Montag, 18.01.2010

Erinnerungen eines Filmkritikers an das Jahr 1965

Wir haben ein altes Grab auf einem Friedhof entdeckt.
Wir haben das Grab geöffnet.
Wir haben den Sarg rausgetragen.
Wir haben den Sarg geöffnet.
Wir haben eine Mumie gefunden.
Uns ist es gelungen, die Mumie zum Leben zu erwecken.
Die Mumie hat einen Film gemacht.
Und dieser Film war GERTRUD.

*

Das erzählt Michel Delahaye im zweieinhalbstündigen Porträt LE CARRÉ DE LA FORTUNE, F 2007, Regie: Pascale Bodet und Emmanuel Levaufre. Im Hintergrund sind lautes Löffelklappern und Gespräche von den Nebentischen im Café zu hören, deshalb habe ich nicht genau verstanden, ob er das über sich selbst, damals bei den Cahiers an der Seite von Rivette, oder über andere Filmkritiker sagt. Über sich selbst sagt er jedenfalls, dass er damals über Carl Theodor Dreyers Film hätte schreiben sollen, das aber ablehnte: Er glaubte nicht, dem Film gewachsen zu sein. Dass es ein zweieinhalbstündiges Porträt von Michel Delahaye gibt, finde ich erstaunlich; damals, als ich ein paar Notizen zu Delahaye schrieb, dachte ich, das sei der Auftakt zu einer Reihe von Texten, die ich »Zentrale Nebenfiguren des französischen Kinos« nennen wollte. Daraus wurde nichts, das heißt, doch: die Reihe existiert weiterhin in meinem Kopf, ich habe sie nur nicht geschrieben. Die zweite Folge hätte von Jean-François Stévenin handeln sollen, und vielleicht kann man auch den Moullettext als Beitrag gelten lassen. Jetzt also diese DVD mit dem Delahaye-Porträt. Über Delahaye könnte man in etwa das sagen, was er über Dreyer sagt: Er schien begraben, bis ihn ein paar junge Kritikerinnen und Kritiker von La lettre du cinéma, darunter neben Bodet und Levaufre auch Serge Bozon und Axelle Ropert, Ende der 90er Jahre wiederbelebten. Dafür ist dann vor einigen Jahren La lettre du cinéma verstorben, vor allem, weil die Redaktionsmitglieder sich verstärkt den eigenen Filmprojekten zuwandten. Es ist merkwürdig, dass sich Baudet und Levaufre mit Delahaye in das lauteste Café von ganz Paris setzen (oder mit einem Mikrophon arbeiten, dass jedes Café zum lautesten von Paris macht), vielleicht ist es sein Lieblingscafe. Später wird das mit dem Ton offenbar besser, da befragen sie ihn in seiner Wohnung, schreibt mir ein Freund, aber so weit bin ich noch nicht.

3 Kommentare zu “Erinnerungen eines Filmkritikers an das Jahr 1965”

  1. Stefan Flach schreibt:

    Hab Dank für Dein Delahaye-Portrait, Volker – und all die Liebesarbeit, die Du immer wieder in die Erkundung der französischen Filmkritik hineingibst. Über so viele Leute weiß man nichts oder fast nichts, und da ist es von großem Wert, wenn einer hingeht, scharrt, gräbt und Dinge ausfindig macht.

    Zu Delahaye: lebt der Mann eigentlich noch? Ich hab da schon Widersprüchliches gelesen. Zitat aus einem Interview mit Rivette, das Karlheinz Oplustil 1990 geführt hat – JR: „Ich freue mich darauf, die Schauspieler (aus „Out 1″, den er damals gerade neu montierte) wiederzusehen, von denen einige, wie Sie sicher wissen, inzwischen verstorben sind: Juliet Berto, Jean Bouise, Jacques Doniol-Valcroze, Michel Delahaye“.
    Mmm. Würde mich wundern, wenn JR das einfach ins Blaue hinein gesagt hätte. Darüberhinaus weiß ich von zumindest zwei deutschen Kritikern, die ebenfalls glauben, dass Delahaye schon nicht mehr lebe.
    Kann man da vielleicht etwas Definites herausbekommen?
    Das Pariser Online-Telefonbuch sagt übrigens: „Il n’y a pas de réponse pour Michel Delahaye à Paris“.

    Hier noch was Hübsches – ein Ausschnitt aus Rouchs „Petit à petit“
    http://www.youtube.com/watch?v=M9uDzqpL6QQ

    MD taucht nach etwa fünf Minuten auf. Die junge Dame „au dents foutues“, die sich von Damouré Zika in den Mund gucken lässt, ist übrigens Sylvie Pierre.

  2. Volker Pantenburg schreibt:

    Doch doch, er lebt. Zumindest lebte er, als die beiden ihn interviewten, das muss 2007 oder kurz vorher gewesen sein. in LA LETTRE DE CINEMA hat er ja regelmäßig geschrieben (in den Ausgaben 12, 15, 20, 22, 24, 26, 31, wie man auf der leider nicht besonders aktuellen Website lesen kann, also zwischen 1999 und 2005). Mit ein bisschen geduldiger Clickerei sieht man dann auch, wovon seine Artikel da handelten. Und er spielt, glaube ich, auch in einigen Filmen der Redakteure mit.

    Vielleicht hat er kein Telefon oder keine Lust angerufen zu werden.

    Schöne Stelle bei Rouch, kannte ich nicht. Ist ja quasi zeitgleich mit OUT 1, wo er selbst den Ethnologen spielt.

  3. Stefan Flach schreibt:

    Sehr gut! Das lese ich gern. Es wäre interessant, zu erfahren, was Rivette vor zwanzig Jahren zu jener Aussage gebracht hatte – ein falsches Gerücht? Sonderlich eng können er und Delahaye damals nicht mehr gewesen sein.

    Nun würde ich noch gerne wissen, wie man den Namen Delahaye eigentlich ausspricht – aber das klärt man wohl besser ein andermal, wenn man sich wieder über den Weg läuft …

    Am Rande: in „Out 1“ trägt Delahaye die genau gleichen Klamotten wie in „Petit à petit“. Zu Rouchs Film noch eine Erinnerung von Rivette (gleiches Interview wie oben):
    „Das war ein Jahr vor „Out“. Ich erinnere mich noch gut: es war Sommer und sehr warm, ich hatte nicht viel zu tun, da bekam ich am Morgen einen Anruf, daß Rouch nachmittags seinen Film „Petit à petit“ im Rohschnitt vorführte. Das fand in einem kleinen Kino in der Nähe der Champs Elysées statt, es waren nur Mitarbeiter von Rouch und einige Leute von den Cahiers da, wie Sylvie Pierre und Michel Delahaye. […] Bei diesem Rohschnitt gab es noch doppelte Einstellungen und Stellen, wo der Ton fehlte, und die Vorführung dauerte elf Stunden. Sie fing nachmittags um eins an und ging – mit nur ein paar kleinen Pausen, um Luft zu schnappen – bis Mitternacht. Es war ganz außergewöhnlich und hat mich so sehr beeindruckt, daß ich ein Jahr später, als mein Projekt noch sehr vage war, wieder an diese lange Vorführung dachte.“

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