maschinen“ genannt hat. Auch zu diesem Zeitpunkt bebte die Erde und spukte Feuer, nachzulesen im Text „Der Ätna, vom Kinematographen her betrachtet.“

[Jean Epstein: Bonjour Cinéma und andere Schriften zum Kino, herausgegeben von Nicole Brenez und Ralph Eue, aus dem Französischen von Ralph Eue, Wien: Österreichisches Filmmuseum / Synema 2008.]

– Volker Pantenburg –

Schreiben Sie einen Kommentar

Sie müssen angemeldet sein, um zu kommentieren. Ein neues Benutzerkonto erhalten Sie von uns, bitte dazu eine Email mit gewünschtem Username an redaktion(at)newfilmkritik.de.


atasehir escort atasehir escort kadikoy escort kartal escort bostanci escort