Freitag, 07.05.2010

Mit Harun lernen

1987. Unschlüssig, was ich denn nun nach zwei Jahren aus dem Glück machen sollte, an die Filmakademie in Berlin aufgenommen worden zu sein, hatte ich ein Urlaubsjahr beantragt, arbeitete gegen Geld zunächst in Berlin für die Internationale Bauausstellung, um dann sechs Monate bei meiner Freundin in Kensington zu verbringen. Damit tendierten die Ausgaben für die Miete gegen Null. Und zum Broterwerb pflegte ich die Key Gardens von Notting Hill, jene Gärten, die dann im Jahre später gedrehten Film NOTTING HILL eine Schlüsselrolle spielten. Rasen mähen, Bäume beschneiden, vom Sturm gebrochene Äste beseitigen. In den kommunalen Gärten zwischen den Häusern in der Mitte der Stadt trugen wir so einen riesigen Haufen von Gartenabfällen zusammen, den Mouse, mein Chef, entzündete, um sich sodann wegen dringender Bankgeschäfte alsbald zu verabschieden. Bei seiner Rückkehr hatte ich bereits drei angerückte Feuerwehrlöschzüge davon überzeugt, dass alles ganz harmlos sei – no offence intended. Mouse war ein Spitzname, der aus seiner Zeit als Roadie bei Manfred Man’s Earth Band herrührte. Schlank wie er war, konnte er noch als Letzter in voll bepackten Sattelschleppern durch enge Gassen bis ans hintere Ende des Lasters kommen. Mittlerweile hatte er sich der Gartenpflege in Notting Hill und um Hampstead Heath herum verschrieben, eine Familie gegründet und bildete für mich einen der wenigen vertrauten Bezugspunkte in der Fremde – für mich als Spross einer generationenübergreifenden Dynastie von Gärtnern, Baumschulern und Floristen. Das erste Mal für längere Zeit und nicht nur auf Urlaub im Ausland zu sein, macht unabdingbar bewusst, dass eine fremde Sprache auch ein fremdes Denken und ein anderes kulturelles Interesse bedeutet. Das mag banal klingen, aber wenn man sich dem einmal mit der ganzen Person ausgesetzt hat, gibt es kein Entrinnen. Aber es gibt das Goethe-Institut.

Wie ich darauf kam, ich könnte vielleicht über das Goethe-Institut eine Verbindung zur londoner Filmwelt herstellen, weiß ich nicht mehr. Es hat auch nicht funktioniert. Allerdings gab es eine Aufführung des Films ETWAS WIRD SICHTBAR von Harun Farocki. – In der Nähe der Royal Albert Hall gelegen, war das Goethe-Institut von Notting Hill aus durch Kensington Gardens zu erreichen, und so hatte die abendliche Vorstellung für mich den Charakter eines Proms Konzertes – schreiten und dann Kultur. Von den in etwa 50 Zuschauern hielten bis zum Ende des Films wohl 20 durch. Auf einen denkenden Film hatte man in London zu jener Zeit nicht gerade gewartet. Selbst die deutsche Mitarbeiterin bei Goethe machte einen ratlosen Eindruck und war sich nicht sicher, was sie von dem Werk halten sollte. Es war das Jahr, da Kubricks FULL METAL JACKET in die Kinos kam, ein Film, der mich seltsam unberührt ließ. In ETWAS WIRD SICHTBAR dagegen traf ich auf verschiedentlich Bekanntes. Tatsächlich hatte ich den Film zuvor schon einmal gesehen, wovon aber nur verschwommene Erinnerungen geblieben waren. Bei Eintritt in die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin wurden die Studenten seinerzeit auf das Intensivste mit den Arbeiten der Pioniere dieser Schule bekannt gemacht, so dass einem zum Schluss der Überblick schon abhanden kommen konnte. Harun selbst war mir bis dato nur ein- oder zweimal in der Akademie über den Weg gelaufen. Er war der mysteriöse Filmemacher, von dem aufgeregte Theaterwissenschaftsstudenten bei meinen ersten Berlinbesuchen 1978 erzählten, er hätte als Akt der Guerilla-Promotion die Wände der Stadt mit dem Schriftzug seines Films ZWISCHEN ZWEI KRIEGEN besprüht – ein unorthodoxes Verhalten, das durchaus goutiert wurde. – Vertraut war mir also weniger der Film als Film sondern seine Arbeitsweise und eine Art zu denken oder besser vielleicht sein Habitus – der Habitus der Demut. Schon die Ouvertüre des Films macht das vielleicht deutlich:

Ein Paar promeniert an einer abendlichen Schaufensterfront entlang.

