Dienstag, 30.11.2010

Mit Annemarie Schwarzenbach ins Kino

Mündlicher Vortrag im Literaturhaus/Berlin am 20.06.2008, 20:00 Uhr

Vor drei Monaten etwa bin ich gebeten worden, ein paar einleitende Worte zu diesem Filmabend zu finden und vorzutragen. Und vor vier Wochen dann fand ich mich in diesem Programm als Cineast vorgestellt. Cineasten, sind das nicht diese vertrockneten Intellektuellen, leicht muffig, in dunklen Kinosälen zu Hause, um sich das Kino der Welt enzyklopädisch zu erschließen? Seltsam, dass sich mir das Wort Cineast mit Weltverlust und Weltflucht verband, dass es heute einen leicht verschrobenen Beigeschmack bekommen hat. Denn, so fand ich heraus, ursprünglich bezeichnete es die Filmemacher selbst, die der Welt mit der Kamera zu Leibe rückten. Und auch bei den späteren Filmliebhabern, die dann als Cineasten bezeichnet wurden, die Filmklubs und kommunale Kinos gründeten, handelte es sich um ein durchaus aktives Verhältnis zum Film. Und das versöhnte mich mit der Bezeichnung, denn selbst komme ich vom Filmemachen, bin also tatsächlich cinephil und Cineast. „Sich zu Filmen in ein produktives Verhältnis setzen“ – so der Titel eines Seminars von Harun Farocki an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Auch Filme Sehen kann man aktiv lernen.

Die Kinematographie besetzt inzwischen nicht mehr den Ort, an dem sich die Gesellschaft zuvorderst formuliert, rezipiert, widerspiegelt, so wie sie es wenigstens die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts lang getan hat. Andere, neue Medien haben sie verdrängt. Das ist es wahrscheinlich, was dem Wort Cineast mittlerweile den leicht musealen Charakter gibt. Zu Zeiten von LE SANG D’UN POÈTE und L’AGE D’OR, den Filmen, um die es im Anschluss gehen soll, war die Situation eine gänzlich andere.

Aber zuvor möchte ich noch auf eine andere Besonderheit hinweisen, mit der man sich als Filmemacher, zumal als Student an einer Filmakademie, konfrontiert sieht. Sind die Hürden der Aufnahmeprüfungen überwunden und legen sich allmählich die Freude und der Taumel darüber, Bestandteil des Systems Film zu sein, dann geht es – in aller Naivität – an die ersten Filmproduktionen. Natürlich bedeutet es einen enormen Schritt, konkret werden zu müssen, Nägel mit Köpfen zu machen. Der eigentliche Schock aber ist die Erfahrung der Ergebnisse. Nicht nur der eigenen, sondern auch der ersten Filme der Mitstudenten. Denn ist man nicht mit tumber Gefühllosigkeit geschlagen, merkt man schnell, dass jeder sich in seinem Werk offenbart und quasi nackt dasteht. Es führt kein Weg daran vorbei: Der Filmemacher befindet sich in seinem Werk an exponierter Position und es mag die Frage aufkommen: Wie kann ich solcherart Exhibitionismus rechtfertigen, wollte ich diese Entblößung so überhaupt? In jedem Fall mache ich mich sichtbar / hörbar / lesbar, und es gibt den Filmemacher, der diese Tendenzen unterstreicht, sich ausstellt, und den Filmemacher, der mittels geschickten Versteckspiels versucht, hinter seinem Werk zu verschwinden. Auch unter diesem Aspekt kann die Filmgeschichte aufgerollt werden. Und vielleicht werden Sie so Jean Cocteau als großen Exhibitionisten und Buñuel als raffinierten Versteckspieler kennenlernen.

Film bei Annemarie Schwarzenbach

Dass das Auftreten des Films auf der kulturellen Bildfläche das Schreiben maßgeblich beeinflusst hat, ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts allgemein anerkannter Stand der Diskussion, nur in welche Richtung, bleibt umstritten.

