Das weiche Buch
So wie sich Wellen an den Strand wälzen, so dramatisch schlägt nur ein einziges Buch seine großen Seiten auf. Das Telefonbuch.
The Brothers Rico (1957 Phil Karlson)
Side Street (1949 Anthony Mann)
In Filmen wird Lesenden nur mit Ungeduld über die Schulter geschaut. Lektüre soll einen Zweck erfüllen, den Lauf des Geschehens in Bewegung halten. Der frühe Tonfilm war verliebt in Telegramme und Schlagzeilen. Das stumme Kino rückte noch ganze Briefe und Zeitungsartikel ins Bild.
Nicht zu zählen sind die Telegramme, die vernichtet, die Briefe, die verbrannt, und die Fahndungsplakate die von Wänden gerissen wurden im Lauf der Filmgeschichte. Wo ständig Spuren gesucht und Fährten verwischt werden, da geht vom Telefonbuch ein verständlicher Reiz aus. Das weiche Buch ist schwer.
No Man of Her Own (1950 Mitchell Leisen)
Eine Frau wird erpresst. Ihr bleibt keine Wahl. In der Schublade: ein Revolver und Munition. Im Telefonbuch: die Option auf eine Taxifahrt in den gefährlichen Teil der Stadt, um dort den Erpresser abzuknallen.
Strangers on a Train (1951 Hitchcock)
Das Buch, das für jeden offen da liegt. Ohne Widerstand.
YUL 871 (1966 Jacques Godbout)
Der Zustand von Telefonbüchern, die öffentlich verfügbar sind, grenzt an Verwüstung. Spuren von Suchenden am Rande der Verzweiflung.
Edmond O’Brien ruft jede Linda Norton an, in Obliging Young Lady (1942 Richard Wallace), Edward Brophy ruft jede April Smith an, in I’ll Remember April (Harold Young 1945). Dana Andrews ruft jede M. Taylor an, in Duel in the Jungle (1954 George Marshall). Jeff Daniels findet im Telefonbuch niemanden mit dem Namen Samsonite, in Dumb and Dumber (1994 Peter Farrelly).
The Million Dollar Brain (1967 Ken Russell) via
Ein Finger wird als Pfeil ins Alphabet geschickt. Vergleichbares wird, seit die Natur das Auge erfand, mit unwillkürlichem Interesse wahrgenommen. Klaus Wybornys Topologie des Narrativen klärt darüber auf. Der Stoff, aus dem die Welt seit Millionen Jahren besteht, ist bewegliche Verkettung von Möglichkeiten, Bewegung und Stillstand, Gefahr und Begehren, kurz: Erzählstoff.
Wählscheiben gaben dem Finger noch eine zweite Gelegenheit in Filmen groß aufzutreten.
YUL 871 (1966 Jacques Godbout)
Hat ein Buch ein gewisses Gewicht, ist es als Waffe verwendbar.
The Terminator (1984 James Cameron)
Das erste Telefonbuch, 1880 in London, verzeichnete nur die Namen der 248 Kunden der Telephone Company. Keine Nummern. – – – „Operator!“
Back to the Future (1985 Robert Zemeckis)
Das Verzeichnis der Sesshaften trägt niemand freiwillig durch die Gegend. Allenfalls unwissend. Eine Aktentasche, aus der Wertvolleres unbemerkt entnommen wurde, lässt sich damit füllen. So macht es Sydney Toler als Charley Chan at Treasure Island (1938 Norman Foster).
Rain Man (1988 Barry Levinson)
Die Existenz von Telefonbüchern gilt inzwischen als überflüssig und klimabelastend.
Man vergleicht Kartoffeln mit Telefonbüchern, wenn man den Seewolf mit dem Seeteufel verwechselt. Was Graf Luckner gerne vorführte, hält Wikipedia für einen Trick, zu dem „ein scharf gefeilter Daumennagel“ und dann doch „eine nicht unerhebliche Kraft“ dazugehört. „Der Trick wird heute kaum noch im Fernsehen gezeigt, da die Hände zu sehr durch die Kameras vergrößert werden und dadurch das Wirken des Daumens offenbar wird.“ Der trickversierte Maler Brandon McConnell geht ganz anders vor; auf youtube zeigt er, wie ein geschickter Knick etwas Luft zwischen den Seiten lässt…
The Man Who Knew Too Much (1956 Hitchcock)
Meinten Sie: Ambrose Chapel
The Lady in Cement (1967 Gordon Douglas). Gelbe Seiten.
Im Nachhinein bemerkenswert: Die klare Unterscheidung der gelben Seiten von den weißen. Die Idee der zwei getrennten Bücher: Das eine ganz der Konkurrenz verschrieben, das andere der Gleichheit verpflichtet.
Um nachzuschauen, wie sehr sich inzwischen die Händler im Tempel breitgemacht haben, musste ich ein Telefonbuch zur Hand nehmen. Lange hatte ich keins aufgeschlagen.
Tony Rome (1966 Gordon Douglas), Miami Beach, „twenty miles of sand looking for a city“. via
„Es sei der Post gedankt, dass sie keinem Parasiten erlaubt, im Telefonbuch ein Feuilleton zu eröffnen“. Harun Farocki schrieb das 1978 in der Filmkritik – gegen die damals entstehenden Stadtzeitungen.
Ich erinnere mich, dass ich trotzdem stolz war, in einer Stadtzeitung meinen Namen gedruckt zu lesen.
„I’m somebody now. Millions of people look in this book everyday. This is the kind of spontaneous publicity – your name in print – that makes people. I’m in print! Things are going to start happening to me now.“ (Steve Martin, in The Jerk, 1979)
I saw what you did (1965 William Castle)
Make Love Not War (1968 Werner Klett)
Im Berliner Telefonbuch sucht eine junge Bielefelderin nach einem besonders häufigen Namen, der als Tarnung taugt für den amerikanischen Deserteur, den sie auf dem Dachboden versteckt hält.
„Herbert Richter, der hat keinen Beruf“, sagt sie, „der ist beim Geheimdienst.“
Schaut man genau hin, waren die meisten Herbert Richters in Berlin 1967 ohne Beruf – oder beim Geheimdienst. Als Amateurdetektiv im Offensichtlichen (keine Berufsnennung) ein Geheimnis (beim Geheimdienst) entdecken zu können, das ist eine Vorstellung aus Kindertagen, als alles rund ums Telefon interessant war.
In einem noch unveröffentlichten Buch über die Ereignisse im Inflationsjahr 1923 in Mönchengladbach und Rheydt macht Achim Bovelett auf eine Anzeige in der Westdeutschen Landeszeitung (vom 13.4.1923) aufmerksam: Für einen Eintritt von 400 Mark konnte man im Restaurant P. Tillmann eine Riesenspinne bewundern, die im Stande war, jeden Gast mit Vor- und Zunamen anzureden.