Mittwoch, 18.11.2009

ITALIENREISE 1968.

Eine Erinnerung von Johannes Beringer.

[Ich schreibe hier maschinenschriftliche Seiten ab, zum Teil mit handschriftlichen Einfügungen, Korrekturen, die ich Anfang der 1980er Jahre verfasst habe – um die Erinnerung an die Italienreise von 1968 so gut wie möglich zu bewahren. Oben drüber steht hs. ‚Pesaro 1. – 9.6.68’ und ‚Lino Miccichè, Il cinema italiano degli anni 60. Venezia (Marsilio) 1975’. Miccichè war damals Leiter des 1965 gegründeten Filmfestivals von Pesaro. Dazugeheftet ein hs. Zettel mit punktuellen Erinnerungen, die ich wohl noch ausführen oder einarbeiten wollte. Den nehme ich am Ende der Abschrift noch auf. – Eckige Klammern […] bezeichnen Einschübe während des Abschreibens, also von jetzt, Oktober/November 2009. Der alte Text ist leicht überarbeitet.]

***

Plötzlich – gestern Nacht vor dem Einschlafen – nach der Öde des träge dahingeflossenen Tages, merke ich, dass ich unsere Reise nach Italien nur noch schwach, lückenhaft erinnere. Der Anlass war eine Begegnung mit einem, der damals dabei war und jetzt nur noch von ferne an jenen erinnerte … Mit diesem plötzlichen Bewusstsein ist ein Stich da, Gegend des Magens / gegen das Herz hin, und das Hirn macht sich an die Arbeit – setzt Stück um Stück zusammen, lässt Lücken offen, denkt nach, arbeitet. An Schlaf ist nun nicht zu denken: mit dem Kopf arbeitet auch das Herz, und weil es schneller schlägt, ist auch die Atmung erhöht. Eindrücke steigen vor meinem inneren Auge auf, die fast schon Phantasmen sind (und Phantasmen sind, nach Barthes, kräftiger sogar als Träume) – aber die Reise selbst, als ganze: war sie nicht selbst wie ein Phantasma?

Nie kann alles erinnert werden. Wie Inseln ragen bestimmte Ereignisse, Perioden aus dem Meer des Lebens, das im Alltag versinkt. Einmal ging ich mit Günter Peter S. durch Berlin (oft ging ich mit GPS durch Berlin), und die Sprache kam aufs Erinnern. Ich sah gerade durch ein Fenster und sagte, dass ich mich eben dieses Fensters und der Leute dahinter natürlich schon bald nicht mehr erinnern würde. Heute erinnere ich mich daran, weil ich über etwas sonst Unbemerktes jene Bemerkung machte. Alles Unbemerkte verschwindet – alles, was nicht erinnert wird, ist vergessen.

Es ist also alles noch da. All das Vergangene ist noch da.

Ich kann von Erinnerungsschüben sprechen. Es ist ja nicht alles gleichzeitig herbeizurufen. Mal ruft sich dieses, mal jenes in Erinnerung – mit zunehmendem Alter wächst das zu Erinnernde und die Lücken, Grauzonen wachsen auch. Es bilden sich ‚befreite Gebiete’, die aus irgendeinem Grund den Vorzug haben, auf die man immer wieder zurückkommt (wie um sich auszuruhen oder vielleicht etwas herauszuholen). Und das Frühere, Früheste erhält eine Präsenz, einen Glanz, wie sie der eben vergangene Tag nicht hatte. Eine Aura des Entrückten, nicht wieder Einholbaren – ‚vergoldende Ferne’ (Hohl). Ein Phänomen, vor dem ich immer wieder staune, so oft es mir begegnet – ist es nicht wirklich noch sehr unerklärt? Und ist nicht das Erklärbare im Unerklärlichen aufgehoben, das Unerklärbare im Erklärlichen? Die Tat immer: es da herauszuholen, zum Leuchten zu bringen im umgebenden Dunkel.