Auch für Annemarie Schwarzenbach war das Phänomen Film durchaus von Interesse. In kleinen Reportagen berichtet sie so z.B. von einem Ausflug in die Ufa-Studios in Babelsberg. Bei dieser Gelegenheit (1932) läuft sie – wie ahnungslos – an den Dekorationen des Films MORGENROT (Gustav Ucicky, 1932) vorbei, der heute als präfaschistischer Film eingestuft wird. Aus ihm stammt der bemerkenswerte Satz: „Zu leben verstehen wir Deutschen vielleicht schlecht, aber sterben können wir jedenfalls fabelhaft!“ Aber das nur nebenbei. – Sie schreibt zum Problem Filmregie und Filmmanuskript und findet andernorts Marlene Dietrich in BLONDE VENUS in Zusammenarbeit mit ihrem Regisseur von Sternberg einfach wunderbar. Später wird sie Marlene Dietrich zufällig in Österreich begegnen. Der Tagebucheintrag dazu lautet:
„Sehr schön, etwas dumm.“ (14.08.1936, Miermont: Eine beflügelte Ungeduld)
Für Annemarie Schwarzenbach lag die ästhetische Faszination des Films in seiner Betonung der physischen Präsenz der Dinge:

    „…die Ausdrucksweise des Films hat schon starke Wirkungen ausgeübt. Der Film hat mehr als jede andere Kunstgattung von den intellektuellen, abstrahierenden Neigungen zu lebendiger und unmittelbarer Anschauung zurückgeführt. Er lässt die Dinge reden und vermeidet es, Erklärungen zu geben.

    Man sieht und hört alle Vorgänge, auch die Ursachen und die Folgen von Gemütsbewegungen, und lernt, unmittelbar davon ergriffen zu werden.“ (Filmregie und Filmmanuskript)

Die genaue – auch in ihrer Auslassung genaue – Beschreibung der Oberfläche, ist es, was sie an der Filmtechnik begeistert, und sie findet diese Technik in der Literatur bei Hemingway aber auch bei Heinrich Hauser wieder. Sie selbst nennt DONNER ÜBERM MEER von Hauser, und lese ich ihren frühen, erst posthum veröffentlichten Roman FLUCHT NACH OBEN, so bin ich vom Stil her sofort an Hausers BRACKWASSER erinnert, auch wenn Sujet und soziale Ansiedlung gänzlich verschieden sind. Beide Autoren haben zudem ein unstetes Reiseleben geführt, beide haben photographiert und gefilmt, sind früh verstorben. So viel nur zu einer vermuteten Seelenverwandtschaft.

Schon Annemarie Schwarzenbachs erster Roman FREUNDE UM BERNHARD beginnt mit einer Eröffnung, die man als klassische Filmeröffnung begreifen kann. Aus einer totalen Stadtansicht kommt man über verschiedene Verengungsschritte zum Auftritt zweier Hauptfiguren ihres Romans. Lassen Sie mich das kurz demonstrieren:

    Totale bzw. Stadtimpressionen
    Um zwölf Uhr mittags drängen sich die Menschen aus ihren Arbeitsräumen, die Omnibusse und Tramwagen stauen sich, Polizisten stehen auf den großen Plätzen und regeln mit weißen Handschuhen den Verkehr; Radfahrer schießen zwischen den Wagen hindurch, die in langer Reihe vor einer Kreuzung stehen, immer neue Ströme von Menschen dringen aus geöffneten Türen, eilen die Treppen hinunter und mischen sich auf den Bürgersteigen mit der rastlos vorbeiziehenden Menge.
    Zoom/Halbtotale/Nahe
    Unvorsichtig versucht eine kleine Dame, sich zwischen den wartenden Automobilen hindurch zu drängen, ein junger Mann , der am Steuer seines Wagens sitzt, gibt warnende Signale und winkt ihr mit der Hand. Er trägt keinen Hut, sein dunkles Haar fällt von der Stirn, er ist von der Sonne verbrannt, selbst die Hände auf dem Steuerrad sind braun, man sieht es, weil er ohne Handschuhe fährt. Endlich gibt der Polizist ein Zeichen, ungeduldig schaltet Gert ein und fährt in der langen Reihe quer über den Platz. Durch eine Nebenstraße kommt indessen der Knabe Bernhard … (Freunde um Bernhard)

So können viele Eröffnungsszenen in Drehbüchern ausgesehen haben. Doch in Wirklichkeit möchte Annemarie Schwarzenbach über die reine Gegenständlichkeit hinaus. Das Abstrakt-Konkrete, um nicht zu sagen das Wesen der Musik hat es ihr angetan.

