We shall now have tea and speak of absurdities
Vor einigen Wochen, im Arsenal-Kino, bevor der Film losging, sprachen wir darüber, dass sicher bald die ersten Internet-Provider mit Angeboten auf den Markt kommen, bei denen das Netz über das Wochenende abgeschaltet wird. Gegen Aufpreis, versteht sich, als „Weekend deluxe-Tarif“. Die großflächigen Werbeplakate zeigen entspannte Menschen beim Tee oder im Garten, andere arbeiten konzentriert. Sie haben ihre Ruhe, endlich klingelt mal nicht das Internet. Es versteht sich, dass man die „deluxe“-Abschaltung auch – gegen erneuten Aufpreis – ihrerseits wieder abschalten kann, das ist dann der „Weekend deluxe plus-Tarif“. Die Kampagne setzt ganz auf Distinktion – ein Slogan lautet: „Die etwas andere Flatrate“, ein anderer: „Lassen Sie die anderen für sich twittern“ –. In einem harten, aber fairen Wettbewerb hat sich mit minimalem Vorsprung die Werbeagentur durchgesetzt, die den neuen Tarif als das bewirbt, was weiland der Diener, das Hausmädchen oder die Vorzimmerdame waren.
Ich möchte hier kurz festhalten, dass seit mindestens drei Wochen das Wetter verrücktspielt. In fünf Jahren, Mitte 2014, falls das Internet dann noch existiert und man zufällig oder gezielt über diesen Eintrag stolpert, soll man sich an etwas erinnern, das kalendarisch als Sommer galt, aber in Wirklichkeit eine meteorologische Aberration mit schnellen Wechseln zwischen Sturm, Regen, Hitze, hoher Luftfeuchtigkeit, abrupten Temperaturabfällen, Gewittern und stellenweise Hagel war. In einer Sendung im neuen ZDF- Nachrichtenstudio war die Rede von 3000 Blitzen in einer der letzten Nächte. Diese Zahl bezog sich auf ganz Deutschland, wenn ich es richtig verstanden habe. Vor ein paar Tagen brach im Osten der Republik ein halbes Dorf weg und wurde kurzerhand von einem See verschluckt.
Vorläufige Jahresbilanz: Ein Stadtarchiv, ein halbes Dorf. Gut, ich will jetzt nicht für alles das Wetter verantwortlich machen. – Ach, warum eigentlich nicht.
In ALLE ANDEREN ist das Wetter bestens. Komisch, im Nachhinein kommt es mir vor, als ginge das Hauptpärchen den ganzen Film über nicht ein einziges Mal ans Meer, dabei ist es ein Sardinienfilm. Doch, einmal, gegen Ende sind die beiden auf dem Weg zum Strand, aber sie, die Minichmayrfigur, kehrt plötzlich um und hat keine Lust mehr, so dass er, der Eidingercharakter, etwas konsterniert auf dem Schotterweg stehenbleibt und ihr dann zurück zum Haus folgt. Von einem Yacht-Ausflug mit einem anderen Pärchen ist verschiedentlich die Rede, aber auch dazu kommt es nicht. Ein Film voller „Dann-doch-eher-nicht“-Scheinoptionen. Dass dieses Meer nie vorkommt, obwohl es doch traditionell der Sehnsuchtsort Nummer Eins ist, hat sicher etwas zu bedeuten. S. war der Meinung, dass man diesem Yachtpärchen ihre Yacht nicht abnähme, aber das fand ich nicht schlimm. Mich störte eher, dass der Film so exakt der Vorstellung entsprach, die ich mir von ihm gemacht hatte. Es gab auf eine geradezu beunruhigend perfekte Weise keine Abweichung von dem Bild, zu dem sich mir der Film nach Texten, Bildern und Erzählungen im Kopf zusammengesetzt hatte. Der Film kam, sah und schmiegte sich passgenau hinein in die mitgebrachte Erwartungsform. Ich sah auf die Leinwand, als sei das, was dort geschah, mit großer Präzision durchgepaust durch das Imaginäre der Meinungen, die ich über ALLE ANDEREN gelesen hatte. Das ist natürlich kein Einwand gegen den Film, eher das Gegenteil. Irritiert war ich auch darüber, dass das Publikum den Film bis weit in die zweite Halbzeit hinein uneingeschränkt als Komödie auffasste, mit prustendem Gelächter und allem Pipapo. Yorck-Kino, Mitte Juli 2009.
