Lumière/Méliès
Von Andreas van Dühren
Man sollte meinen, die Kinematographie sei zur Genüge unter ideologischem Aspekt
untersucht worden. Eine Kunst, die so leicht glauben macht, durch sie nur intensiver am
wirklichen Leben teilzuhaben, muß dazu reizen, von ihr wie über Gott und die Welt zu reden: die Cinéasten selbst verbinden, wenn sie ihre Arbeit erläutern, gern eine technokratische Attitüde mit ethischen Ansprüchen, und die Machthaber beweisen allzu oft einen Sinn für die Verführungskraft des Kinos. Es mag deshalb ein umso bedenklicheres Merkmal unserer Epoche sein, daß man sich lieber in einer formalisierten Aufklärung wiegt, als die strategischen Zeichensetzungen ihres vorherrschenden Mediums zu befragen.
Es war im Jahr 1983, daß man eine Wende bemerken konnte. Ridley Scott, dessen neuester
Film, Blade Runner, damals von einer Aufnahme in die Nationalbibliothek wie vom break even point noch weit entfernt war, kommentierte das ebenfalls aktuelle, kommerziell zunächst erfolgreichere Werk des Kollegen Eric Rohmer, Pauline à la plage, mit dem Befund, diese Art des Erzählens gehöre der Vergangenheit an. Wer einer politique des auteurs nach traditionellem Verständnis anhing, mochte es nicht glauben und ahnte gleichwohl, daß er jenem Vormann der Maschinisten irgendwann würde Recht geben müssen. Ohne sich an der anekdotischen Markierung aufhalten zu wollen, könnte man heute umso nüchterner fragen, welcher Art des Erzählens die Zukunft gehöre. Am Beispiel des sehr wohl wegweisenden Blade Runner scheint es ein mehrfach unspezifisches Erzählen zu sein: eines, das nicht eigentlich narrativ, sondern dramatisch, sowie eines, das nicht originär kinematographisch angelegt ist und sich auch in anderen Medien authentisch ausnimmt. Nochmals im Rückblick, wundert man sich über die Widersprüchlichkeit einer Zeit, da im geläufig-akademischen Diskurs die große Erzählung für obsolet erklärt, in den betreffenden Künsten aber, neben der Kinematographie natürlich die Belletristik, eine Renaissance des Geschichtenerzählens fast hysterisch beschworen wurde. Doch hat man es eben damit bereits erklärt – daß Erzählen, indem man überhaupt aus dem Geschichtlichen herausgetreten war, zu einem Wunschbegriff werden und einer konsumistisch-standardisierten Ästhetik verfallen konnte.
Man ist versucht, eine veraltete und eine künftige Art des Erzählens der zeitlich beziehungsweise räumlich disponierten Geschichtskonzeption zuzuordnen. Das sich entrollende Geschehen – die Horizontale rhythmisierendes Und-dann, dessen Logik eine Auflösung verspricht –, unterschieden von einer wenn schon nicht vertikal so doch in überlagerten Ebenen sich entwickelnden Handlung; solche Darstellung, die sich auch in einem informellen Kontinuum versteht, gegen jene, die ihren Zusammenhalt einzig in der Konstruktion findet, mag diese sogar aus lauter Wahrscheinlichkeiten bestehen. Allerdings mußte die ursprüngliche Assoziation eines technischen Prinzips mit bestimmten formalen Entsprechungen die Kinematographie selbst nicht auf ewig binden und darf jede Kunst sich im Laufe ihrer Entwicklung auch einem weniger genuinen Ansatz angleichen; doch abgesehen davon, daß die Wahrheit nicht unbedingt in den Anfängen liegt, vergingen nur Monate seit der ersten öffentlichen Vorführung durch die Gebrüder Lumière, bis Méliès seinerseits zu produzieren begann.
Um die bisher skizzierte Auseinandersetzung also auf ihren historischen Hintergrund zurückzuführen, kann man in einem Film wie La Sortie de l’Usine Lumière à Lyon gewiß einen Vorrang der Aufnahme vor der Anordnung erkennen, des Gegebenen vor dem Gestellten, auch der Enthüllung einer den Dingen innewohnenden Schönheit vor den phantastischen Suggestionen, was immer man auf der anderen Seite einem Georges Méliès zuschreiben mag – mit einigem Recht nur, wenn man nicht ignoriert, daß es auch von diesem Pionier eine Einfahrt eines Zuges gab, wie überhaupt die Unzahl nicht überlieferter Werke zu bedenken ist und man es sich mit den Ableitungen nicht zu leicht machen sollte.
