Mittwoch, 26.12.2012

Fragment unseres Lebens

Dietrich Bonhoeffer schreibt in einem Brief vom 23. 2. 1944 aus dem Gefängnis:

„…Wo gibt es heute noch ein geistiges „Lebenswerk“? Wo gibt es das Sammeln, Verarbeiten und Entfalten, aus dem ein solches entsteht? Wo gibt es noch die schöne Zwecklosigkeit und doch die große Planung, die zu einem solchen Leben gehört? Ich glaube, auch bei Technikern und Naturwissenschaftlern, die als einzige noch frei arbeiten können, existiert so etwas nicht mehr. Wenn mit dem Ende des 18. Jahrhunderts der „Universalgelehrte“ zu Ende geht, und im 19. Jahrhundert an die Stelle der extensiven Bildung die intensive tritt, wenn schließlich aus ihr sich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts der „Spezialist“ entwickelt, so ist heute eigentlich jeder nur noch „Techniker“, selbst in der Kunst (in der Musik von gutem Format, in Malerei und Dichtung nur von höchst mäßigem!). Unsere geistige Existenz aber bleibt dabei ein Torso. Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment unseres Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht. Es gibt schließlich Fragmente, die nur noch auf den Kehrichthaufen gehören (selbst eine anständige Hülle ist noch zu gut für sie) und solche, die bedeutsam sind auf Jahrhunderte hinaus, weil ihre Vollendung nur eine göttliche Sache sein kann, also Fragmente, die Fragmente sein müssen – ich denke zum Beispiel an die Kunst der Fuge. Wenn unser Leben auch nur ein entferntester Abglanz eines solchen Fragmentes ist, in dem wenigstens eine kurze Zeit lang die sich immer stärker häufenden verschiedenen Themata zusammenstimmen und in dem der große Kontrapunkt vom Anfang bis zum Ende durchgehalten wird, so dass schließlich nach dem Abbrechen – höchstens noch der Choral: „Vor Deinen Thron tret’ ich allhier –“ intoniert werden kann, dann wollen wir uns auch über unser fragmentarisches Leben nicht beklagen, sondern sogar daran froh werden.“

Gefunden bei der Lektüre von „Widerstand und Ergebung, Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, herausgegeben von Eberhard Bethge, 1962

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