    „ … ich liebe nur die Sprache eines Buches. Es können triviale Dinge darin stehen, oder besser: gar nichts. Ich will keine Protokolle. Auch Taten sind gleichgültig: Die will ich erleben oder selber tun. … Musik ist ganz ohne Geschehen und dennoch lassen wir uns erschüttern. Ich möchte ein Buch schreiben, das man langsam und laut lesen könnte, und jeder Satz, selbst zusammenhanglos, wäre klangvoll und schön, so ungefähr wie im Kornett – … “ (Pariser Novelle II)

So schreibt sie in der Pariser Novelle II. Dabei handelt es sich um Fiktion. Dass sie aber tatsächlich ähnlich denkt, offenbart sich in einem Brief an Pfarrer Ernst Merz:

    „Es ist merkwürdig, dass außer Ihnen niemand das in meinen Schriften versteht, was mir Freude macht: die Art, der Klang, die Schönheit des Wortes. Ich schreibe fast nie einer Idee zu Liebe, sondern ein irgendwann aufgetauchter Gedanke ist nur die Grundlage und gibt mir die Mittel, schreiben zu dürfen. Der Inhalt ergibt sich von selbst, aber zu schreiben, zu formen – langsam, gleichsam musizierend zu schreiben: das gibt mir ein ungeheures Glücksgefühl.“ (bei: Fähnders, Walter: Annemarie Schwarzenbachs Pariser Novelle)

Der rhythmisierende Umgang mit Worten und die Orientierung am Wesen der Musik findet seine Entsprechung beim Film im Schnitt. Er gibt den Dingen einen Rhythmus, lässt sie klingen. Und ein großer Vorteil des Films gegenüber dem Schreiben besteht darin, dass die beim Schreiben unumgängliche Sprache immer schon sinnvoll ist, die physische Erscheinung der Dinge, die das filmische Bewegungsbild zeigt, aber nichts weiter als bloße Gegenständlichkeit darstellt, die nach Belieben arrangiert werden kann. Diesem Sinndiktat im Schreiben möchte Annemarie Schwarzenbach gerne entkommen und in diesem Bedürfnis lässt sich eine Nähe herstellen zu den Regisseuren der Filme des heutigen abends:

    „Ich beginne zu begreifen, ja, für die Dauer eines Augenblickes begreife ich, dass meine Sprache nicht verstanden werden darf! – ich will kein Gehör finden, meine Lieder sollen verhallen … ich nähere mich der Stummheit der Kreatur … .“ (Das glückliche Tal, 1939)

Das klingt dann fast schon wie bei Genet. Die Probleme in der Umsetzung stellen sich für Cocteau und Buñuel ähnlich kompliziert dar. Zu diesem Zeitpunkt ihrer Karriere haben sie beide quasi noch den Status des Künstlers, der u.a. auch einen Film macht, wie die Reihe der Schriftsteller, die Zeit ihres Lebens einen Film machten: Mishima (Harakiri), Jean Genet (UN CHANT D’AMOUR), Samuel Beckett (FILM mit Buster Keaton in der Hauptrolle).

Ohne ins haltlos Abstrakte zu flüchten, möchten sie die Konventionen des Erzählens, die sich gerade auch über die Einführung des Tonfilms mehr und mehr der Kinematographie bemächtigen, überwinden. Mehr noch als bei Cocteau könnte das für Buñuel unter der Prämisse stehen: Stop making sense! Das kann aber nur so lange funktionieren, wie immer wieder Anknüpfungspunkte an eine konventionelle Realität hergestellt werden.

Jean Cocteau macht mit LE SANG D’UN POÈTE einen Film über das Problem des Künstlers im Verhältnis zu seinem Werk, wobei für Cocteau Künstler immer schon als Dichter, mehr noch als Poet gedacht ist. Poet wohl auch deshalb, weil es dem Göttlichen vermeintlich näher steht und der griechischen Mythologie verbunden ist. Annemarie Schwarzenbach schreibt in ihrem Artikel über LE SANG D’UN POÈTE:

    „Das … entspricht der Ansicht Cocteaus, dass der Dichter von seinem Werk ‚gehasst und verschlungen‘ werde und dass ‚auf der Erde nicht gleichzeitig Platz sei für den Dichter und sein Werk‘.“ (Ein Film von Cocteau)

Und zu seinem filmischen Verfahren schreibt sie:

    „Aber Cocteau sagte auch, dass man während der Arbeit am Film sozusagen stehend schlafe, und das heiße soviel, wie unbewusst sprechen und sein Inneres öffnen und Dinge sagen, die man sonst niemand anvertrauen würde.“ (Ein Film von Cocteau)

