Freitag, 30.12.2011

Die Rückkehr der verschwundenen Schriftrolle

Dass ein vorbeifahrender Bus und die bunte Vielfalt parkender Autos vor Jahrzehnten noch als Zierde einer Stadtansicht begriffen wurden, kommt heute dem überwältigenden Umfang einer von Auto-Liebhabern zusammengetragenen Postkartensammlung zugute. Man könnte meinen, es triumphiere so im Nachhinein das Allgegenwärtige über das Besondere. Aber waren es denn je die Sehenswürdigkeiten, Gebäude oder Landschaften, die auf diesen Fotos festgehalten werden sollten? Waren es nicht vielmehr schon immer die Straßen? Die Ferne? War es nicht das Unterwegssein selber, was sich da stolz zeigen wollte?

Jedem, der eine Reise antritt, ins Gepäck hinein: ein paar Internationalismen. Das sind Worte, die überall auf der Welt verstanden werden: Ananas – Atom – Bar – Bus – Diktator – Gorilla – Hotel – Komödie – Maschine – Motor – Operation – Pistole – Radio – Satan – Taxi – Zentrum.

Auf langen Reisen außerdem von Nutzen: Diskussionsstoff – und zwischendurch ein kleines Quiz: Welches „Verschwinden“ beschäftigt die zeitgenössische Philosophie? a) Das Verschwinden der Realwirtschaft? b) Das Verschwinden der Fortbewegung? c) Das Verschwinden des Geldes? d) Das Verschwinden des Verschwindens?

Ich wunderte mich, mit welcher Entschiedenheit Friedrich Kittler („gegen Luhmann, der glaubte, dass kein Medium untergeht“) vom spurlosen Verschwinden der Schriftrolle sprach. Werden nicht gelegentlich noch lange Listen aufgeschrieben – Lieblingsfilme beispielsweise – auf die Rückseiten von besonders langen Kassenzetteln? Ich weiß außerdem kein deutsches Wort fürs Scrollen. Aber: Wenn ich das Computerbild bewege, wenn ich die Schrift rolle, und selbst wenn ich klicke, ruhelos von Blog zu Blog, dann ist das kein Blättern, sondern ein Stöbern in einem Stapel von Schriftrollen.

Ich erwähne das, weil mir die Begeisterung Kittlers für Heideggers Begeisterung für Löcher noch wach in Erinnerung war, als ich zufällig Zeuge wurde, wie in der Straßenbahn ein kleines Mädchen seiner Mutter eine Scherzfrage aus einem Comic-Heft vorlas: „Warum hat der Gorilla so große Nasenlöcher? — „Weil er so dicke Finger hat.“


Zoobrücke, 2011 gefilmt auf Super 8

In seiner „Theorie der Phantasie“ erklärte Melchior Palágyi (1858 – 1924), dass alle Wahrnehmung von Ausdehnung, Lage und Gestalt der Körper an die Ausführung von wirklichen und eingebildeten Bewegungen um deren Flächen und Konturen gebunden ist, „und erst diese Einbildung ist es, die uns die Gestalt erfassen und den Raum wahrnehmen lässt.“ Die Phantasie sorge für die Kontinuität des Lebens entgegen der Diskontinuität des Bewusstseins.

Die imaginären Spielgefährten, die Agatha Christie in ihren Memoiren erwähnt, „waren keine richtigen Kinder und keine richtigen Hunde, sondern eine nicht zu beschreibende Mischung aus beiden.“ Bemerkenswert finde ich ihre Anzahl: 100, „und die für mich wichtigsten hießen Pudel, Hörnchen und Baum.“

Nach deutschsprachigen Lieblingsfilmen fragt eine Aktion, zu der ich gerne noch kurz vor Ablauf der Frist hinzustoßen möchte. Die für mich wichtigsten heißen:
Der Kongress tanzt (1931 Eric Charell)
Grosse Freiheit Nr.7 (1944 Helmut Käutner)
Unter den Brücken (1945 Helmut Käutner)
Alraune (1952 Arthur Maria Rabenalt)
Nicht fummeln, Liebling (1969 May Spils)
Oh Happy Day (1969 Zbynek Brynych)
Amore (1978 Klaus Lemke)
Talentprobe (1980 Peter Goedel)
00 Schneider (1994 Helge Schneider)
Never go to Goa (2001 Klaus Lemke)
Natürlich muss eine wirklich erfreuliche Liste viel länger sein. Der verrückte Wunsch beim Listenverfassen ist, konturiert die Welt zu umarmen, zu zerfließen mit klarem Profil. Nur selten lässt mal eine gute Liste über verschwundene Frontverläufe durchs hohe Gras den Wind wehen.


Oh Happy Day (1970 Zbynek Brynych)

Otto Gildemeister (1823 -1902) hat auf einen eigenartigen Mangel der deutschen Sprache hingewiesen und angemerkt, wie schön es wäre, „wenn Hass und Liebe, Lächeln und Lachen sich ebenso leicht von dem Banne des Singularis erlösen und im Chore aufführen ließen wie les amours, les haines, les sourires Frankreichs. Ist es nicht störend, dass wir das Leben eigentlich nicht in der Mehrzahl vorführen können…“

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