Sonntag, 03.11.2013

Zum TATORT „ Aus der Tiefe der Zeit“ von Dominik Graf , gestern in der Mediathek

Unser Lieblingslehrer in den Siebzigern liebte Knaben und Jünglinge und das ganze Fremde, Neue, was uns in der Adoleszenz begegnete, konnten wir parallel auch im Fernsehen entdecken. Der Aufbruch wie das Aufbrechen von Konventionen, Überschreitungen. Werner Schroeters Willow Springs wie Fassbinders Händler Der Vier Jahreszeiten liefen spät abends im ZDF und hatten mich umgehauen.
Unsere Schule war in der Ridlerstraße. In den Kneipen ringsum, die auch tagsüber immer dunkel und leer schienen, kickerten wir nach der Schule und tranken dabei mindestens eine Halbe. Man konnte davon in manchen Kommissarfolgen sehen, diese Wirtshäuser in Münchner Nebenstraßen mit ihren Durchfahrten. Wo dann im Hof noch irgend eine Remise war, wo die Armen oder Randgestalten der Siebziger wohnten, man konnte z.B. dem großartigen Paul Albert Krumm in den verschiedensten Ausformungen der gebrochenen Existenzen, die meist dort verortet waren, beim Zusammenbruch zusehen, denn das Verborgene wurde immer aufgedeckt. Diese Geschichten wollten wir damals erleben, als Schüler, ausbrechen, das Abseitige als das Reizvolle, aber da gab es später nur das Schwabylon …( was übrigens auch eine wunderbare Projektionsfläche wie Handlungsort diverser Kommissar / Derrick folgen war )
Und hinter der Landsbergerstrasse gab es die Bahngleise, die wegführten.

Am Herzog Ernst Platz machte die zweite Mc Donalds Filiale in Deutschland auf, unaufällig, abseits von Schwabing. Mindestens ein Jahr lang konnte man dort exclusiv Schokomilch -shakes trinken und Burger essen, was uns gar nicht klar war. In den Kirchengemeinden mit ihren Jugendräumen in und ums Westend hing man am Wochenende ab, wurden die Partys unter Aufsicht gefeiert. Am Gollierplatz gab es noch wenig Ausländer, ich erinnere Salvi, wie er genannt wurde, Salvatore, seine Eltern hatten einen Gemüseladen, ein Italiener, der mit uns an der Bushaltestelle abhing, oben am Harras, ein Womanizer, so einen, mit dieser Frisur, lange dunkle Haare, wollten alle Mädchen, damals. Sonst war das Westend ein Ort, an dem man nicht unbedingt wohnte, sein wollte, der sog. soziale Brennpunkt jener Zeit, Hasenbergl kam als solcher nicht vor, zwei unserer Klasse wohnten dort, mir ist bei Ihnen zu Hause nichts aufgefallen, was anders wäre, die selbe Wohnung in Beton, gestapelt wie bei uns, im Sendling. Dann der Wandel um 360 Grad zum gesuchten Spekulationsort in den zurückliegenden 30 Jahren bis heute. Die Trappentreustrasse bis zur Donnersberger Brücke, die Landsbergerstrasse, die Theresienhöhe markierten das Westend, das Viertel der Arbeiter und kleinen Leute, wie es hiess.
Und jenseits der Isar, hinterm Flaucher, am anderen Hochufer, in Grünwald ,wo man nicht hinkam, wohnten schon immer die, die das Sagen hatten. Deren Lebensformen wie entlüftet und einer Öffentlichkeit in all seinen Gewohnheiten zugänglich geworden zunächst auch durch Erik Ode, nachgefolgt von Derrick und später dem Alten. Die verworrensten und interessantesten Verbrechen passierten immer dort. Lange vor Dallas und David Lynch konnte man hier in Grünwald immer freitags um 20.15 h auf das Abgründige der frühen Siebziger sehen, bzw. was dafür gehalten wurde.

Das alles weiß Dominik Graf, wenn er die Geschichte beginnt, er eintaucht in die „Tiefe der Zeit“, die Herbert Reineckerschen Motive der desolaten Bürgerlichkeit hinter den Mauern von Grünwald mit all den wunderschön grotesk versponnen Familiengeschichten dort, mit den sichtbaren Destruktionen aufnehmend.
Am Ende bebt das Hochufer der Isar und bringt nicht nur das lange Verborgene einer Familie voller Tragik an die Oberfläche, sondern erzählt mit dem Einstürzen der Villa auch vom Gebrauch von Kamera und Ton, wie sie disparat doch zueinander finden, Bilder als Erinnerungsfetzen, die zu Beginn nicht zuortbar, nur aus sich heraus wirken, Blicke eines Mädchens, eine Leiche, unscharf, dazwischen eine auf Koyaanisqatsi verweisende Münchenmontage, Baustellen im Gegenlicht, das Mädchen auf einem Pferd, rodeoähnlich, rotgeschminkte Lippen, aufgeladen mit / als Erinnerung, Wolken, Sonnenreflektionen, Überstrahlungen, schnell geschnitten, als verschmelzen sich Grandiueux´s – Sombre und Zbynek Brynych Kommissar – Inszenierungen zur einer Grafschen Unruhe, die atem-beraubend vorwärtsdrängt.
Jede Einstellung als Versatzstück eines Bildes, als erscheine es nur einen Augenblick von etwas Größerem, Ganzen, was wir nicht sehen, aber ahnen. Wie ein Bild, das davor war, das Vorbild, und das Nachbild, der Nachhall der Erinnerung an das zuvor Gesehene, verkoppelt jede Einstellung, diskursiv, assoziativ zusammen gefügt, rythmisiert durch scheinbar unzählige Schnitte. Das Gesamtbild, was sich einstellt, beim Gucken, wird reines Fernsehen, wie Graf es sieht. Auch Ergebnis des Ab-schnitts, des Weglassens im Editing.
Und man hört dabei oft den Ton aus der Einstellung zuvor oder danach und diese Wechsel zwischen dem original im Bild Gesprochenen und dem asynchronen Gerede und den Geräuschen, der Musik, verwoben zu einem polyphonen Stakkato einer Melodie, wie er die Stadt hört.
Die Geschichte ist Pulp, das dramaturgische Reinfransen von der korrupten Verzahnung von Politik und Wirtschaft in die Geschichte der versehentlichen und des absichtlichen Todes vor der Kulisse des aus den Fugen geratenden gentrifizierten Westends ist die Matrix, wie geschaffen, um den Figuren bei ihren ausweglosen Bewegungen in den zugeteilten Räumen zuzusehen.
Der Wunsch der beiden Ermittler nach dem einfachen Fall und ihr Beamtenstatus bewahrt sie vor dem Durchdrehen.

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