Filme von Pierre Zucca
Von Johannes Beringer
Ein ‚coffret’ mit 4 DVDs ist erschienen – womit ein Teil des Werks von Pierre Zucca (1943 – 1995) vorgestellt wird. Zucca war ‚photographe de plateau’ – also Standfotograf am Filmset (zuerst 1963 bei Judex von Franju, dann bei Rivette, Truffaut, Chabrol, Malle, Eustache und anderen) –, aber erst jetzt wird so richtig klar, welcher Cineast aus eigenem Recht Pierre Zucca war. Auch in Frankreich scheint diese Ansicht sich erst in letzter Zeit durchgesetzt zu haben (der ‚coffret’ ist 2007 erschienen) – nun setzt man seinen Namen, was die Regisseure der ‚Post-nouvelle-vague’ betrifft, etwa neben den von Eustache. Einige Cineasten scheinen jedoch Zuccas Können und Zugehörigkeit zum Metier schon länger geschätzt zu haben – so vor allem Eric Rohmer, der bei Zuccas Beerdigung das Wort ergriffen und auf das Unterschätzte seiner Filme hingewiesen hat. (In einem englisch geführten Interview vom 26. Juni 2009 spricht Rohmer auch davon, dass sein Film Les amours d’Astrée et de Céladon, nach Honoré d’Urfé, 1568 – 1625, auf einen Vorschlag von Zucca zurückgehe, der diesen Stoff den ‚Films du Losange’ angeboten habe. Zucca habe jedoch auf die Realisation verzichten müssen, weil der Produzentin Margaret Menegoz das Projekt als zu kostspielig erschien.)
Zwei Filme (mindestens) gibt es in diesem ‚coffret’, die absolut bizarr sind: einmal Roberte von 1978 (Farbe, 100 Minuten) nach dem Buch von Pierre Klossowksi und mit Klossowksi selbst in der Hauptrolle, dann auch Le secret de Monsieur L von 1985 (Farbe, 59 Minuten) mit Michel Bouquet, Pierre Arditi und Irina Brook (der Tochter von Peter Brook). Letztere ist ‚Agathe’, ein ‚optisches Phantom’, denn das Ganze spielt sich in der Villa eines Erfinders ab, der Bilder dreidimensional von aussen (zum Beispiel von der Strasse vor dem Haus) nach innen projizieren kann. Der Film, der Plot ist ein optisch-akkustisches Verwirrspiel, das sich aber Gerätschaften bedient, die real sind oder real da gewesen sein müssen … denn sie werden ja vom Hausherrn Bouquet alias Victor Lumen vorgeführt. (Eine Phantastik, die nichts mit Kopierwerktricks und dergleichen zu tun hat, sondern ganz auf die Materie Film und auf die reale Augentäuschung abstellt.) Das Besondere ist, dass das Phantom Agathe, in das sich der von Arditi gespielte Journalist und TV-Moderator natürlich verliebt, nicht ‚erlöst’ werden kann – obwohl es selbst Zeichen gibt, dass es aus dieser ‚Parallelwelt’ herauswill. (Keineswegs ein weibliches ‚Doppelwesen’ wie in dem sehr altdeutschen, aber technisch avancierten Phantom von Murnau von 1922.)
Und Roberte, mit diesen klossowskischen Fetischen und Ritualen und dem durchaus anwesenden politischen Subtext, ist wieder ein ganz anderer Fall – ein Film, der, wie gesagt worden ist, der Vorlage nichts von ihrem Befremdlichen und ihrem Hermetismus nimmt. (Ich kann hier noch anfügen, dass die Übersetzung von „Die Gesetze der Gastfreundschaft“, 1966, in den besten deutschen Intellektuellenköpfen ein durchaus produktives Rumoren provozierte. Das Buch beruht auf der klossowskischen Trilogie: „Les Lois de l’hospitalité – La Révocation de l’Édit de Nantes / Roberte ce soir / Le Souffleur“, 1959, 1953, 1960.) Dann soll noch erwähnt sein, dass neben Klossowski und seiner Frau, Denise Morin-Sinclaire (= Roberte), ein ganz jung und studentisch aussehender Frédéric Mitterand hier einen Auftritt als ‚Bankangestellter’ hat, ebenso sind zu sehen Barbet Schroeder, Michel Berto, Juliet Berto, Max Berto, Jean-François Stévénin, Daniel Schmid u.a. (Ein früherer Film von Pierre Zucca nach Klossowski, La Cage de Pierre, 1968, 35 Minuten, auch bekannt als La Gouvernante abusive, ist in dem ‚coffret’ nicht mitenthalten.)
