Welt ging verloren
Karen Sandberg Caspersen in Det Hemmelighedsfulde X (1914 Benjamin Christensen)
In einem Film, der vor neunundneunzig Jahren gedreht, so spannend ist, dass man’s kaum aushält, schaut die Heldin im Moment totaler Verzweiflung… wohin?
Karen Sandberg Caspersen in Hævnens Nat (1916 Benjamin Christensen)
Hätte das, was man die „Filmsprache“ nennt, tatsächlich Vokabeln, dann wäre der Blick in die Kamera das eine Wort, von dem alle wissen, dass man es vermeiden soll. Warum? Was soll denn passieren, wenn es verwendet wird? Kann ein einzelnes Wort überhaupt etwas ausrichten? Sicher nicht. „Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“
Wie wär’s, wenn eines der kürzesten und vieldeutigsten Worte im filmischen Wortschatz zum Mittelpunkt einer ganz neuen Filmgeschichte würde. Nennen wir sie: Die Geschichte des „Oh!“
Edward G. Robinson in Little Ceasar (1931 Mervyn LeRoy)
Edward G. Robinson, Einwanderer aus Rumänien, sprach acht Sprachen und besaß, wie ich bei Helmut Färber las, ein Gemälde von Cézanne: „Die schwarze Marmoruhr“.
Ein anderes Bild aus Edward G. Robinsons Sammlung: „Daughters of the Revolution“ von Grant Wood, 1932.
„Quite shocked“ war eine anonyme Protestbriefschreiberin als sie in einer Gallerie in Iowa die „Daughters of the Revolution“ sah – „three women with savage looks, almost ready to pop out of the frame and eat you alive.“
Agnes Moorehead, Edward G. Robinson, Margaret O’Brien in Our Vines Have Tender Grapes (1945 Roy Rowland)
Besser wurde die Weihnachtsgeschichte nie erzählt als in Our Vines Have Tender Grapes. Margaret O’Brien lässt ihren Auftritt in der Kirche enden mit den unglaublichen Worten: „And the baby cried.“ Und nur für die Länge dieses Satzes geht ihr Blick direkt in die Kamera.
Frank Sinatra in Suddenly (1955 Lewis Allen)
Erst als mein Text über Lewis Allen (für Cargo) schon fertig war, sah ich mir einige Folgen Bonanza an, bei denen Lewis Allen Regie geführt hat. Und ich staunte.
Susan Harrison in Bonanza: Dark Star (1960 Lewis Allen) ****
Da, wo seine vielversprechend begonnene Laufbahn sich in der Anonymität verlor, beim Fernsehen, in einer Westernserie hat Lewis Allen das Unmögliche nicht länger zögerlich wie in seinen Kinofilmen ausprobiert, sondern – zumindest in den 48 Minuten der Bonanza-Folge Dark Star – voll ausgekostet. Soviel und so intensiv wie Susan Harrison in die Kamera schaut, so geheimnisvoll, verirrt und besessen gibt es das sonst nur bei Zbynek Brynych.
(Zum Beispiel im aufregend traurigen Misto, den ich vor zwei Wochen in Hamburg wiedersehen konnte. Nach der Vorstellung erzählte mir Klaus Wyborny, dass er sich daran erinnere, den Film 1964 in Oberhausen gesehen zu haben.)
Helga Anders in Der Kommissar: Die Schrecklichen (1969 Zbynek Brynych)
„Vielleicht ist ihnen auch aufgefallen, daß die Schauspieler in meinen Filmen oft in die Optik sehen. Die fragen dann meist: „Meinen Sie wirklich, mitten in die Optik?“ Und ich muß sagen: „Ja bitte, mitten in die Optik.“ Eigentlich ist das verboten, aber die Wirkung ist unheimlich emotional. Wenn der Zuschauer direkt angesehen wird, kann er nicht weg. Unmöglich, daß er sich einen Kaffee kochen geht.“ (Zbynek Brynych, 1994)
Kathleen Byron in Black Narcissus (1947 Powell & Pressburger)
Constance Towers in The Naked Kiss (1964 Sam Fuller)
Die vielen alten Filme, die so neu sind. Manche von ihnen sind sogar beim Wiedersehen neu. Und „was es für Filme gibt!“
Daliah Lavi in Il Demonio (1963 Brunello Rondi)
Volker Hummel hat mal (in einem Text über Chris Marker) den Blick in die Kamera „den Blick zurück auf den Zuschauer“ genannt, und in schönen Zusammenhang gebracht mit dem Geheimnis der Jugend. Dieses Geheimnis, das darin besteht, offen zu sein.
In der neueseten Ausgabe von SigiGötz-Entertainment habe ich ein wenig über Martin Müllers 1969 in München entstandenen Anatahan Anatahan geschrieben.
Eine silberne Marilyn Monroe von Warhol habe er damals gekauft und schnell wieder verkauft, erzählt mir Klaus Lemke stolz, denn mit den paar tausend Mark Gewinn wurde Anatahan Anatahan gedreht.
Noch ein Gemälde, das Edward G. Robinson gehörte. Van Gogh: Père Tanguy
Zur Beschreibung eines Menschen gibt es die Formulierung, in seinem Blick sei „etwas Verlorenes“. Aber ist denn dieses Verlorene, im Bild aufgenommen und vom Betrachter gefühlt, nicht wiedergefunden?
Und mit welch einsamem Amüsement schaut Heino Jäger ganz am Ende von Gerd Kroskes Look before you Kuck als Besucher der eigenen Vernissage in die Kamera!
Helga Feddersen in Die Rache der Ostfriesen (1974 Walter Boos); ein ganz fürchterlicher Film. Aber Stefan Ertl schreibt (ebenfalls in SigiGötz-Entertainment) über Helga Feddersen: am bemerkenswertesten an ihr sei „die in all dem Trash und Slapstick immer erkennbare Liebenswürdigkeit, die man sich unmöglich als Resultat schauspielerischen Antrainierens erklären kann.“
Oliver Hardy in Galaxy of Stars (1936) via
30.12.2012 20:41
Zu den Daughters of the Revolution: hier sei auch an Avedon’s «The Generals of the Daughters of the Revolution» erinnert: http://iconicphotos.wordpress.com/2009/05/21/the-generals-of-the-daughters-of-the-american-revolution/ (und keine einzige blickt in die Kamera).
31.12.2012 19:40
„Denn die PHOTOGRAPHIE hat diese Macht […] mir direkt in die Augen zu sehen (hierin liegt im übrigen ein weiterer Unterschied zum Film: hier sieht mich niemand an: dies verbietet die Fiktion).“
Roland Barthes: Die helle Kammer, Frankfurt/M 1989, S. 122
Diese Aussage hielt ich schon vor 23 Jahren für Quatsch. Bestätigt wurde mir das später von Frieda Grafe, die im Seminar darauf hinwies, dass das ja so gar nicht stimmt. Es gibt auch einen Text von ihr, wo sie darüber schreibt. Ich kann mich aber nicht mehr erinnern, wo er zu finden ist.
Vielen Dank für diesen Beitrag und all die guten Wünsche zum Neuen Jahr!