Brief über Delahaye
Das Delahayeporträt, das ich neulich kurz erwähnte, würde Dir gefallen, ich hab das gestern noch zuende geguckt.
Nach den zwei Gesprächen mit ihm in Pariser Cafés, bei denen irgendwas mit dem Ton nicht stimmt und die Nebengeräusche oft lauter sind als seine Antworten und Erzählungen, kommt ein über 30 Minuten langer Reigen aus Filmausschnitten, in denen Delahaye als Schauspieler zu sehen ist. Auch in den sechziger Jahren hat er bereits gelegentlich kleine Rollen übernommen, in ALPHAVILLE sieht man ihn an der Seite von Anna Karina, in BANDE À PART steht er unten an der gewundenen Treppe, die die Jungs (Anna Karina auf den Fersen und sehr in Eile) hochwetzen zum Englischunterricht. Regelmäßiger spielt Delahaye dann nach seinem Rauswurf aus den Cahiers, das muss ungefähr 1970 gewesen sein. Ziemlich toll sieht der Ausschnitt aus Jean Rollins LE FRISSON DES VAMPIRES aus, den ein IMDB-user, der sicher mehr davon versteht als ich, dem Genre des „French Hippie Horror Art Film“ zuordnet. Der deutsche Verleihtitel lautete damals SEXUAL-TERROR DER ENTFESSELTEN VAMPIRE. Seit diesem Film listet die IMDB 85 Filme auf, in denen Delahaye mitspielt. Darunter viel Vecchiali und mehrere Filme von Moullet, dem er sich vielleicht auch deshalb verwandt fühlte, weil beide nicht aus intellektuellen Verhältnissen kamen, als sie in den späten Fünfzigern zu den Cahiers stießen.
Eine sehr schöne lange Sequenzeinstellung an einem Hafen. Danielle Darrieux und Delahaye. Er hat sie gerade angesprochen, die beiden schreiten gemessenen Schrittes an der Mole entlang; er sagt etwas in der Art von: Ah, Mademoiselle, ich sehe sofort, dass Sie aus einer Hafenstadt stammen und beginnt dann, über die eigene Vergangenheit in einer Hafenstadt zu sprechen. Seine Sprache ist sehr lyrisch, ohnehin hat Delahaye eine sehr klare und melodiöse Betonung und einen leicht singenden Tonfall. Ein bisschen denkt man an Jacques Demy, zumal Delahaye in den Credits als „le Nantais“ aufgeführt wird. Auch dieser Film ist von Vecchiali. Er heißt EN HAUTE DES MARCHES und ist 1983 entstanden. Gut möglich, dass es da wirklich eine Verbindung gibt, denn unmittelbar vorher hat Demy UNE CHAMBRE EN VILLE gemacht, ebenfalls mit Darrieux. – Kanntest du UNE CHAMBRE EN VILLE eigentlich, bevor er bei der Bitomsky-Begrüßung hier im Arsenal vor ein paar Jahren gezeigt wurde? Ich glaube, ich hab ihn erst später in Wien zum ersten Mal gesehen, in der Demy/Varda-Retro. Der Film ist einer von denen, deren Titel bei mir schon lange bevor ich ihn kannte, eine vorfreudige Kette von Bildern und Assoziationen auslöste. Wenn man nicht so träge wäre, sollte man sich die Mühe machen, die Vorstellung von Filmen festzuhalten, bevor man sie dann irgendwann sieht. Das Ergebnis stelle ich mir vor wie die seinerzeit verlinkten Filmplakate aus Ghana.
Entschuldige die Abschweifung, ich wollte eigentlich vom zweiten Teil des zweieinhalbstündigen Porträts erzählen, der nach diesem Schnelldurchlauf durch die Schauspielkarriere Delahayes folgt. In diesem zweiten Teil besuchen Pascale Bodet und Emmanuel Levaufre den knapp 80-jährigen Delahaye zuhause – die Filmaufnahmen sind von 2006 oder 2007, Delahaye ist 1929 geboren. Ohne die ständigen Nebengeräusche kann man dem Gespräch jetzt besser folgen als den Unterhaltungen im Café. Diesmal filmen sie mit zwei Kameras, die Schnitte zwischen Delahaye auf der einen Seite des niedrigen Couchtischs und den beiden gegenüber sind sehr eigenwillig und etwas ungeschickt rhythmisiert, die Taktung hat wenig mit der Taktung des Gesprächs zu tun. Aber eigentlich passt das ganz gut, weil auch das Gespräch aneinander vorbeiläuft und man merkt, wie unterschiedlich die Voraussetzungen sind, von denen aus die einzelnen Positionen formuliert werden.