Tatsächlich ist bei einer derart arbeitsteiligen künstlerischen Arbeit wie der Filmproduktion eine solche Methode schwer vorstellbar. Den Arbeitsprozess so traumtänzerisch darzustellen, scheint mir mehr zum Schutze des Unbewussten eingeführt vor einer Interpretation, die wieder vorschnell Sinn herstellen will. Denn anders als in der Psychoanalyse, die dem Unbewussten Fetzen entreißen möchte, um sie ins Bewusstsein zu heben, besteht der Film von Cocteau und mehr noch der Buñuels auf Unverständlichkeit und düsteren Ecken, die nicht zu erhellen sind und verstören sollen.

Das korrespondiert mit einem Satz aus A.S. Pariser Novelle II, in dem sie ebenfalls auf dem ungezügelt, dunklen, nicht domestizierten Arealen beharren will:

    „Denn Zivilisation ist feige. Sie lässt nur einen Teil des Menschen bestehen, der andere verkrüppelt und drängt sich nachher als hässlicher Zwerg hervor.“ (Pariser Novelle II)

Zurück zu Cocteau, der, unabweislich von der Schrift, vom Schreiben kommend und auch in seinen Zeichnungen der Schrift verhaftet bleibend, in seinem Film einen salbungsvollen Ton anschlägt. Seine eigenen Äußerungen zu dem Film bewegen sich stets im Rahmen poetischer Wendungen, die sich so ebenfalls immer im Vagen bewegen. (Er spricht z.B. von: Realistische Dokumentation unrealistischer Ereignisse.) Seine Darsteller sind angeblich nicht nach physischer Schönheit ausgesucht – sein chilenischer Hauptdarsteller zeichnet sich für Cocteau durch seinen leidenschaftslosen Ausdruck aus – doch der ganze Film ist durchzogen von hochgradiger sexueller Aufladung. Aber zum Inhalt:

LE SANG D’UN POÈTE

Ein Darsteller, halb Mensch, halb Statue, präsentiert die Werkzeuge, mit deren Hilfe der nachfolgende Film gemacht wird: Scheinwerfer, Filmgerätschaften.

1. Teil: verwundete Hand / Narben des Dichters
Ein Industrieschornstein bricht zusammen, mittendrin Unterbrechung.
Ein Künstler zeichnet ein Gesicht und erschrickt, als sich dessen Mund bewegt. Er versucht, ihn wegzuwischen, aber der bewegte Mund befindet sich jetzt in seiner Handfläche. Nachdem er versucht hat, den Mund loszuwerden, ihm dann aber auch erotisch zu begegnen, schläft der Künstler ein, um nach dem Erwachen den Mund an einer weiblichen Statue zu applizieren.

2. Teil: Haben Wände Ohren?
Die Statue drängt den Künstler, durch einen Spiegel zu gehen, durch den er zu einem Hotelflur gelangt. Hier schaut er durch verschiedene Schlüssellöcher:
– Erschießungsszene in Mexico
– Opiumraucher
– Flugschule
– Hermaphroditen
Der Künstler hat genug gesehen und kehrt durch den Spiegel zur Statue zurück, um diese zu zerstören.

3. Teil: Schneeballschlacht
(vgl. auch Zéro de conduit/Jean Vigo, 1933)
Bei einer Schneeballschlacht kommt ein Schüler durch einen älteren Schüler zu Tode.

4. Teil: Entweihung der Hostie
Über dem Leichnam des Schülers steht sodann der Tisch, auf dem der Künstler mit einer Frau Karten spielt und sich das fehlende Herz-As aus der Brust des Leichnams des Jungen zieht. Der schwarze Schutzengel des Jungen kommt, nimmt den Leichnam sowie das Herz-As aus dem Kartenspiel des Künstlers hinweg und verschwindet wieder. Daraufhin begeht der Kartenspieler Selbstmord unter dem Applaus des Publikums auf den Balkonen. Die kartenspielende Frau indes wandelt sich zurück in die zerstörte Statue.

Der Industrieschornstein bricht nun vollends zusammen. Der Film ist nach ca. 50 Minuten zu Ende und hat nur einen Augenaufschlag gedauert – die Zeitspanne eines Traums, wie uns der einstürzende Schornstein suggerieren will.