Bei unserer Italienreise ist das Phänomen ein anderes. Nämlich: sie war etwas so Abgehobenes (und auch wieder nicht), ein so starker Eindruck, dass anscheinend jeder von uns sie unangetastet in seinem Gedächtnis beliess, nicht mehr dran rührte, sie nicht zur Erinnerung machte. (Einmal, 14 Tage danach, und das war das einzige Mal, dass ich davon reden hörte, sagte Michael Geissler zu mir, das sei aber eine starke Sache gewesen.) Etwas war da noch offen. Wollten wir es offen halten, es nicht durch das Stigma der Erinnerung schliessen? Vielleicht waren die Sinne noch zu voll und vielleicht war es wie eine Ahnung von zum Letzten-mal-leben. Aber jetzt, wo es beinahe auf und davon ist, muss / will ich es festhalten.

Ich wohnte damals an der Kurfürstenstrasse, bei Hartmut Bitomsky und Ingrid Oppermann. An einem Sommerabend gegen 10 oder 11 tauchte Holger Meins mit seinem abgewrackten VW-Bus auf (wie oft sind wir damals nach Frankfurt gefahren, zum SDS, in den Club Voltaire, oder hiess es Ça ira?) – es war noch etwas abzuholen und mitzunehmen aus der Wohnung. Unten, im mit Matratzen ausgelegten Bus, warteten Gerd O’Conradt, Philipp Sauber, Michael Geissler. O’Conradt fragte mich, ob ich nicht Lust hätte mitzufahren nach Pesaro, zum Filmfestival. Ich suchte flink ein paar Sachen zusammen und stieg ein. Ab ging es, hinaus in die Nacht, wenn auch nicht gerade pfeilgeschwind – der Bus gab nicht mehr viel her und fraglich war, wie es bergauf gehen würde. In München wollten wir uns mit GPS treffen, der gerade in Frankfurt war und sich uns anschliessen wollte. Im Verlauf des Morgens holten wir ihn am münchner Bahnhof ab: der Mensch kam an ohne einen roten Heller in der Tasche. Da musste ich mir, als vorsichtiger Schweizer, mit meinen 200 DM fast wie ein Krösus vorkommen. Wir legten das Geld zusammen – viel kam nicht dabei heraus, doch die leisen Bedenken, die diesen oder jenen ankommen mochten, schmolzen dahin vor unserem Erlebnishunger, dem neuen Gruppengefühl. [Waren wir nicht tagsüber noch in der kleinen, modernen Wohnung von Werner Herzog, versuchten ihn zu überzeugen, eine Resolution – gegen den Vietnamkrieg? – zu unterschreiben, eine Unterschrift, die er ziemlich gewunden, verweigerte?]

Nachts über den Brenner, in den Morgen nach Italien hinein …

In was für ein Italien kamen wir? In Berlin waren eben die Oster-Unruhen und der heisseste Mai seit Menschengedenken vorbei … davor, im selben Jahr, das ‚Springer-Hearing’, der Vietnam-Kongress, die Kaufhaus-Brandstiftung in Frankfurt, das Attentat auf Rudi Dutschke, die 5 Tage-Schlacht gegen Springer, Krahls Römerbergrede, Streiks, Besetzungen an der Uni, in den Schulen, Warnstreiks in den Betrieben … der Pariser Mai, Massendemonstrationen und Strassenschlachten, nicht nur Unruhen in Westeuropa, sondern auch in den USA, Südamerika, Japan, Türkei, Polen, Jugoslawien, in der CSSR der ‚Prager Frühling’.
Das Italien, in das wir kamen, war eines der roten Fahnen: jeder mit Transparenten und Fahnen geschmückte Betrieb bekräftigte unser Hochgefühl (weils ja in Deutschland mit den Betriebsbesetzungen nicht so recht klappte); dass Unis und Kunstakademien besetzt waren, war ohnedies fast selbstverständlich.

Sind wir erst nach Venedig gefahren? In der besetzten Kunstakademie, in der eben eine Versammlung stattfand, empfing uns einer, den wir für einen ‚Herbergsvater’ hielten. Er nannte uns eine Adresse und abends spät setzten wir mit einem Boot über, um das Haus zu erreichen. Es stellte sich heraus, dass der ‚Herbergsvater’ Luigi Nono war, der eine SDS-Gruppe aus Berlin erwartete und natürlich gedacht hatte, wir wären das. Die Richtigen sassen nun aber schon auf dem Wohnzimmerboden und uns blieb, nachdem wir etwas zu essen und zu trinken bekommen hatten, nichts anderes übrig, als uns wieder zu verziehen. Wir schliefen im Auto, blinzelten frühmorgens verschlafen in das grelle Sonnenlicht. Nach einer Demonstration auf dem Markusplatz wurden wir mit Nono von der gürtelschwingenden Polizei im Carajo durch die engen Gässchen gejagt.

