Montag, 29.03.2010

Niemand ruft

Nikt nie wola (Niemand ruft, Polen 1960) von Kazimierz Kutz scheint mir innerhalb der ‚polnischen Schule’ der 50er und 60er Jahre (Has, Kawalerowicz, Konwicki, Morgenstern, Munk, Rózewicz, Wajda u.a.) etwas Besonderes zu sein. Wenn diese Schule die Vorgaben des sozialistischen Realismus durch Anlehnung an den italienischen Neorealismus und an den amerikanischen ‚Film noir’ überwand, so geht Kutz in seinem Film noch einen Schritt darüberhinaus. Das sonst abendfüllende Sujet – ein ganz junger Mensch, Angehöriger der polnischen Heimatarmee, hat sich geweigert, auf ‚Rote’ zu schiessen und ist nun auf der Flucht – wird in den Hintergrund (und ins Off) verbannt und spielt erst ganz am Ende wieder eine Rolle. Der Anklang an Popoliu i diamentu (Asche und Diamant, Polen 1958) von Wajda ist allerdings nicht zufällig: nur wollte Kutz in seinem Film das romantisch Aufgeladene der Figur (dort von Zbigniew Cybulsky gespielt) und die dramatische Zuspitzung vermeiden.
Ein Eisenbahnzug, vollgepackt mit Flüchtlingen und Vertriebenen, fährt in einen Ort (im Film Zielno genannt) ein: das ist real das niederschlesische Habelschwerdt, danach Bystrzyca Kłodzka, aus dem die Deutschen vertrieben worden sind. Der Strom der Menschen ergiesst sich in die leere Stadt, Trinkwasser wird ausgeteilt, Unterkünfte und Wohnungen werden in Beschlag genommen. Zwei junge Menschen haben sich herausgeschält aus der Menge: Lucyna (Zofia Marcinkowska) und Bozek (Henryk Boukolowsky) – er hat eine baufälliges Haus, fast eine Hütte, am Fluss bezogen, sie lebt mit ihrer kleinen Schwester in einem mit ‚Internat’ bezeichneten Heim. Zwischen den beiden entspinnt sich eine Liebesgeschichte – doch der Film behandelt die Beziehung eher wie eine ‚Versuchsanordnung’, nimmt das Transitorische der Situation ernst und bleibt im wahrsten Sinn episodisch. Sehr viele Dialoge zwischen Lucyna und Bozek finden vor alten, fleckigen, abgerissenen Mauern statt – was die Körper, die Gesten, die Worte wie ‚ausgestellt’ erscheinen lässt. Das sind ‚optisch-akustische Situationen’. (Hinter dem Leichten, Flüchtigen, Episodischen macht sich jedoch immer wieder ein ‚Grundgefühl’ der Angst bemerkbar. Oder wie Reiner Schürmann in „Origines“ / „Ursprünge“ schreibt: „Mein Erinnerungsvermögen hat sich auf Angstzustände spezialisiert.“)
Zurecht weist Rafal Marszalek im polnisch-englischen DVD-Booklet auf den Zug zum ‚Antonionischen’ des Films hin, vergleicht die Kameraarbeit von Jerzy Wójcik mit der von Carlo di Palma [vielleicht könnte man auch an Gianni de Venanzo denken]. Der Film sei 1960, schreibt er, völlig verkannt worden und durch einen administrativen Akt etwa 25 Jahre lang nicht in den Verleih gekommen. Die polnische Kritik habe damals vor den „Gefahren des Modernismus“ gewarnt und sich gefragt, wovon der Film überhaupt handle. Ausser vagen, gelegentlichen Versuchen, sei diese artistische Spur erst mit dem Film-Debut von Skolimowski wiederaufgenommen worden. [Mir scheint jedoch, dass zum Beispiel auch schon der sehr schöne Polanski-Film Nóż w wodzie (Das Messer im Wasser, Polen 1962), dessen Drehbuch er zusammen mit Skolimowski schrieb, in diese Reihe gehört.]
Man könnte bei Niemand ruft zum Beispiel noch hinweisen auf das angenehme Wesen der Hauptdarstellerin – Zofia Marcinkowska –, ihr hübsches Aussehen (das sich im Verlauf des Films als sehr veränderlich erweist): sie hat es in ihrer Zeit immerhin auf die Titelseiten von einigen polnischen Zeitschriften gebracht. Nur blieb ihre Zeit sehr kurz bemessen: 1963, 23jährig, hat sie Selbstmord begangen.
Eine Nebenlinie des Films möchte ich noch erwähnen. Es gibt da einen gestandenen Menschen – ein Arbeitertyp, der zum ‚Wanderer’ geworden ist –, der beim Gang vom Zug in die Stadt von Bozek ein Glas Wasser verlangt (der hatte eben eine Wasserflasche erstanden). In der Stadt, bevor er verschwindet, ruft er Bozek über die Menge hinweg zu, dass er vielleicht morgen schon Bürgermeister sei. Danach sieht man ihn allerdings nur immer am Brückengeländer stehen und auf den Fluss hinunterstarren. Die Qualität des Wassers behagt ihm nicht, die ist in dem Ort, aus dem er gekommen ist, besser. Bozek muss des öfteren an ihm vorbeigehen, zögert hie und da ein bisschen, aber gesellt sich dann regelmässig zu ihm, wechselt ein paar Worte. Mehr nicht. Dieses Nicht-einfach-Vorbeigehen, das er da zu einer Regel macht, bürgt doch auch schon für etwas – oder nicht?

Schreiben Sie einen Kommentar

Sie müssen angemeldet sein, um zu kommentieren. Ein neues Benutzerkonto erhalten Sie von uns, bitte dazu eine Email mit gewünschtem Username an redaktion(at)newfilmkritik.de.


atasehir escort atasehir escort kadikoy escort kartal escort bostanci escort