Bresson forever
Balthazar und die beiden Männer erreichen eine Hügelkuppe, bleiben stehen, hören Stimmen, dann Warnrufe: “Stehenbleiben! Zoll!” Die Männer kehren schnell um und laufen zurück den Hang hinunter. Balthazar steht wie angewurzelt. Er schaut und horcht, nah sein Kopf, die großen Augen. Mehrere Schüsse fallen. Bei einem zuckt er zusammen, läuft los, auch den Hang hinunter. Später, die Sonne ist aufgegangen, steht er reglos in einem Unterholz, trabt langsam heraus, man sieht die Wunde an seinem rechten Vorderschenkel. Er trabt über steinige Bergwiesen, das erste Mal im Film eröffnet sich eine weite Landschaft. Das erste Mal im Film ist der Esel allein, ohne den Menschen, der ihn ankettet, tritt, prügelt. Er bleibt stehen, wirkt verloren, aber auch frei. Ein idyllisches Bild. Seine Ohren lauschen in den Wind. Entfernte Glöckchen werden hörbar. Weiter unten am Hang trippeln Schafe hinter Gebüsch hervor, von den Hunden bellend dirigiert. In der nächsten Aufnahme sind im Vordergrund Schafe und verhüllen den nun halb liegenden Balthazar. Er befindet sich inmitten einer Herde, einige Schafe beschnuppern ihn, ziehen weiter, der Kreis um ihn öffnet sich wieder. Die Hunde treiben die Schafe weiter. Unablässig läuten die Glöckchen. Dazu die Schubert-Sonate. Balthazar liegt ausgestreckt und stirbt.
Zum soundsovielten Mal kommen mir die Tränen mit den Schafen. Es ist der Tod, wie im Himmel. Erst mit den wuscheligen Lämmern nimmt die Trauer ihren Lauf. Das Handeln der Menschen in diesem Dorf zu sortieren, kommt später.
Als einziger Film Bressons zeigt dieser einen kompletten ‘Lauf des Schicksals’ – das gesamte Leben Balthazars. Das macht ihn fast lehrfilmhaft, die Kette der Stationen spult sich ab, in unabwendbarer Eigendynamik.
Warum ist Gérard von Anfang an so böse? Warum reizt Marie von Anfang an seine Verwegenheit, warum will sie weg aus dem Dorf? Warum ist der Vater so stolz und stur? Warum trinkt Arnold? Warum ist der Händler geizig? Alle Todsünden sind vertreten. Materielles Denken, Egoismus, Mißachtung von Nächstenliebe und Gemeinsinn sind die gemeinsamen Nenner. Auch die Bäckersfrau behandelt Gérard nur gut, weil sie sich einen Sohn wünscht. Und hofft, ihn mit Geschenken zu gewinnen. Die Menschen behandeln sich untereinander nicht anders als den Esel. Hierarchien und Standesunterschiede, das Streben nach materiellen Gütern und seine Konsequenzen, bilden die unüberwindlichen Barrieren zu einem besseren Leben. Ein Esel ist nur das Vehikel im Stall.
Indem Bresson nicht erklärt und deutet, sondern konkrete Abläufe zeigt, muss der Zuschauer seine eigenen Urteile fällen. Das gezeigte Universum läßt wenig Hoffnung auf das Gute im Menschen. Aber in den Bildern, den Gesichtern, Handlungen leuchten auch immer wieder ganz konkret Unschuld, Schönheit, Mut, Mitempfinden, Unsicherheit… Es überträgt sich ein Impuls der Empörung auf den Zuschauer und diesen will der Regisseur erreichen. Und dazu hat er seine speziellen Methoden entwickelt.
Als ich die Filme Bressons vor etwa 30 Jahren zum ersten Mal sah, empfand ich die gleiche Bewunderung, damals gepaart mit Irritation und Ratlosigkeit über den schrecklichen Taten und aussichtslosen Perspektiven. Seine formale Radikalität zog mich in den Bann und beeinflusste mich, auch nach Strukturen zu suchen, gegen die konventionellen Dramaturgien. Und trennte mich von Leuten, die nicht affiziert wurden von diesen Filmen. Heute sehe ich hinter ihnen bewußter den Mann aus einer anderen Generation, behalte eine größere Distanz zu den Inhalten, sehe und genieße die Klarheit seiner Werke, die Koordinaten seines Denkens, die sich für mich nur etwas anders formulieren. Es ist nur der Lauf der Zeit, eine historische Oberflächenveränderung, das religiöse Vokabular kann übersetzt werden. Wie ketzerisch ist das Ende von LE PROCES DE JEANNE D’ARC – ein kleiner Hund schaut verwundert hoch zu Jeanne und den Menschenreihen rechts und links und dann geht das Kreuz selbst in Rauch auf. Und wie beeindruckend ist Bressons eigener Weg der Radikalisierung besonders mit seinen letzten Filmen, die zeigen wie sehr er in der Gegenwart lebte. Wenn ich heute in der Zeitung lese, dass in USA mehr Leute im Gefängnis sitzen als jemals in Stalins Gulags – denke ich an Bresson.