In Pesaro quartierte man uns – leicht misstrauisch beäugt ob unseres Langhaar-Aussehens – als Festivalgäste in ein kleines Hotel in Strandnähe ein. [Ermöglicht wohl durch den Experimentalfilmer Alfredo Leonardi, der im Vorjahr O’Conradts Film „Frederic Rzewski isst Spaghetti bei Carlone Via Della Luce 55“ gezeigt hatte.] Über der Strasse, in einem besserklassigen Hotel direkt am Strand logierte Herbert Linder von der ‚Filmkritik’ bzw. der ‚Süddeutschen’. GPS suchte ihn einmal – ich begleitete ihn – in irgendeiner Angelegenheit auf: vor dem Hintergrund des Meeres, dessen Rauschen durch die Glasscheibe gedämpft in die höhergelegene ‚Hall’ heraufklang, nimmt die kurze Gesprächssituation für mich gerade darin, in ihrer Flüchtigkeit, den Ausdruck eines schönen Augenblicks an, einer Visconti-Filmszene fast.

Der Charakter des Aufenthalts hebt sich aber von diesem einen Bild wie von einer kaum bemerkbaren Grundierung völlig ab: das Hochgefühl, das wir aus Berlin mitgebracht hatten, unser vorwärtstreibender Hunger nach Veränderung erhielt hier neue Nahrung, stiess auf Bundesgenossen. Umfunktionierung (neues Schlagwort der Zeit) des Festivals in ein Forum für politische Aufklärung und Agitation, Organisierung des Widerstands, Klassenkampf-, Vietnam-Befreiungskampfparolen, radikaldemokratische Forderungen – und das hiess, freier Eintritt für alle, Vorführungen von Filmen in Fabriken … Wir fanden relativ offene Ohren bei der Festivalleitung, die ihr Filmfest nicht ungeschickt zu retten versuchte. Nach der Projektion von „La Hora de los Hornos“ von Fernando Solanas („Die Stunde der Hochöfen“, Argentinien/Kuba 1968) und angeheizt vor allem durch die Ché Guevara-Sequenz im Schlussteil (das Foto des toten Ché war zu diesem Zeitpunkt bereits durch die Presse gegangen) schlug die ‚revolutionäre’ Stimmung hohe Wellen: ich weiss noch, wie erhitzt und tatendurstig wir gegen Abend aus dem bis zum letzten Platz besetzten Kinosaal kamen, der direkt am Hauptplatz von Pesaro liegt. Draussen, auf diesem Platz, war gerade eine KP-Kundgebung im Gang, rote Fahnen, Rednertribüne, im Hintergrund haufenweise Carabinieri. Zu diesen Demonstranten stiess nun das anpolitisierte, erregte Publikum aus dem Festivalkino, und das wiederum war für die Polizei das Zeichen zum Eingreifen. Kriegsmässig, mit Jeeps in einer Linie angetreten, nahmen die Carabinieri auf einen Befehl hin ihre Koppel ab und dann wurde regelrecht, ohne Vorwarnung, mit Sirenen und Hörnern zum Angriff geblasen. Die stürmten – sowas hatten wir in Berlin noch nicht erlebt – wie die Berserker einfach drauflos und hieben mit der Koppel, an der auch noch die Pistole hing, wahllos auf alles ein, was sich bewegte. Das gab wilde Schlachten und Verfolgungsjagden durch die engen Gässchen. Ich gehörte zu denen, die sich im Festivalsaal verschanzten – wir wurden eingeschlossen, die Carabinieri warfen Tränengas in den Vorraum rein, einige bewaffneten sich mit Stuhlbeinen, es schien, als sässen wir in der Falle. Durch einen Nebenausgang, ich glaube mit Hilfe des Bürgermeisters und des Festivalleiters, gelang aber die Flucht. Draussen gab es Ansätze zu kleineren Barrikaden, ein Autowrack war angezündet worden. Holger Meins war den Bullen in die Hände gefallen und steckte im Gefängnis. Im Bürgersaal der Stadt war das Hauptquartier der Beratung: die Situation war ja so, dass das von den Kommunisten regierte Pesaro und insbesondere das progressive Festival der Landesregierung schon lange ein Dorn im Auge war – der von Rom aus gesteuerte Carabinieri-Einsatz war nur der Kristallisationspunkt einer langwährenden christdemokratischen Hetze (und die ‚kulturrevolutionäre’ Stimmung der willkommene Vorwand, endlich durchgreifen zu können). Wir sahen uns nun also plötzlich in der völlig ungewohnten Lage, uns auf der Seite der lokalen Autoritäten, wie Bürgermeister, Festivalleitung etc. wiederzufinden – und ich muss zugeben, dass dieses neue Gefühl uns nicht wenig schmeichelte. Die Gemeindebehörde bemühte sich auch redlich um die Freilassung der Verhafteten, und als Holger endlich rauskam, erhielt er, wie andere auch, nicht nur ein kleines Taschen- oder Schmerzensgeld von der Stadt, sondern auch einen entschuldigenden Händedruck vom Bürgermeister.