Pascale Bodet fällt Delahaye regelmäßig ins Wort oder bittet ihn, sich kurz zu fassen. An einer Stelle denkt sie sich die absurde Regel aus, dass er ab jetzt nur mit „ja“ oder „nein“ antworten dürfe, aber die Fragen, die darauf folgen, sind sehr umständlich und können eigentlich gar nicht mit ja oder nein beantwortet werden. Immer wieder geht es um den Begriff der Moderne und um diese wichtige Periode im Kino und bei den Cahiers um 1963/64 herum. Der Streit zwischen Rohmer und Rivette, Sachen, die mich interessieren. Aber die Herangehensweise der beiden Interviewer mit ihren dicken Packen von Zetteln und vorformulierten Fragen hat auch eine groteske Komponente: Bodet will immer auf die großen Linien hinaus, wer da damals auf der Seite der Modernen war und wer nicht, welche Filmemacher wie eingeschätzt wurden, sie rattert ganze Listen runter. Als Zuschauer kann man sich nicht gegen die Mutmaßung schützen, dass sie über etwas spricht, das sie vorgestern gelesen und gestern in eine Frage umformuliert hat und er darauf aus der Perspektive dessen, der das vor 40 Jahren geschrieben hat, kaum antworten kann. Manchmal sagt er: Ich verstehe diese Frage absolut nicht, oder Ich kann dazu nichts sagen, und das hat nichts damit zu tun, dass er alt ist oder sich nicht erinnert. Es zeigt eher, dass der retrospektive, ordnende Blick von oben und die verblassende, lang zurückliegende Innenperspektive kaum etwas miteinander zu tun haben.
Mein erster Impuls war, die ganze Situation peinlich zu finden und mich zu wundern. Warum haben sie das nicht rausgeschnitten? Dann dachte ich: Nein, es ist genau richtig, diese Löcher und Lücken drin zu lassen, diesen Graben zwischen zwei Leute Mitte 30 und dem alten Mann, der aus den Sechzigern berichten soll. Dieses Scheitern ist allemal interessanter als es ein gut funktionierendes professionelles Interview je sein könnte.
Als ich dieses Porträt sah, musste ich an Gespräche mir dir denken, an Ausgesprochenes oder Unausgesprochenes, das mit diesem Weblog hier zu tun hat und mit dem starken Bezug auf Zeiten, die lange vorbei sind. Auf die offensiven (manchmal auch resignativen) Verweigerungsformen, die dir wichtig sind und mit denen ich auch die Filmkritik der siebziger Jahre zum Teil verbinde. Mit Recht kann man sich fragen, welchen Sinn und Zweck solche Erinnerungen an zurückliegende Zeiten eigentlich haben. Erinnerung ist ja nicht zwingend produktiv, und oft ist das, was man für Erinnerung hält, nichts anderes als sinnlose Beschwörung, Nostalgie. Tot, falsch, ohne jeden Bezug zur Gegenwart (man kann bei Bergson schöne Sätze darüber lesen, in „Materie und Gedächtnis“, aber ich habe das Buch nicht mehr hier, es musste zurück in die Bibliothek). Andererseits glaube ich, dass Du der erste wärst, der den Wert des Inkommensurablen schätzt. Der die Anlasslosigkeit und Idiosynkrasie des bindungslosen und merkwürdig erratischen Texts mag.
Ich weiß nicht, ob das besonders plausibel klingt, aber auch der Bezug zur Gegenwart kann in einem reinen Verwertungsverhältnis bestehen. Und wenn – nur mal so als Hypothese – „Gegenwart“ inzwischen ein Synonym für Käuflichkeit und Verkäuflichkeit (von Gedanken, von Texten, von Aufmerksamkeit) wäre, dann käme dem unzeitgemäßen und scheinbar wertlosen Anachronismus eine eigene Form von Wert zu. In diesem Sinne habe ich dieses Porträt verstanden, als Kollision eines sehr gegenwärtigen Wunsches nach der zitierbaren Antwort einerseits mit dem beharrlichen Unverständnis gegenüber den Fragen andererseits.