Man mag es seltsam finden, daß es das Werk der Lumières war, von dem die umfassenden und weitreichenden Theorien ausgingen: nicht erst vom Neorealismus angeregt, entwickelte sich eine spezifische Phänomenologie vor allem in Bezug auf solches Filmbild, das mit dem Schein direkter Aufzeichnung ebenso die Präsenz des Gegenstandes wahrt; auch der frühere Ansatz, am signifikantesten Der sichtbare Mensch von Balázs, verband mit der neuen Ästhetik etwas wie eine wiedergefundene Moralität, eine durch keinen Illusionismus zu hintergehende Subjektivität, in deren Begriff es keine bloßen Vorwände mehr gibt. Seltsam nämlich, daß statt einer auf Zurschaustellung, mithin auf Täuschung angelegten Konzeption es jener Kult der Übereinstimmung war, der nachhaltiger zur Interpretation einladen sollte: nicht solche Indizierung, die sich zum Referenzsystem ausweitet, sondern der Wahrheitsgehalt des Stofflichen nährte eine Ideologie der mis-en-scène, in der also die Handschrift die Wirklichkeit beglaubigt.
Das Bekenntnis Rohmers, im Film sei die Ontologie (1), nicht die Sprache das Wichtige, führt über eine Authentizität hinaus, die sich dem thematischen Material verdankte; es berührt den Zusammenhang einer Darstellung, deren Unmittelbarkeit die Dinge in eine existentielle Instanz erhebt, mit der Fiktion des Zuschauers, darin einem Abbild seines Bewußtseins zu begegnen. Daß mit solcher Evidenz eine Reflexion provoziert wird, die vordem nur durch Verinnerlichung möglich war, macht das skandalöse Paradoxon der Kinematographie aus. Eine weitere Bemerkung – »… die Technik der Einstellungsfolge hat den Ausdruckscharakter jeder einzelnen Einstellung verstärkt …« (2) – weist auf das kritische Potential, an dem vorbeiziehenden Strom nicht mehr nur das Spektakel wahrzunehmen, sondern im Ähnlichen das Andere zu erkennen.
Vielleicht offenbart sich das Wesentliche dieser Kunst sogar an Werken, die ihr nicht ursprünglich anzugehören scheinen, da ihre Sujets dem Theater entstammen. Renoirs La carrozza d’oro etwa, der nur an einem bestimmten Schauplatz die klaren Begrenzungen und die Geschlossenheit der Räume verläßt und im übrigen die gesamte Bildfolge auf einer einzigen Ebene darbietet – die Konzentration jeglicher Tiefe auf die einzelne Einstellung verstärkt den Eindruck der Integrität nicht durch Wahrung einer theoretischen Einheit, vielmehr mittels einer unmerklichen Montage, welche die Realität nach allen Seiten hin ausdehnt und die Zeit eine Gestalt annehmen läßt, die den Betrachter nicht von den Gegenständen trennt.
Es dürfte dennoch kein Zufall sein, daß das Theater seine Bedeutung einbüßte, als jene Zukunft des Erzählens sich abzeichnete. Nur besagt dies nicht, daß ein vermeintlich unreiner Film wegen seiner Affinität zur Bühne obsolet geworden sei; wahrscheinlicher ist, daß das Kino der Maschinisten den guten alten Guckkasten in treuer Wachtablösung ersetzte. Bedenkt man die Bedeutung des Theaters für die Gesellschaft als eines zur Konfrontation geöffneten Raumes, innerhalb dessen die Möglichkeiten menschlichen Verhaltens indirekt reflektiert werden – wobei die Brechung den Raum noch zur Vermittlung erweitert, welche die Konfrontation übers Spektakuläre hinaushebt, im Idealfall zur Erschütterung wie zur Einsicht –, so stellt sich Frage, in welcher Weise ein, vermeintlich oder nicht, neues Erzählen der veränderten Gesellschaft entspricht.
Darin ist jene Bereitschaft zur sublimen Reflexion durch ein Bedürfnis nach interaktiver Manipulation verdrängt worden – einem konditionierten Eskapismus, in dem der Einzelne sich im Einklang mit dem alltäglichen Wechselspiel von Verdrängung und Abrichtung derart bestätigt findet, daß das bloße Einverständnis schon für den Wirklichkeitsgehalt des Vorgetäuschten garantiert. Die allmählich gelungene Konfektion der Bedürfnisse und Empfindungen bewirkt hierbei eine Konformität der Antworten sowie der immer stumpferen Reize. Das Spektakel hält denn auch weniger in konzentrierten Bann, als daß es die Zerstreuung fixiert.
Es handelt sich deshalb nicht um ein neues Erzählen, wohl aber um eine Kinematographie, die man kaum »neuartig« nennen darf, jedoch zeitgemäß finden muß – allerdings, indem sie mit den rückschrittlichen Tendenzen in übrigen Bereichen übereinstimmt. Sie ist nunmehr wahrlich Bewegungsschrift, zugleich Direktive der Emotionen, die bei noch so lauter Provokation aufs Kommensurable herabgesetzt werden.
In Ma nuit chez Maud werden mehrfach Arbeiter beim Verlassen einer Fabrik gezeigt: filmhistorische Reverenz und naturalistisches Element sind hier nicht zu unterscheiden. Das verstörende Klavierspiel der Replikantin fügt Blade Runner nur die nostalgische Spur einer Welt ein, in der das Erzählen uns noch nicht aus der Gegenwart entfernte.
(1) Eric Rohmer, Le Gout de la Beauté, Hrsg. Jean Narboni, Paris 1984, S. 16.
(2) Ebda., S. 27.