Es war schon eine merkwürdige Mischung von Leuten, die da auf einem Haufen zusammengekommen waren: einmal die filmkritisch-journalistischen Festivalroutiniers, dann Filmleute, Regisseure, Produzenten, Studenten, kulturinteressierte Bürger der Stadt, Kommunisten – draussen auf den Gassen lauerten Faschisten und Polizeispitzel, die aber angesichts der Übermacht der anderen Seite nicht allzuviel zu unternehmen wagten.

Ich weiss kaum noch, was in den morgendlichen Versammlungen im Festivalkino alles debattiert wurde – es gab Interventionen von Bellocchio und Bertolucci. Einmal sind wir frühmorgens mit unserem Bus an eine abgelegene Stelle am Strand hinausgefahren und haben ein Spruchband gepinselt, das wir anschliessend in eine solche Versammlung hineinplatzen liessen (um durch die Provokation die Unentschiedenheit der meisten Teilnehmer zu offenbaren und zur Stellungnahme herauszufordern).

Nachts vor einem Hoteleingang an der Strandpromenade kam es mal zu einem kurzen, aber heftigen Wortwechsel zwischen Peter Fleischmann und GPS: Fleischmann, der in einer Gruppe von Leuten stand, darunter der Regisseur Valentino Orsini, konnte nur hilflos replizieren, was für ein neiderfüllter Hass einem als Regisseur doch entgegenschlage. Der hatte natürlich überhaupt nichts begriffen – wenn ich mich recht erinnere, ging es um Fleischmanns Klischeevorstellung von ‚Sozialkritik’.
Dann der Lateinamerika-‚Filmspezialist’ Peter B. Schumann, der sich an unseren Tisch vor einem Lokal heranmachte, um uns in aller ‚Unschuld’ auszuhorchen, was wir denn für das berliner Filmfestival so in petto hätten. [Die Berliner Filmfestspiele fanden damals noch im Sommer statt.] Das sah für uns wie ein opportunistisches Bubenstück aus und wir zeigten ihm die kalte Schulter.
Den Kritiker Siegfried Schober, der für die ‚Filmkritik’ in Pesaro war, sahen wir hie und da mit seiner Freundin verliebt durch die Strassen flanieren – der hatte gerade die freie Liebe entdeckt und konnte schon deswegen von der Kulturrevolte nicht allzuviel mitgekriegt haben. Dass der Abschuss von US-Flugzeugen in Joris Ivens „Le 17ième Parallèle“ („Der siebzehnte Breitengrad“) im Kinosaal ‚frenetisch’ beklatscht wurde, konnte der ‚Sensibilist’ münchner Provenienz kaum verwinden. Unter dem Titel ‚Gewalt und Poesie’ (‚Filmkritik’, August 1968) versuchte er dann, den ‚poetischen Film’ vor der Politisierung zu retten … Der ist kurze Zeit später beim ‚Spiegel’ gelandet und dort, wie ich vermute, ziemlich sang- und klanglos untergegangen. Sein Bemühen, eine Art begrifflose Unmittelbarkeit beim Filmesehen wiederherzustellen, musste bei der schlechten Unmittelbarkeit des Begriffs landen, der sich hinterrücks einstellte (in einer Fk-Kritik sprach er tatsächlich von „orgasmic movie“).