Zwei Dinge sind mir besonders in Erinnerung geblieben: Da ist die schöne Metapher der „Equipe“, mit der Delahaye die gelungene Zusammenarbeit mit anderen beschreibt. Natürlich war wieder nach den Cahiers gefragt worden (immer wird nach den Cahiers gefragt, eine richtige Obsession ist das, dabei ist Delahayes Zeit als Sozialarbeiter oder als Postbote vielleicht viel interessanter), aber Delahaye erläutert die Arbeit im Team an etwas ganz anderem: der Hafenarbeit. Als er am Hafen gearbeitet habe, vor seiner Zeit als Kritiker, habe er es immer fantastisch gefunden, wie die Arbeitsabläufe dort ineinandergreifen. Ein Schiff kommt an, die Leute laufen kreuz und quer um es zu entladen, die Lastwagen nehmen die Fracht auf. Es herrscht große Turbulenz, aber keiner stößt mit dem anderen zusammen. Es funktioniert. Bei den Cahiers sei das eine Zeitlang so ähnlich gewesen. Man habe das unter anderem daran ablesen können, dass es keine Redaktionssitzungen gab. Man hat ja ohnehin andauernd miteinander geredet, wofür braucht man da eine Redaktionssitzung? In dem Moment, in dem es Redaktionssitzungen und „den runden Tisch“ gab, sei die Sache den Bach runtergegangen.
Von den siebziger Jahren bei den Cahiers spricht er als der „Mea Culpa“-Phase; jeder Text sei ihm wie ein Absolutionsschreiben vorgekommen, entschuldigung, dass wir uns zu wenig um die Theorie gekümmert haben, entschuldigung vielmals, das holen wir jetzt nach, mit Marx, Lacan, Althusser und Freud. Er, Delahaye, habe zu diesem Zeitpunkt vollständig mit der Filmkritik gebrochen. (Für eine lange Zeit, bis jüngere Regisseure wie Bodet und Lefauvre, Serge Bozon und Axelle Ropert, ihn dazu animierten, in La lettre du cinéma wieder zu schreiben). Es wäre leicht, das als theoriefeindliches Ressentiment abzutun. In Wirklichkeit ist das komplizierter. Zusammen mit Rivette war Delahaye ja gerade derjenige, der die Öffnung der Zeitschrift für die Auseinandersetzung mit Lévi-Strauss, Barthes und anderen propagiert hat. Wie er erzählt, habe er auch die Jargonlastigkeit, die der Zeitschrift ab 1966 vermehrt vorgeworfen worden sei, erst einmal vehement verteidigt; man müsse sehen, was sich daraus ergebe, neues Denken braucht neue Begriffe etc. Aber dann, so verstehe ich ihn, habe sich die Terminologie von den Filmen ganz abgelöst und kaum noch etwas mit ihnen zu tun gehabt. Dabei stecke doch in einem filmkritischen Text von Rohmer genauso viel Theorie, aber sie ist nicht an den funkelnden Begriffen zu erkennen.
Am Ende erzählt Delahaye die bekannte Geschichte vom Priester, der bei einer Überschwemmung in seiner Kirche eingeschlossen ist. Das Wasser steigt, und als es ihm bis zu den Knien steht, kommt die Feuerwehr, die den übrigen Ort längst evakuiert hat, um ihn herauszuholen. Nein, lehnt er ab, Gott wird mich retten, und die Feuerwehrleute ziehen unverrichteter Dinge ab. Das Wasser steigt weiter und spült ihn im Kirchenschiff nach oben. Jemand kommt mit dem Boot angerudert und fordert ihn auf, einzusteigen. Nein, lehnt er ab, Gott wird mich retten. Als das Wasser noch weiter gestiegen ist und er auf den Kirchturm hat fliehen muessen, lassen die Rettungskräfte eine Strickleiter von einem Hubschrauber herunter, aber er bleibt standhaft. Nein, Gott wird mich retten. Das Wasser steigt weiter, er stirbt, kommt in den Himmel und beschwert sich bitterlich bei Petrus: Ich verstehe es nicht, sagt er, ich habe gebetet und gebetet, dass Gott mich retten wird, aber nichts ist passiert. Was soll das heißen: Nichts ist passiert, antwortet Petrus. Gott hat die Feuerwehrleute geschickt und Du hast sie abgelehnt. Dann hat er ein Boot gesandt, aber du hast dich geweigert einzusteigen. Selbst die Hilfe des Hubschraubers, mit dem Gott dich vom Kirchturm retten wollte, hast du ausgeschlagen.
Und wo ist die Analogie? – fragt Bodet Delahaye. Der antwortet: Der Priester ist die Theorie und Gott ist die Praxis.
Also, schau’ dir das bei Gelegenheit mal an, ich glaube, du wirst das mögen; die DVD hakt ziemlich, aber nach ein paar Fehlversuchen hab ich schließlich ein Gerät gefunden, in dem sie läuft.
20.02.2010 20:53
Möchte sagen, ich mochte diesen „Langtext“ zum Delahayeporträt sehr aus vielen Richtungen blickend. Aussergewöhnlich auch wegen der Web-blog trotzenden vertrauten Adressierung.