Kurz nach der Fertigstellung des Films im Jahre 1930 gab es Gerüchte, LE SANG D’UN POÈTE könne blasphemischen Inhalts sein. Da diesen Gerüchten die tumultartigen Auseinandersetzungen um den Film L’AGE D’OR vorausgingen – beide Filme wurden von Charles, Vicomte de Noailles finanziert und produziert, der sich dadurch diversen Verfolgungen ausgesetzt sah – wurde die Premiere um mehr als ein Jahr verschoben. Cocteau selbst spricht von 1931, an anderen Orten wird erst 1932 angegeben.

1929 drehte Luis Buñuel seinen ersten Film, UN CHIEN ANDALOU. Das Werk geht auf eine Idee von Buñuel und seinem Freund Salvador Dalí zurück, zwei Träume filmisch umzusetzen. Das Drehbuch entwickelten die beiden nach dem Prinzip des automatischen Schreibens (écriture automatique) innerhalb einer Woche. Ziel war, einen Film zu machen, der nichts symbolisieren und der keine logische Erklärung zulassen sollte. Nachdem UN CHIEN ANDALOU innerhalb von zwei Wochen zum größten Teil in einem Pariser Atelier gedreht worden war, stellte Buñuel sein Werk den Surrealisten Man Ray und Louis Aragon vor, die sich sofort für ihn begeistern konnten. Nach der ersten öffentlichen Aufführung, die ein großer Erfolg war, wurde Buñuel in die französische Surrealistengruppe um André Breton aufgenommen.

Einige Monate später begann er mit der Arbeit an seinem zweiten Film, den er Das Goldene Zeitalter L’AGE D‘OR nannte. Ursprünglich sollte das Drehbuch wieder in Zusammenarbeit mit Salvador Dalí geschrieben werden. Da sich die beiden jedoch in vielen Fragen uneins waren, trennten sie sich. Buñuel schrieb das Drehbuch alleine und baute lediglich einige Ideen Dalís in den Film ein, die er ihm brieflich hatte zukommen lassen.

Entstanden sind beide Filme als Attacken auf den reinen Film – wie Frieda Grafe schreibt – gegen den literaturverseuchten, individualistischen europäischen Film. – Einziges Vorbild war der amerikanische Film, als anonymes Industrieprodukt mit standardisierten Gefühlen und normierten Aktionen. Und Buster Keaton war ihr Programm, weil bei ihm die Objekte triumphierten. (Frieda Grafe: Nichts fürs bloße Auge)

L’AGE D’OR

Dokumentaraufnahmen von Skorpionen. „Einige Stunden später…“ klettert ein Räuber auf einen Felsen. Er sieht vier Geistliche auf einem Felsriff sitzen. Dann geht er weiter in eine Hütte, in der noch andere Räuber warten, Räuberhauptmann: Max Ernst! Nach absurden Wortwechseln begeben sie sich auf den Weg Richtung Felsen, doch ein Räuber nach dem anderen bricht zusammen und bleibt liegen.

Vieles Volk – Bürgerliche, Priester, Militärs – die mit Booten das Ufer erreichen. Sie gehen zu dem Felsen, auf dem vorher die Geistlichen saßen und sehen, dass diese jetzt bloß noch Skelette sind. Es kommt zu einer Grundsteinlegung. Im Hintergrund beginnen ein Mann und eine Frau, sich im Liebesspiel im Schlamm zu wälzen. Sie werden gewaltsam getrennt, und der Mann wird von zwei Männern abgeführt.

Mit seinen beiden Bewachern gelangt der Mann schließlich in eine Stadt (Das imperiale Rom). Mit einer Urkunde der„Gesellschaft des guten Willens“, die er ihnen unterbreitet, macht er sich von ihnen los und fährt mit dem Taxi zu einer Party der feinen Gesellschaft, auf der er seine Geliebte wiedersieht. Bevor er sie jedoch treffen kann, wird er von deren Mutter in ein Gespräch verwickelt. Im Hof erschießt ein Bediensteter seinen Sohn, weil dieser ihm den Tabak aus der Pfeife gestohlen hat. Dabei schaut die feine Gesellschaft leicht empört zu. Als hingegen der Mann die Mutter seiner Geliebten ohrfeigt, weil sie versehentlich ein Getränk auf ihn verschüttet hat, entrüstet sich die ganze Abendgesellschaft. Sie wirft ihn hinaus und umsorgt die Mutter fürsorglich.