Um zwei andere Texte nicht zu schreiben, schrieb ich einen dritten und las dafür die neuen Bücher von Luc Moullet. Im Mai hatte eine vollständige Retrospektive seiner Filme im Centre Pompidou stattgefunden, B. war so nett, mir als Überraschung eins der Programmhefte mitzubringen. Zu fast jedem der Filmprogramme, konnte man lesen, gab es kurze Einführungen von Moullet oder anderen: Jeanne Balibar, Serge Bozon, Catherine Breillat, Raoul Ruiz, André S. Labarthe, Philippe Katerine etc. Im Netz finde ich jetzt Videos von all diesen Einführungen, und darüber hinaus auch eine über dreistündige Diskussion über Moullets Filme, mit Emmanuel Burdeau, Richard Copans, Jean Narboni, und Marie-Christine Questerbert und sicher noch jemandem, den ich vergessen habe. Wer Lust hat, findet das mit ein paar Klicks bei dailymotion, ich bin grad zu träge zum Verlinken.
Marie-Christine Questerbert spielt neben Jean-Pierre Léaud in UNE AVENTURE DE BILLY LE KID (1970), Moullets Versuch, Vidors DUEL IN THE SUN und Bressons LES DAMES DU BOIS DE BOULOGNE zugleich zu verfilmen. Im Buch „Notre alpin quotidien“, einem langen Interview mit Burdeau und Narboni, erinnert sich Moullet an einen Unfall bei den Dreharbeiten. Questerbert ist damals von einem Felsen knapp 40 Meter in die Tiefe gestürzt, hat sich aber zum Glück nicht stark verletzt. Moullet behauptet, der Sturz habe eher persönliche Gründe gehabt, er sei nicht auf die felsige Landschaft zurückzuführen. Das sieht Questerbert anders und will es jetzt, 2009, endlich klären. Sie hat für die Diskussionsrunde einen Zettel mit einem Text vorbereitet, beschuldigt Moullet der Gedankenlosigkeit und mangelnder Vorsichtsmaßnahmen. Weder gab es einen Assistenten, der ihr hätte Anweisungen geben können (sie sollte die Augen geschlossen halten und „wie ein Zombie“ mit ausgestreckten Armen voranschreiten), noch wäre Moullet sonderlich fürsorglich mit ihr umgesprungen. Zum Glück sei sie bei dem Sturz in einem Müllhaufen gelandet und habe daher kaum Verletzungen davongetragen. Aber trotzdem, Luc, „Was war da los?“ – Moullet schickt vorweg, dass er keine wirkliche Antwort auf diese Frage habe, es sei noch zu früh, dazu etwas Definitives zu sagen, schließlich sind erst 39 Jahre vergangen. Die ganze Situation bleibt kurios in der Schwebe, man weiß nicht so recht, ob hier tatsächlich nach knapp vier Jahrzehnten eine wirkliche Kränkung und Verletzung im Gespräch ausgeräumt werden soll oder ob es eine gelungene Aufführung ganz im Stil Moullets ist. Möglicherweise werden wir es nie erfahren.