Mitten in diesem herrlichen Unfrieden unser Sechser-Grüppchen: meist sassen wir nach den ereignisreichen Tagesläufen nachts im Hotelzimmer noch zusammen, planten, rauchten, diskutierten, tranken. Michael Geissler, der ausreichend Shit mitgenommen hatte, drehte eine Zigarette oder liess die Pfeife reihum gehen – nur GPS rauchte nicht und ebenso standhaft weigerte er sich, am Strandleben teilzunehmen (einmal streckte er eine Zehe ins Meer, um zu zeigen, dass das alles sei). Dafür habe ich dann erlebt, wie er sturzbetrunken und kichernd aus dem Bett fiel – ich kann es bezeugen, weil ich im gleichen Zimmer schlief und ihm wieder ins Bett half. Er hatte ein Techtelmechtel mit der ‚feschen Kärtnerin’ von der Reception angefangen – aber wir waren natürlich viel zu sehr mit der ‚Revolution’ beschäftigt, als dass daraus was geworden wäre. Es fällt mir schwer, unseren Bewusstseinszustand damals auszumachen und wiederzugeben: die äusseren Indizien reichen zu einer solchen Schilderung nicht ganz aus. Bei all den Aktivitäten und Aktivismen war es ja auch so, dass wir versuchten, unser kritisches Vermögen zusammenzuhalten und uns gerade darauf etwas zugute hielten. Theorie (natürlich nur in Verbindung mit Praxis) wurde grossgeschrieben: dass GPS (ein Jahr später allerdings) das Luchterhand-Bändchen „Fetisch Revolution“ von Hans G Helms mit sich trug und ausserordentlich interessant fand [ohne mit Helms einig zu gehen], spricht doch auch für eine lebendige Auseinandersetzung mit für uns Aussenstehenden. Operettenhaften Zügen des Films und der Revolution versuchte GPS mit der Klassenzugehörigkeit der Intellektuellen zu begegnen (Motto des „Labriola“-Films von 1970: „Welche sind die Interessen der Intellektuellen, am Untergang der eigenen Klasse mitzuwirken“).

***

Hier bricht die maschinenschriftliche Fassung vom Anfang der achtziger Jahre ab. Ich nehme nun noch den beigefügten Zettel auf und versuche ihn so gut wie möglich zu komplettieren:

– es gab ja tatsächlich eine Vorführung des Joris Ivens Film („Le 17ième Parallèle“) in einer Fabrik – da war eine riesige Fabrikhalle voll mit Arbeitern; ich weiss noch, wie ich einen linken italienischen Aktivisten bewunderte, der zu diesem grossen Forum sprach (nicht von oben, sondern vom Mittelgang aus); wie der sprach, das hatte was.

– das Essen: am ersten Tag, als wir nach Italien hineinfuhren, machten wir mitten am Nachmittag halt bei einem kleinen, ländlichen Lokal und assen Spaghetti, die wunderbar schmeckten (zubereitet von einem älteren Ehepaar); ebenso toll waren die Muscheln, die wir mal in Pesaro vorgesetzt bekamen, als wir zu einem Lokal auf einer Landzunge oder in Hafennähe hinausfuhren.

– am Strand gab es eine Frau (Susanne Beyeler), die uns von ferne beobachtete und vielleicht gerne mit zu uns gehört hätte; erst später, als sie auch Studentin an der DFFB war, sagte sie mal, dass sie das damals gewesen sei.

– die Dänin, die behauptete, mit Pasolini geschlafen zu haben.

– David Wittenberg aus Frankfurt am Main war für ein paar Tage da; ich habe ihm zugesehen, wie er eine Pizza ass, und war amüsiert, wie schnell das geschah und wie grosszügig er den Teigrand abschnitt. GPS war mit ihm und Edith Schmidt befreundet, wohnte bei den beiden, wenn er in Frankfurt war. (David Wittenberg und Edith Schmidt haben Filme gemacht, Arbeitskampf- und Migrantenthemen, aus späterer Zeit gibt’s von Wittenberg auch Filme über Heinrich Heine und Walter Benjamin).