Nachts, während eines Konzerts im Verlauf der selben Party kommen die Liebenden das nächste Mal zusammen. Doch auch dieses Mal können sie sich nicht lieben, rutschen immer wieder vom Stuhl und schaffen es nicht, sich zu umarmen. Schließlich sagt die Frau: „Wie schön, dass wir unser Kind ermordet haben“, und streichelt ihrem Partner über das Gesicht, das plötzlich blutverschmiert ist. Er antwortet einige Male „Ohh, meine Liebe… Ohh, meine Liebe“. Auf einmal wird er zu einem Telefonat mit dem Außenminister gerufen. Der Mann tobt vor Wut. Der Minister erschießt sich zum Ende des Telefonats. Die Leiche liegt aber nicht am Boden, sondern klebt an der Decke, als sei die Schwerkraft aufgehoben. Nach dem Telefonat liegt der Mann allein im Bett und zerstört die Kissen. Mit Federn in den Händen geht er zum Fenster, öffnet es und wirft nacheinander einen brennenden Baum, einen Pflug, einen Bischof und eine Giraffe hinaus. Schließlich lässt er die Federn aus seinen Händen gleiten.

Am Ende des Films wird in einer Texttafel erklärt, dass vier von Grund auf böse Männer in einer Burg eine Orgie hielten, bei der acht Frauen starben (eine Anspielung auf DIE 120 TAGE VON SODOM). Die erste von vier Personen, die das Haus verlassen, ist Jesus, dann treten drei adelige Personen nach ihm aus der Tür. Eine Frau kriecht blutverschmiert hinterher, worauf Jesus zurückgeht und sie wieder hineinzerrt. Nach dem Schrei einer Frau sieht man die Tür sich erneut öffnen, und Jesus kommt bartlos mit entsetztem Blick heraus. Die letzte Einstellung des Films zeigt ein Kreuz, an das die Skalps der während der Orgie ermordeten Mädchen genagelt sind.

Einige Motive in L’AGE D’OR werden auch weiterhin im Werk Buñuels auftauchen. Da ist z.B. die Konnotation von bürgerlicher Gesellschaft – Verdauung – Scheiße. Schon der Titel L’AGE D’OR kann als Travestie gelesen werden, nämlich als Zeitalter der Scheiße. Es gibt eine Einstellung mit der Hauptdarstellerin auf einem Spülklosett und anschließendem Umschnitt auf den blubbernden Inhalt eines Klärwerks. Vielleicht erinnern Sie sich an das Toilettendinner in DAS GESPENST DER FREIHEIT (1974), einem Buñuel-Film vom Anfang der siebziger Jahre, in dem sich eine Gesellschaft zum gemeinsamen Stuhlgang am Tisch trifft. Essen dagegen muss heimlich in kleinen Kabinetts geschehen. – Weiterhin wird in L’AGE D’OR genüsslich gezeigt, wie ein Käfer zertreten wird. In DAS JUNGE MÄDCHEN (The Young One) zertritt die Hauptdarstellerin 1960 völlig unmotiviert und mit ausgestellter Herzenskälte eine große Spinne, die den Hof überquert, usf..

Der Film wurde im „Studio 28“ uraufgeführt, wo er sechs Mal hintereinander vor ausverkauften Rängen lief. Am 3. Dezember 1930 wurde eine Aufführung des Filmes durch Rechtsextremisten, der „Action francaise“, unterbrochen, die den Kinosaal verwüsteten.

Sturmtruppen der ligue des patriotes und der ligue antijuive unterbrachen eine Vorstellung. Sie wählten den Zeitpunkt im Film, da eine Monstranz aus einer Limousine auf den Gehsteig gestellt wird und riefen: „Wir werden Euch zeigen, dass es noch Christen gibt in Frankreich!“ und „Tod den Juden!“. Dann spritzten sie Tinte über die Leinwand und ließen Rauchbomben hochgehen und zerstörten eine Ausstellung surrealistischer Bilder im Foyer. Die rechte Presse fordert daraufhin das Verbot des Films. Le Figaro: Es gibt keinen Zweifel an der politischen Absicht. Es handelt sich um einen sehr speziellen bolschewistischen Anschlag mit dem Ziel, unsere moralische Integrität zu verderben.

Am 10. Dezember 1930 erhielt der Film ein Aufführungsverbot, das erst 1981 aufgehoben wurde.
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