Er: Du bist schön.
Sie: Warum ist das wichtig, Schönheit?
Er: … denn das Schöne bedeutet, das mögliche Ende der Schrecken.

Sie schauen sich dabei nicht an, als hätten sie genug damit zu tun, ihren Worten nach zu lauschen. Die Einstellung beginnt mit einem Schwenk über ein Ladenschild, das BILLIGE ROMANE feil bietet. Schönheit wird gleichermaßen mit Trivialität und Hochkultur verschränkt, denn bei der letzten Textzeile handelt es sich um ein Literaturzitat.

Nächste Einstellung: Hanns Zischler, in der Hocke sitzend, reicht im Schlachthaus dem Schlachter eine leere Flasche, woraufhin dieser dem Tier das Messer an die Kehle setzt, die Schächtung vollzieht und mit dem sprudelnden Blut die Flasche füllt.

Zischler: Wir brauchen es für einen Film.

ETWAS WIRD SICHTBAR verhandelt das Töten, die Opferung, von Menschen im Krieg in Vietnam. Tatsächlich wird zu Beginn als symbolisch gemeinter Akt ein Tier getötet – agnus dei. Diese symbolische Handlung, die Ersetzung des Menschenopfers durch das Tieropfer, soll durch Wiederholung des Schrecklichen den Schrecken bannen, damit Schönheit Platz greifen kann. Die Darsteller sind Gedankenträger, wie gefangen in ihrer Gemessenheit, die der Ungeheuerlichkeit des Tatbestandes – Menschen töten Menschen – geschuldet ist. Nicht die Entspannung der Körper bei Straub/Huillet war hier zu sehen. Überhaupt einen Körper zu haben grenzt vielmehr schon an Schamlosigkeit. Das Paar bleibt körperlos, nur das Zeichen eines Paares, ohne Fleisch. Die Rigorosität der Form basiert aber meines Erachtens noch auf einem weiteren Tatbestand, der mir ebenfalls vertraut war. Es gibt noch einen direkten konfliktbehafteten familiären Bezug zum Nationalsozialismus in erster Generation. Diese Prägung meine ich zu verspüren. Doch habe ich die Dinge damals nicht ad hoc so verstanden. Sondern wie bei vielen anderen Filmen, zu denen ich immer wieder zurück gekehrt bin, gab es eine Ahnung vom Gehalt, der sich mir nach und nach und dabei weitergehend erschloss und erschließt. Filme Sehen je auch verstanden als Form der Produktion, als Herstellung von neuen Zusammenhängen und Entwicklung von Aneignungsmöglichkeiten. Die vielen Ausbildungen, die ich bisher in meinem Leben durchlaufen habe, galten mir in erster Linie immer zur Beförderung der Emanzipation, meiner Emanzipation und die der Welt. Vielleicht ist deshalb so wenig Verwertbares dabei herausgesprungen.

Sich zu Filmen in ein produktives Verhältnis setzen
(Titel eines Seminars von Harun Farocki an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin)