– dann die Fahrt nach Rom, wir haben noch zwei Barfuss-Mädchen in langen Röcken im VW-Bus mitgenommen; haben nach kurzer Fahrt mal angehalten, Holger wollte die Schuhe wechseln – und liess einen Schuh auf dem Autodach stehen, d.h. wir mussten eine Strecke zurückfahren.

– Rom: Flohmarkt am Sonntag? [steht da auf dem Zettel, aber daran erinnere ich mich nicht]; abends bei Filmern, Wein; Philipp Sauber und ich kamen bei Alfredo Leonardi unter (eine schöne alte Wohnung mitten im alten Teil von Rom) – O’Conradt hatte vor der Filmakademie länger in Rom gelebt, deshalb die Kontakte. Die Piazza Navona war der Ort, an dem man sich immer wieder einfand – das war so ein Treffpunkt wie in Berlin die Treppe vor der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche. (Die Internationale der Gammler, Hippies, Blumenkinder, Trebegänger, Drop-outs hatte sicher über die halbe Welt verstreut ihre ‚Orte’.)

– wir hatten buchstäblich kein Geld mehr; vom letzten Geld hatte ich noch eine Mini-Pizza erstanden, und vom allerletzten Geld hatten wir eine grosse Dose Tunfisch und Brot gekauft, über die wir uns am Ufer des Tevere hermachten; aber das war nicht weiter schlimm: es gab ja die Uccellini mit ihrem Adressbuch – die guckten da jeden Tag rein und riefen dann den und den an (aus der gehobeneren Gesellschaft); am Abend, in der Wohnung des/der Betreffenden, machten sie sich als erstes an den Eisschrank ran und verteilten die Gaben auch grosszügig an uns. – Die Uccellini waren stadtbekannt, weil sie mal Tage (vielleicht eine Woche oder vierzehn Tage) auf einem Kirchturm verbracht hatten und eben ‚lustige Vögel’ waren; die sind mit uns nach Berlin gefahren, wo ich sie dann aus den Augen verloren habe. Eine Episode gab es in einer DDR-Autobahnraststätte, wo sie, weil sie es so gewohnt waren, sich als erstes in die Küche aufmachten – über dem Durchgang ein grosses Schild: ‚Eintritt verboten’ – und wirklich hochkant (wie im Slapstick) wieder rausflogen. Die beiden waren so wütend, dass einer der beiden eine 50 DM-Banknote zerknüllte und als höchsten Ausdruck der Verachtung in einen Aschenbecher warf …

– Filmvorführungen: in Trastevere wurde in einem kleinen Kino „Herstellung eines Molotow-Cocktails“ vorgeführt, den wir im Gepäck hatten – natürlich nicht als reguläre Vorstellung, sondern tagsüber und interessehalber (ein gewisser Ruf schien dem Film bereits vorausgeeilt zu sein). – Philipp Sauber hatte auch seinen DFFB-Film „Der einsame Wanderer“ dabei, der auf einem Schneidetisch besichtigt wurde (vielleicht zusammen mit „Santa Lucia“ von Gerd Conradt) – wir hatten ja Danièle Huillet und Jean-Marie Straub getroffen, die mit Renato Berta den Dreh von „Othon“ vorbereiteten. Straub, obschon mitten im Vorbereitungsstress, war ausserordentlich freundlich und lud uns zu einem Nachtessen im Freien mitten in der Altstadt ein. GPS war mit Huillet & Straub befreundet, hatte „Nicht versöhnt“ schon früh gesehen und darüber in einer Grazer Zeitung geschrieben.

– eine Dachterrasse in Trastevere: wir waren bei Romano Scavolini, dem Filmemacher. Scavolini ist mit „A Mosca Cieca“ („Blind Fly“, deutsch mit „Blindekuh“ übersetzt) von 1966 bekanntgeworden: einem experimentellen Spielfilm, der aber selten zu sehen war und bald in der Versenkung verschwand. (Nicht unähnlich dem frühen Underground-Movie „Zero in the Universe“ von George Moorse, 1966 in Amsterdam gedreht.) Scavolinis Film „La prova generale“ lief Ende Juni 1967 im Filmtheater City auf der Berlinale, bei der von Gideon Bachmann zusammengestellten ‚Woche des jungen Films’, mit Filmen von Bertolucci, Bellocchio und anderen. (Die Anregung dazu kam aber von Gerd Conradt, der Filmer und Musiker – Rzewski und die ‚Musica Elettronica Viva’ – bei seinem Rom-Aufenthalt kennengelernt hatte.) In den siebziger Jahren ist Scavolini in die USA gegangen und hat weiter Filme (mit kleinem Budget) gedreht, anscheinend auch Splatter- und Porno-Movies; 2004 ist von ihm im Panorama der Berlinale „Le ultime hore del Ché“ („Ché: die letzten Stunden“) gelaufen.