Nach der Ansicht von Vincent mit l’âne dans un pré (et s’en vint dans l’autre) von 1975 (Farbe, 102 Minuten) ist mir plötzlich klar geworden, woher Fabrice Luchini seine doch ziemlich outrierte Art des Spiels haben könnte – nämlich von Michel Bouquet, der hier seine schauspielerischen Exzentritäten oder Verschrobenheiten zelebriert und zudem Luchinis Filmvater ist. Der Plot arbeitet Bouquet natürlich zu: er spielt, mit dunkler Sonnenbrille, einen angeblich blinden Kopisten von Statuen und lebt mit seinem Sohn in einem Haus in der Banlieue, Wohnung und Atelier, in dem Kunden erscheinen, gehören zusammen … Erst als dem Filmsohn Luchini klar wird, dass sein Vater ihn täuscht – nächtliche Besuche einer distinguierten Dame (Bernadette Lafont) lassen den Schluss zu, dass er eine Maitresse hat, die auch noch Auktionarin ist –, beginnt er sich Gedanken über seine Abhängigkeit zu machen. Aber ebensowenig wie das väterliche ‚Geheimnis’ sich ganz aufdecken lässt, kann er von dieser Abhängigkeit ganz lassen … Was ohne weiteres den Schluss zulässt (vom Film aufs Leben), dass Luchini nach dieser allerersten Rolle auch fürderhin auf den Spuren seines Filmvaters wandelt – bis fast ununterscheidbar ist, ob er das (irgendeine Filmfigur) jetzt nur spielt oder ob er so ist.
Die weitere Dimension (aus dem Leben) ist dann die, dass in Pierre Zuccas Filmen tatsächlich sein Vater umgeht: der renommierte Fotograf André Zucca (1897 – 1973) der in den dreissiger Jahren für ‚Paris-March’ oder ‚Paris-Soir’ gearbeitet hat, während der Okkupation aber auch für ‚Signal’, das nazistische Propaganda-Magazin. Sein Sohn, der ja sein Handwerk von ihm gelernt hat, muss sehr intensiv über dieses ‚Doppelspiel’ mit Bildern nachgedacht haben. In der Zeitschrift ‚Obliques’ (Numéro spécial zu „Roberte au cinema“, Paris 1978) diese Stelle (ich übersetze): „Wie man Bilder anschaut, und nicht nur in dem, was sie abbilden, sollte ins eigene Wissen eingehen. Die Frage ist nicht, ob das abgebildete Faktum real ist oder imaginiert und ob man das weiss – wie wenn in dem einen mehr Wahrheit läge als in dem andern! –, sondern die Frage ist, ob man die Moral zutagefördert, die der Stil enthält, mit dem das Bild sich dem Blick darbietet.“ Und an anderer Stelle (Antwort auf eine Umfrage von ‚Libération’, Mai 1987): „Als Antwort auf die Frage ‚Warum filmen Sie?’, gelange ich zu dieser Absurdität: ich filme, um das zu sehen, was ich, wenn ich nicht filmen würde, nicht sehen könnte.“
Ausser dem Kurzfilm Méfiez-vous d’echo (1984, Farbe, 17 Minuten) gibt es in dem ‚coffret’ noch zwei Langfilme:
– Rouge-Gorge (1984, 103 Minuten) nach einem Buch von Suzanne Schiffman (der Mitarbeiterin von Truffaut), mit Philippe Léotard und seiner Tochter Laetitia;
– Alouette, je te plumerai (1987, 90 Minuten), worin Claude Chabrol (der Film ist ganz auf ihn zugeschnitten) eine ‚diebische Elster’ spielt, die sich – aus dem Krankenhaus entlassen – mit falschen Versprechungen bei einem Pärchen (Luchini als Fahrer einer Ambulanz und Valérie Allain als Krankenschwester) einnistet und von ihm versorgen lässt.
Wer mehr zu Pierre Zucca erfahren will, sollte die Nr. 33 der französischen Filmzeitschrift ‚Vertigo’ zur Hand nehmen (erschienen 2008). Neben Kritiken und Interviews mit Chabrol und Stévénin gibt es darin den aus intimer Kenntnis sprechenden Text ‚Z aux Oiseaux’ von Jean-André Fieschi, denn die beiden waren zusammen auf dem ‚Lycée’ und erlebten auch gemeinsam ihre Anfänge in ‚Cinématophilie’. (Ein früherer Text von Fieschi, ‚Correspondances’, ist nach Zuccas Tod in ‚Limelight’, Strasbourg, November 1995, erschienen.) Die ‚Vaterfrage’ wird von Hervé Aubron in dem Text ‚Le papa est la putain’ gestellt. Von Pierre Zucca selbst werden Auszüge (aus den für die Presse bestimmten Dossiers) zu einzelnen Filmen abgedruckt, sowie Fotos zu Klossowskis Erstveröffentlichung von „La monaie vivante“ (Paris 1970; Neuübersetzung „Die lebende Münze“, Kadmos, Berlin 1998).