Amour et cinéma
Robert Desnos (1900-1945) ist der einzige mir bekannte Filmkritiker, der nicht nur von der Liebe auf der Leinwand, sondern auch von der im Zuschauersaal redet. Also von den Berührungen, den Annäherungsversuchen in jener Dunkelheit, die alles geheimnisvoll macht. Während eines langen und langweiligen französischen Films wird Desnos’ Blick von einem „weissen Schimmer“ angezogen: dem nackten Arm der Frau neben ihm. „Ich begnügte mich eine zeitlang, den hellen, weissen Fleck zu betrachten, dann legte ich meine Hand auf diese Erscheinung. Die Frau zog ihren Arm nicht zurück.“ Es kommen die Hände ins Spiel, die Knie, die einander sich zuneigenden Köpfe – bis das Licht die Illusion bricht. „Sie hatte nicht das Gesicht, von dem ich träumte, obschon sie hübsch war. Ich zog meine Hand zurück. Sie schaute mich an, kaum überrascht: der Zauber war verflogen.“ Der nächste Film, Pay Day von Chaplin, beginnt und nimmt die Aufmerksamkeit gefangen. (‚Charlot’ in ‚Journal Littéraire’, 13. Juni 1925.)
Desnos kommt mir in diesen zeitweise wöchentlich erscheinenden Kolumnen (von 1923-1930, in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften) wie ein Vorläufer der Nouvelle Vague vor – man glaubt, jugendliche Stimmungen bei Truffaut wiederzuerkennen, und wird an die Kinobesuche in Mes petites amoureuses (1974) von Eustache erinnert. Dieselbe Verachtung auch für das konventionelle französische Kino (schätzenswert sind ihm fast nur die drei allerersten Filme von René Clair und Filme von Louis Delluc) und Bewunderung für das amerikanische (Stroheim, Chaplin, die Mack Sennett Komödien) und frühe deutsche Kino. Mit fünfzehn hatte Desnos Les Mystères de New York mit Pearl White gesehen (The Exploits of Elaine, USA 1914/15, Pathé frères, insgesamt 24 Episoden) – ein prägendes Erlebnis. Die grosse Zeit des französischen Kinos war für ihn die nach 1910 bis vor 1918, mit Les Vampires und Fantômas von Louis Feuillade.
Desnos war in der Résistance, ist denunziert und am 22. Feburar 1944 von der Gestapo festgenommen worden – am 27. April 1944 wird er mit 1700 Mithäftlingen nach Buchenwald deportiert, wo er am 12. Mai ankommt; zwei Tage später wird er ins KZ Flossenbürg überstellt und Anfang Juni ins Aussenlager Flöha in Sachsen, wo er unter extremen Bedingungen für Messerschmitt arbeiten muss. Am 14. April 1945 wird das Lager evakuiert, es gibt Massen-Erschiessungen und Todesmärsche; ein Teil der Häftlinge (die schwächsten, darunter Desnos) kommt nach Theresienstadt. Am 8. Mai 1945 wird das KZ von der Roten Armee befreit. (Es existiert sogar ein Foto von Desnos, aufgenommen in jenen Tagen.) Wochen später fällt dem tschechischen Studenten Joseph Stuna, zuständig für Baracke Nr. 1, der Name ‚Robert Desnos’ auf der Krankenliste auf; zusammen mit der Pflegerin Aléna Tesarova, die etwas französisch kann, fragt er den unter den zweihundertvierzig „lebenden Skeletten“ Aufgefundenen, ob er den französischen Dichter kenne; der flüstert: „Oui, oui, Robert Desnos, le poète, c’est moi.“ Er befindet sich jedoch in einem derartigen Krankheits- und Schwächezustand, dass er nur wenig später, am 8. Juni 1945, in Theresienstadt stirbt.
Rätselhaft ist die Geschichte des Gedichts: „J’ai tant rêvé de toi“ (von 1926, aufgenommen in den Gedichtband „Corps et biens“ von 1930). Es ist, in einer veränderten Fassung, als Rückübersetzung aus dem Tschechischen, 1945 als ‚letztes Gedicht’ von Desnos publiziert worden – es handelt sich, gut wiedererkennbar, um die letzte Strophe von „J’ai tant rêvé de toi“.
(Pedro Costa hat diese durch Deportation und Tod hindurchgegangene Version seinem Film Casa de lava von 1994 beigegeben. Und der Brief von Ventura in Juventude em marcha, 2006, ist stark angelehnt an den Brief von Desnos an Youki vom 15. Juli 1944! Siehe auch: Cem mil cigarros. Os filmes de Pedro Costa, Lisboa 2009. Der Brief figuriert dort kommentarlos und wie eingraviert auf dem Hardcover-Einband.)
Robert Desnos, Les Rayons et les ombres. Cinéma. Paris 1992. (Erweiterte Ausgabe des von André Tchernia besorgten Buches: Robert Desnos, Cinéma, Paris 1966; in der neuen Edition sind im zweiten Teil auch die ‚Scénarios et projets’ von Robert Desnos abgedruckt, unter anderem von L’Étoile de mer, dem von Man Ray 1928 realisierten Film).
(Information über die Deportation nach dem französischen Wikipedia-Eintrag zu Robert Desnos.)
(Desnos’ Brief vom 15.7.1944 an Youki ist abgedruckt in: Robert Desnos, Die Quellen der Nacht. Hrsg. von Paul Wiens, Berlin[-Ost] 1985, S. 166/167.)