1988. Zurück in Berlin begann ich fast umgehend mit der Arbeit an meinem ersten eigenverantworteten Film. Ungefähr zur selben Zeit setzte die Lehrtätigkeit von Harun Farocki mit seinen Seminaren zum Filme-sehen-lernen ein. Die Akademieleitung hatte längst ihren Frieden mit dem einst Relegierten gemacht. Ich besuchte diese Lehrveranstaltungen sporadisch. Nebenher musste schließlich ein Film entstehen. Die Technik der Seminare war einfach. Harun schlug einen Katalog von Filmen vor, die man sich nacheinander erarbeitete. Erstes Sehen in der Kinoprojektion. Nach einer Pause versammelten sich die Teilnehmer um einen Schneidetisch, und der Film wurde Akt für Akt durchgegangen. Den Tisch bediente Harun zumeist nicht selber, sondern einer der Studenten. Sobald jemandem ein Wortbeitrag – welcher Qualität auch immer – zu dem Gesehenen einfiel, wurde der Film angehalten und der Einwurf von allen erwogen, gegebenenfalls zurückgespult. Das erfolgte in der Regel nach demokratischen Prinzipien, wenn auch Haruns Vorlieben und Missbilligungen für die verschiedenen Beiträge eine Rolle spielten. Je nach Film und Diskussionsbedarf konnte diese Behandlung des Materials ein bis zwei Tage dauern. Dann erneutes Sehen in der Kinoprojektion. Abschlussdiskussion und nächster Film. Der Diskussionsstil war durchaus cliquenhaft-sportlich. Wer sich darin nicht zurechtfinden konnte, redete eine Zeit lang für sich allein und blieb dann meistens fern. Raue Kumpelhaftigkeit und äußerste Empfindsamkeiten schlossen sich dabei nicht aus. Frauen wurden in diesen Seminaren äußerst selten gesehen – ich kann mich, ehrlich gesagt, an keine erinnern. Man musste mit Haruns Auffassungen nicht immer übereinstimmen. Doch kam es auch zu unverhofften Allianzen. Ich erinnere mich, dass es bei der Behandlung des Films EMPTY QUARTER/UNE FEMME EN AFRIQUE von Raymond Depardon zu heftigen Einwürfen seitens der Fußballerfraktion kam, darunter zwei heute in Deutschland bekannte Regisseure. Sie warfen dem Film so etwas wie falsche Unmittelbarkeit vor. Harun und ich dagegen fanden den Film gut, das Mädchen schön. Ein kolonialer Blick immer noch, sicher, aber das wurde auch gar nicht in Abrede gestellt. Und was kann ein Europäer in Afrika auch schon anderes tun, als sich dessen bewusst zu sein?

Die Filmauswahl folgte keinen Kriterien wie hoher Schule oder Kommerzkino. Tatsächlich stand hier DIE HARD neben Antonioni. Vielmehr ging es um den Nachweis, dass diese Hierarchien für das Kino keinerlei Bedeutung mehr haben, denn es gibt ebenso bodenlose Trivialitäten in BERUF REPORTER wie erhabene Momente mit Bruce Willis in DIE HARD. Billige Romane und Heiner Müller reichen sich wie am Beginn von ETWAS WIRD SICHTBAR überall die Hand. Zuweilen wurden die Seminarprogramme aus aktuellem Anlass kurzfristig umgestaltet. So kam zum Tode von Vilém Flusser Haruns Film zu Flusser zur Aufführung, und es gab an anderer Stelle das Fernsehinterview zu sehen, das Günter Gaus 1964 mit Hannah Arendt führte.

Zeit seines am Verstehen interessierten Lebens sucht man sich seine Lehrer selber – mir jedenfalls ging es so – die dann ungefragt die Stellung eines intellektuellen Vaters/einer intellektuellen Mutter einnehmen. Das galt schon für die Schule, sowie für mein erstes Studium der Freiraumplanung, in dem mich z.B. Haltung und Arbeiten von Gert Gröning maßgeblich beeinflussten. Auf Grundlage seines sozialwissenschaftlich-orientierten Planungsverständnisses leitete er Ende der siebziger Jahre die Aufarbeitung der Verstrickung einer universitär verfassten Disziplin Landschaftsplanung mit dem Nationalsozialismus ein. Immense gesellschaftliche Widerstände gegen dieses Vorhaben sind ihm bis heute gewiss. Dann gibt es die Helden der Filmgeschichte, die man nicht persönlich kennt, Kommilitonen, die in der Öffentlichkeit niemand kennt, deren Arbeiten aber wegweisend für mich waren, Persönlichkeiten wie Frieda Grafe, die ich nur sehr kurz kennenlernen durfte, und sicher auch Harun Farocki. Und das kam so:

1977 erschien das Buch MÄNNERPHANTASIEN von Klaus Theweleit, das ich als junger Student sofort kaufte und verschlang. Meinem Interesse für dieses Buch wurde aber an einer technischen Fakultät wie Freiraumplanung keineswegs Rechnung getragen. Da ich die Diskussion der theweleitschen Thesen in den Geisteswissenschaften nicht verfolgen konnte, ja nicht einmal von einer Diskussion wusste, vermutete ich, das Buch führe ein Schattendasein. Über Jahre traf ich niemanden – d.h. mit Ausnahme eines Philosophen/Mediziner- Freundes, der aber Ernst-Jünger-Fan war und deshalb für meinen Geschmack ausfiel – mit dem ich adäquat über MÄNNERPHANTASIEN hätte reden können. Nun ist der akkurate Umgang Haruns mit Literatur, die er seinen Filmen zu Grunde legt, von ihm selbst immer wieder akribisch nachgewiesen worden. Im Abspann werden die Titel oft nicht nur genannt, sondern das verlegte Buch ins Bild gerückt. Einmal sogar auf dem Hintergrund von Millimeterpapier – das ging mir dann doch zu weit. Nichtsdestotrotz hörte ich in einem seiner Seminare den Satz von ihm, er hätte immer einen Film machen wollen, auf den man sich bezieht, wie auf ein epochales Buch, das den Blick auf die Welt in ein neues Licht rückt, wie eben z.B. MÄNNERPHANTASIEN von Theweleit. Damit war er für mich zum intellektuellen Bezugspunkt geworden, auch wenn unsere Diskussionen nie so recht in Fluss kamen. Andererseits wurde er nicht müde, meinen ersten Film als eine solche Arbeit, die Dinge in ein neues Licht stellt, zu sehen und in der Welt zu verteilen. Das Publikum begegnete dem mit Unverständnis. Ich treffe noch heute Filmkritiker, denen bei meinem Namen einfällt, sie hätten einen Film auf Video von mir in ihrem Regal zu stehen. „Aber fragen Sie mich jetzt bitte nicht nach dem Inhalt!“

Zum Ende der 80er Jahre schlug ich Harun als Drehbuchberater für Abschlussfilme an der Filmakademie vor. Dem wurde entsprochen und so ging ich meinen Filmentwurf mit ihm durch. Das Treffen fand bei ihm zu Hause statt. Er hatte Wein und Käse bereitgestellt. Ja, und dann haben wir zwei, drei Stunden aneinander vorbeigeredet – mit dem Ergebnis, dass ich betrunken war und er auch irgendwie verzweifelt, weil er meinte, mir nicht hätte helfen zu können. Tatsächlich forderte er neben der Fokussierung auf Kleinigkeiten, die ich in diesem Stadium für irrelevant hielt, noch mehr anarchische Radikalität ein, als ich meinte, schon hineingelegt zu haben. So viel hatte ich zumindest verstanden. Zu einer Kneipenszene, die im fertigen Film nicht mehr vorkommt, machte er den Vorschlag, ab diesem Punkt sollten sich doch alle Darsteller bitte nur noch auf den Tischen bewegen. – Ja, kann man machen. Aber auch Unverständnis hilft weiter. Ich hatte mir natürlich einen Schulterschluss gewünscht wie: „Gut so, Junge. Weiter so!“ Die inhaltlichen Obsessionen der Studenten würde Harun aber nie antasten wollen. Das geht ihn sozusagen nichts an. An der Umsetzung kann man dann arbeiten.

Lehre, denke ich, ist für Harun nur von Interesse, soweit er am Lernvorgang beteiligt ist. Das setzt das Niveau von vorneherein sehr hoch an, nämlich bei ihm. Diese Haltung kann man anti-pädagogisch nennen, und ich habe sie Zeit meiner Ausbildungslaufbahn und danach als Erwachsenen durchaus adäquat immer wieder verteidigt. Erstaunt bin ich nach wie vor über die große Ernsthaftigkeit seiner Arbeiten, und manchmal auch erschrocken. In ETWAS WIRD SICHTBAR entwirft er das Bild von den Maschinen, die nur die Ränder und Ecken der Felder unbearbeitet lassen, da sie für diese Reste zu groß dimensioniert sind. In seinen eher theoretischen Arbeiten hat er sich immer wieder damit beschäftigt, wie die Weiterentwicklung der Maschinen zu immer kleineren unbearbeiteten Resten führt, diesen Rest aber nicht thematisiert. In seinen dokumentarischen Filmen wie DIE SCHULUNG, NICHT OHNE RISIKO sind der Teil der Verwertung und der Rest nicht voneinander geschieden.

Wolfgang Schmidt
13.08.2009

Deutsche Originalversion des Textbeitrages
Learning with Harun
in: Ehmann, Antje; Eshun, Kodwo (Hrsg.):
Harun Farocki – Against what? Against whom?
Koenig Books Ltd., London 2009, S. 166-170

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