Mittwoch, 18.07.2018

Auge und Umkreis (I)


Ukradená vzducholoď (Das gestohlene Luftschiff 1966 Karel Zeman)

„Im Augenblick bin ich ein wenig in meine Kindheit zurück gefallen,” sagte Eric Rohmer, 2009***. “Ich lese meine Jules-Verne-Sammlung noch mal durch. … das beachtliche Ein Kapitän von fünfzehn Jahren.“ Hinter seinem Pseudonym und einem bei öffentlichen Auftritten angeklebten Schnurrbart hatte er sich versteckt vor seiner Mutter, die nie erfahren sollte, dass der Sohn ein Filmemacher war.

Halbjahresrückblick (Januar – Juni 2018)

(Wie lang eine Minute ist, wie kurz ein Jahr) …kurzes Auftauchen in der Mitte.

A Day at Henley (1911), 9 Minuten vollkommenster Psychedelik, eine Landpartie im Kinemacolor-Verfahren festgehalten, im flirrend pulsierenden Zerfall fixiert, ein irrsinnig lebendiges Kaputtgehen von nie gesehener Schönheit. Die Welt als himmelhohes Korallenriff, der Tag als flüssiges Feuerwerk – wie sonst nur in den Sturz-Sekunden des Einschlafens. 9 Minuten lang: wahrhaftige Unbeschreiblichkeit. Vielleicht hätte Jules Verne sie beschreiben können.

Jules Verne: „Der Major schlief schlecht; gegen 23 Uhr stand er schließlich auf. Als er seine Augen richtig aufmachte, flimmerte der ganze Waldboden vor ihm, als spiegele sich Licht im Wasser. Zuerst glaubte er, ein Grasbrand züngele am Boden entlang, aber dann bemerkte er, dass sich vor ihm eine Riesenkultur phosphoreszierender Pilze ausbreitete. Die leuchtenden Substanzen erhellten das Wäldchen fast einen Kilometer weit, und der Major wollte gerade den Geographen zur wissenschaftlichen Begutachtung des Phänomens wecken, als er weiter weg Schatten zwischen den Bäumen entlanghuschen sah.“ („Die Kinder des Kapitäns Grant“, 1867)

Entdeckungen und (*) Wiedersehen in Bologna, Köln, München, Nürnberg oder (**) daheim:

Seed (1931 John M. Stahl)
Caravan (1934 Erik Charell)
When Tomorrow Comes (1939 John M. Stahl)
Santa (1943 Norman Foster, Alfredo G. de la Vega)
Xiao cheng zhi chun (Spring in a Small Town 1948 Fei Mu)
Das doppelte Lottchen (1950 Josef von Baky) **
Le Ragazze di Piazza di Spagna (1952 Luciano Emmer)
Ave Maria (1953 Alfred Braun)
Je suis un sentimental (1955 John Berry) **

Nachts schlaflos in der Küche zu sitzen und Milch zu trinken, das ist ein Ritual der Selbstvergewisserung, deshalb ein bekanntes (amerikanisches?), beinahe klassisches Bild. Dass Ingrid Bergman in Stanley Donen‘s Indiscreet zum Glas Milch noch etwas verzehrt – und zwar Schmelzkäse-Ecken, ohne Brot, direkt aus dem Alupapier – das ist etwas Besonderes… in diesem insgesamt besonders schönen Film. Indiscreet nach Jahrzehnten wiederzusehen, im Kino, war ein unverhofftes Glück.

Indiscreet (1958 Stanley Donen) *
Immer wenn es Nacht wird (1961 Hans Dieter Bove)
Night Tide (1961 Curtis Harrington) **
La Ragazza in Vetrina (1961 Luciano Emmer) *
Naked City: Lament for a Dead Indian (1962 Robert Gist) **
The Birds (1963 Alfred Hitchcock) *
Ukradená vzducholoď (Das gestohlene Luftschiff 1966 Karel Zeman) **
Hau drauf, Kleiner (1974 May Spils)
Der zweite Frühling (1975 Ulli Lommel)
Filmemigration aus Nazideutschland (1975 G.P. Straschek)


Night Tide (1961 Curtis Harrington)

Aus der Tiefe des Meeres schaut die Meerjungfrau starr ihrem männlichen Opfer hinterher, auf seiner panischen Flucht an die Wasseroberfläche.

Ernst Mach: „Dass beim Erwachen im dunklen Zimmer die letzten Traumbilder in lebhaften Farben mit einer Fülle von Licht noch vorhanden waren, ist mir oft vorgekommen. — Eine eigentümliche Erscheinung, die mir seit einigen Jahren häufiger begegnet, ist folgende. Ich erwache und liege mit geschlossenen Augen ruhig da. Vor mir sehe ich die Bettdecke mit allen ihren Fältchen, und auf derselben meine Hände mit allen Einzelheiten ruhig und unveränderlich. Öffne ich die Augen, so ist es entweder ganz dunkel, oder zwar hell, aber die Decke und die Hände liegen ganz anders, als sie mir erschienen waren. Es ist dies ein besonders starres und dauerndes Phantasma, wie ich es unter anderen Verhältnissen nicht beobachtet habe. Ich glaube an diesem Bild zu bemerken, daß alle auch weit voneinander abliegenden Teile zugleich deutlich erscheinen, in einer Weise, wie dies bei objektiv Gesehenem aus bekannten Gründen unmöglich ist.“ („Die Analyse der Empfindungen“, 1886)


Night Tide (1961 Curtis Harrington)

In der Tiefe der Nacht (also genau um 4) aus einem Traum erwacht, schaut der Matrose auf die Uhr.