An einem anderen Abend macht Serge Bozon eine Einführung zu TERRES NOIRES und BRIGITTE ET BRIGITTE. Er ist, wenn ich es richtig sehe, der einzige, der sich etwas überlegt hat für den Abend und auf den Ort der Retrospektive eingeht – ein Museum für moderne Kunst. Bozon ist ein Freund von Zuspitzungen, das war bei seiner Verteidigung des Klassizismus vor ein paar Monaten am gleichen Ort schon deutlich. Diesmal beginnt er mit einer hypothetischen Einteilung von Filmkritikern. Für ihn gebe einerseits die, bei denen das Kino der Kultur vorausgegangen sei und andererseits die, bei denen das Kino nicht der Kultur vorausgegangen sei. Von den ersten könne man mit Recht behaupten, sie seien „im Kino geboren“. Beispiele: Truffaut, Skorecki, Moullet oder Biette. Beispiele für die andere Gruppe: Bazin, Sadoul, Rohmer, Bonitzer. Godard sei ein interessanter Fall, weil er irgendwie dazwischenhängt. Und natürlich gebe es – jenseits dieser etwas schematischen Unterscheidung – mindestens ebenso interessante Fälle, bei denen man nicht weiß, was nun zuerst kam, wo aber klar ist, dass vor dem Kino eine harte körperliche Arbeit gelegen habe: Manny Farber, Michel Delahaye. In der Folge beschreibt Bozon anhand dieser Differenz zunächst kurz das Verhältnis der Kritiker zum Museum. Bei der ersten Gruppe habe man es oft mit mindestens einem Vorbehalt gegen, wenn nicht sogar audrücklichem Hass auf – siehe Skorecki – das Museum zu tun. Moullets Werk allerdings zeige, obwohl er in der ersten Gruppe ist, eine große Nähe zu dem, was in Teilen der zeitgenössischen Kunst geschieht. In ESSAI D’OUVERTURE zum Beispiel erkennt Bozon eine Verwandtschaft zu William Wegmans „Three Mistakes“ (1971). Moullet spielt alle Methoden durch, eine Colaflasche zu öffnen, Wegmann inventarisiert fotografisch die drei Möglichkeiten, beim Einschenken eines Glases Milch zu scheitern (1. Das Glas liegt horizontal; 2. Das Glas steht aufrecht, aber auf dem Kopf, mit der Öffnung nach unten; 3. Das milchausschenkende Subjekt zielt daneben). Ich selbst musste bei Bozons Beschreibung auch an John Baldessaris „Teaching a plant the alphabet“ (1972) denken, ein schönes Lehrvideo, in dem Baldessari einer Topfplanze trotz deren offenkundiger Uninteressiertheit jeden Buchstaben von A bis Z vorbetet.
Bozon interessiert sich im Anschluss für die Frage, was Moullet trotz dieser Nähe zu einer bestimmten Spielart zeitgenössischer Kunst – Bozon qualifiziert sie als „konzeptuell, minimalistisch, konkret, antisozial und sarkastisch“ – von ihr unterscheidet. Seine Antwort: Das Talent für’s Erzählen. Moullet sei, anders als Rivette oder Godard, ein wirklich guter Erzähler. Ob man diesem letzten, eher kontraintuitiven Schlenker der Argumentation folgen will, muss jeder für sich entscheiden.
– Definieren Sie „Synästhesie“.
– Wenn ich die Seite www.twitter.com öffne und instinktiv das Bedürfnis verspüre, mir die Ohren zuzuhalten.
M. sagte, dass Twitter das Schlechteste in den Menschen nach oben spüle. Er sagte das eher im resignativen als im provokativen Tonfall. Wie ernst er es meinte, weiß ich nicht. Kurz darauf vertrat er auch die meiner Meinung nach etwas forcierte Ansicht, dass die Erfindungen nach 1979 einfach nichts Neues mehr gebracht hätten.
– Volker Pantenburg –
25.07.2009 07:47
zu Moullet – Wegman – Baldessari:
Es gibt von Wegmann ebenfalls eine Lehrsituation – Titel vergessen -, wo er seinen Airdale (Ray?) an einen Tisch vor ein aufgeschlagenes Heft setzt. Wegman steht daneben und spielt Gardinenpredigt, so etwas wie: „Ich habe dir doch mehrfach gesagt, dass…“. Der Hund, der keinen blassen Dunst hat, was hier gespielt wird und dem man das deutlich ansieht, guckt immer wieder vom Heft auf zum maßregelnden Master und zurück. Begriffsstutzigkeit auf vier Beinen.
25.07.2009 10:21
Ich hatte naturgemäß noch kein einziges Wort über den Film gelesen, als ich „Alle Anderen“ in der Pressevorführung bei der Berlinale sah. Seltsamerweise spürte ich den von Dir beschriebenen Effekt aber auch da schon. Ich wusste, dass der Film genau so war, wie alles, was darüber geschrieben würde, dann vermuten lassen würde. Und kann dank Deiner Hilfe jetzt in Worte fassen, dass ich da schon fand, dass, wenn etwas, dann genau das gegen den Film spricht.
Wegen Twitter und M: Hm.
27.07.2009 14:38
das programm, das für den mac das internet abschaltet heißt freedom. freedom.dmg. das einzige problem, dass es die zeit der internetabschaltung nicht weiter zählt, während der mac im sleep-modus ist. das nervt halt und so nutze ich es kaum.