– es gab Walter (einen deutschsprechenden ‚professore’, dessen Nachnamen ich nicht kenne, vielleicht ein Südtiroler?), den wir einige Mal aufsuchten: das war ein Marxist, der in seiner Wohnung die ganzen Bände der blauen MEW-Ausgabe stehen hatte, und wie GPS meinte, schon ein paar Mal in die KP eingetreten und wieder ausgetreten war.

– wir sind auch aufs Land rausgefahren (auf einen Bauernhof), es war herrlich – die Luft war so lind und alles blühte und gedeihte … Mit Goethe hätten wir sagen können „Auch wir in Arkadien“. (Das schriftstellerische Temperament Rolf Dieter Brinkmanns fasste dieses Wort – „Auch ich in Arkadien“ – 1972/3 in „Rom, Blicke“ allerdings mit spitzen Fingern an).

– an eine Unterredung zwischen Holger Meins und GPS erinnere ich mich: nicht an den Inhalt, sondern an die Situation. Ich hatte die beiden nämlich vor mir, sie standen an einer Brüstung auf einer Anhöhe (dem Gianicolo wohl), dahinter oder darunter Rom – und ich sah und hörte ihnen zu, wie sie redeten. (Wenn ich nur noch wüsste, was.) Das Gespräch (nein: die Unterredung) war jedenfalls so gut, dass ich mich nicht hätte einmischen können oder wollen.

– eines Nachmittags besuchten wir Carlo Levi (ich glaube, ich wusste damals nur vage, wer das war), wahrscheinlich auf Vermittlung der Uccellini: eine grossbürgerliche Wohnung, eine lange Galerie, wo seine oder andere Bilder aufgestellt waren (es sah wirklich aus wie aus einem Visconti-Film) – und hinten in einem grossen, dunkleren Raum Levi, der uns empfing. Ich denke, er war einfach nur neugierig und wollte sehen, was für ‚linke Vögel’ da aus Deutschland hereingeschneit waren. Jahre später habe ich aus einer Ramschkiste in Berlin ein Buch rausgefischt: Carlo Levi, „Ich kam mit ein wenig Angst. Reisebilder aus Deutschland“, Frankfurt am Main (Zambon) 1984. (Eine etwas zweifelhafte, zudem schlampig gesetzte Übertragung von „La doppia notte dei tigli“ von 1959; „Der Linden Doppelnacht“ verweist auf eine Stelle aus Goethes „Faust“, zweiter Teil, 5. Akt, Szene III; Levi entdeckt in diesen 50er Jahren ein Deutschland, das „sich vor sich selbst verbirgt“; er war zu einer Lesung in München eingeladen, reiste in Begleitung weiter nach Ulm, Augsburg, Stuttgart, Schwäbisch Hall und flog dann nach West-Berlin, wechselte viele Male zwischen den beiden Stadthälften hin und her; Levi starb 1975 in Rom.)

– genau zu dem Zeitpunkt, als wir in Rom waren, erschien auch das an die Studenten gerichtete Gedicht von Pasolini, in dem er die aus der ländlichen oder urbanen Peripherie stammenden, der Armut entfliehenden „poliziotti“ gegen die demonstrierenden „figli di papá“ in Schutz nahm – natürlich ohne gleich der ‚Institution Polizei’ das Wort zu reden. (‚Il PCI ai giovani’ im ‚Espresso’; dort zuerst unter dem Titel ‚Vi odio cari studenti’ / ‚Ich hasse euch, liebe Studenten’, der allerdings von einem Redakteur ist und nicht von Pasolini.)