In “Die Kinder des Kapitäns Grant” beschreibt Jules Verne inmitten gefahrvoller Situationen irritierende Lichtphänomene. 17 Kapitel vor den leuchtenden Pilzen in Australien (nur 12 Kapitel sind es in der schön gekürzten Ausgabe von 1966, die mir in die Hände fiel, als ich gerade solche Lektüre dringend brauchte), als die Reisenden noch in Patagonien unterwegs vor einer Überschwemmungskatastrophe in die Krone eines großen Baumes geflohen sind, spiegeln sich in der Wasserfläche die Sternbilder der südlichen Hemisphäre, als wölbe sich der Himmel auch unter ihnen. Bis plötzlich vom östlichen Horizont ein dichter, finstrer Dunst bedrohlich aufsteigt, und schnell die Hälfte des Himmelsgewölbes verhüllt. Diese Wolke scheint sich von selbst zu bewegen, denn von Wind ist kein Hauch zu spüren, kein Blatt regt sich am Baum, kein Fältchen kräuselt die Wasserfläche, fast so, als sei alle Luft von einer gigantischen Pumpe abgesaugt. Selbst die Schatten haben sich aufgelöst und jeder Laut ist erstorben. „Das Schweigen wetteiferte an Tiefe und Stärke mit der Finsternis.“ Aber die Nerven jeglicher Lebewesen spüren die hochgespannte Elektrizität, mit der sich die Atmosphäre auflädt. Als jemand vorschlägt man solle herabklettern aus der Baumkrone ins tiefergelegene Nest, und sich verkriechen „in Philosophie und in unsere Ponchos“, bemerken sie alle erstaunt ein überraschendes Dämmerlicht. Es wird hervorgebracht von Myriaden leuchtender Punkte, die sich summend über der Wasserfläche hin und her bewegen. Phosphoreszierende Insekten. Johanniswürmchen. „Lebendige Diamanten, aus denen sich die Damen von Buenos-Aires prächtigen Schmuck fertigen.“ Der Sohn des Kapitäns Grant erhascht eins dieser leuchtenden Tierchen. Eine Art große Hummel von 2 cm Länge. Am Brustpanzer strahlt das Tier so hell, dass der Forscher Paganel an seiner Uhr ablesen kann, dass es 10 Uhr abends ist.


L’anticristo (1974 Alberto de Martino)

Ernst Mach beschreibt den Traum als etwas Geschmeidiges, das in seinem Verlauf reagieren kann auf die Anzweiflung der Echtheit des Traums.

Beim Schreiben über Filme müsste diese Geschmeidigkeit zu fühlen sein, die man beim Filmesehen doch zumindest an guten Tagen hat.


All of Me (1984 Carl Reiner)

„Das Ich ist unrettbar. Teils diese Einsicht, teils die Furcht vor derselben führen zu den absonderlichsten pessimistischen und optimistischen, religiösen, asketischen und philosophischen Verkehrtheiten. Der einfachen Wahrheit, welche sich aus der psychologischen Analyse ergibt, wird man sich auf die Dauer nicht verschließen können. Man wird dann auf das Ich, welches schon während des individuellen Lebens vielfach variiert, ja im Schlaf und bei Versunkenheit in eine Anschauung, in einen Gedanken, gerade in den glücklichsten Augenblicken, teilweise oder ganz fehlen kann, nicht mehr den hohen Wert legen. Man wird dann auf individuelle Unsterblichkeit gern verzichten, und nicht auf das Nebensächliche mehr Wert legen als auf die Hauptsache. Man wird hiedurch zu einer freieren und verklärten Lebensauffassung gelangen, welche Missachtung des fremden Ich und Überschätzung des eigenen ausschließt. Das ethische Ideal, welches sich auf dieselbe gründet, wird gleich weit entfernt sein von jenem des Asketen, welches für diesen biologisch nicht haltbar ist, und zugleich mit seinem Untergang erlischt, wie auch von jenem des Nietzscheschen frechen ‚Übermenschen‘, welches die Mitmenschen nicht dulden können, und hoffentlich nicht dulden werden.“ (Ernst Mach: „Die Analyse der Empfindungen“, 1886)

Daddy’s Home 2 (2017 Sean Anders)
Jim & Andy: The Great Beyond (2017 Chris Smith)
The Post (2017 Steven Spielberg)
Ready Player One (2018 Steven Spielberg)
Bad Girl Avenue (2018 Klaus Lemke)
The 15:17 to Paris (2018 Clint Eastwood)
Lucky (2017 John Carroll Lynch)
Die zwei Leben des Reno Roc (2018 Bruno Sukrow)
Grolsch (2018 Bruno Sukrow)
The Rider (2018 Chloé Zhao)

In Kürze mehr von Jules Verne und Ernst Mach, und über rundgerahmte Gesichter in Filmen.

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