– in einer anderen Wohnung, schon gegen Ende des Aufenthalts, hatte ich mich mitten in der Nacht, wie andere auch, in ein freistehendes Bett gelegt – und wurde nach kurzer Zeit von Leuten geweckt, die noch müder waren als ich. Das waren Rückkehrer aus Paris, die eben den Mai dort miterlebt hatten und noch ganz erfüllt waren von den Geschehnissen, nun aber doch gerne in ihren Betten geschlafen hätten.

– auf der Rückreise, mit den Uccellini, fuhren wir durch Bologna, wo auf den Strassen eben eine Demonstration von Bankangestellten im Gang war! Die Uccellini hatten da ihre Adresse: ein richtiges altes Palazzo mit freundlichen, ein bisschen distanzierten Adligen (?), die nicht viel fragten, sondern einfach das Essen vor uns hinstellten. Ich weiss noch, dass mich doch eine leichte Beklemmung befiel, als unser schon ein bisschen abgerissenes Trüppchen mit dürftigem Schuhwerk durch das herrschaftliche Palazzo stiefelte. (Holger Meins hatte sich von uns schon getrennt, war nach Turin gefahren.)

– dann wieder in München: Alf Brustellin in seinem kleinen Apartment setzte für uns eine Suppe auf den Herd und steckte, glaube ich, GPS noch ein bisschen Geld zu.

(Was die ‚Berlinale’ Ende Juni 1968 betrifft – und weshalb die Vorführung der DFFB-Filme dort verhindert werden musste –, möge man nachlesen in ‚shomingeki’ Nr. 16, Frühling/Sommer 2005, S. 37/8.)

Ein Abschnitt noch aus „Die Spur“ von Eike Gallwitz (ebenfalls DFFB-Student), so ziemlich dem schönsten ‚Erlebnisbericht’ über jene Zeit, den ich kenne (erschienen 1981 in ‚Rogner’s Edition’ bei Ullstein, aber vermutlich an die zehn Jahre früher geschrieben). Die geschilderte Episode könnte sich 1969 oder 1970 abgespielt haben:
„An einem Samstag fahre ich nach Rom. Es ist heiss, die Strassen schwirren im Licht. Viel Jugend vor den Cafés, lümmelnd im Hosenschnitt, Kettchen und Ringe, das Zurückstreifen der Haare der Frauen, wenn sie lachend sich zurückbiegen auf ihren weissen Gartenstühlchen, die Fremden im Vorübergehn zu betrachten.
Auf der Piazza Navona treffe ich eine Berlinerin. Sie kennt Holger!
Mehr: er ist in Rom! Mit meinem Opel!
Ich lasse meinen Capuccino stehen und stürze ins Gewühl. Ich bin überzeugt, ihn zu finden! Ich umkreise das ganze Viertel um die Piazza Navona. Nach drei Stunden gebe ich auf. Da sehe ich ihn im Getümmel der Via del Corso. Ich presche los, die Ampel schaltet von Rot auf Grün und mein alter Schlitten entgleitet im Schwarm der Fiats in Richtung der Piazza Venezia. Ich trinke ein Schweppes und trampe nach Bracciano zurück.“ (A.a.O., S. 126.)

2 Kommentare zu “ITALIENREISE 1968.”

  1. Siegfried Schober schreibt:

    Es spielte sich manches ganz anders ab damals in Pesaro, aber „jedem seine eigene Erinnerung“. By the way, who was Siegfried Schober’s girlfriend? Ich erinnere mich nicht. Schober schrieb übrigens für die „Zeit“ über Pesaro. Und sensibel war er damals zum Glück noch nicht, im Gegenteil, das wurde er später, bedauerlicherweise. Aber Pesaro, daran erinnert er sich heute noch gerne – auch an die anschließende Fahrt nach Rom und das Wohnen bei italienischen Regisseuren, die weit entfernt von der Spießigkeit deutscher Filmartisten waren. Nice to see this website, love it.

  2. Johannes Beringer schreibt:

    Ihren kryptischen Satz (mit dem „sensibel werden“) kann ich nur auf die Ausübung Ihres Berufs als Filmkritiker beziehen. (Keine Ahnung, wie es Ihnen da ergangen ist.) Meine Sätze – auch schon dreissig Jahre alt –, die sich da oben auf Sie beziehen, sind spätes Politgepolter: aber ich habe ja meinen Text als Dokument genommen, um in die Zeit zurück zu steigen.

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