Montag, 31.12.2018

Auge und Umkreis (III)


Belphégor (1965 Claude Barma)

Wassertropfen – Rundspiegel – Selbstschauung

In den Kapiteln I und II war Jules Vernes Katastrophenvergnügen verknüpft mit Ernst Machs Einsicht: „Das Ich ist unrettbar“. Und als eine Art Cliffhanger gab es da einen gigantischen Wassertropfen.


Arabesque (1966 Stanley Donen)

Letzter Versuch der Entschlüsselung. Der Regen auf der Windschutzscheibe verwischt die Hieroglyphen. Nur das Auge des dritten Vogels löst sich nicht auf. Der winzige schwarze Punkt ist ein Mikrofilm. Darin verborgen: der Termin des Attentats auf den Premierminister oder auf dessen Double.


Ein Ausschnitt aus „The Last of England“. F. Madox Brown, 1855, ***

Signatur und Jahresdatum sind an die Kante der Reling gemalt, unter diese Wassertropfen.

In der „Überfülle chaotischer, schmerzlicher Einzelheiten“ erkennt Harry Tomicek „das Pathos des Details“. Und so etwas wie eine britische Tradition, „die spätestens bei der Manier der Präraffaeliten beginnt, jedes Brombeerblatt und jedes Kringel im Schafwollpelz akribisch auszumalen,“ und die „eine ganze Generation englischer Kameraleute wie Douglas Slocombe, Jack Cardiff, Guy Green, Freddie Francis, Gerry Fisher auf das selbstverständlichste anleitet, gestochen scharf und schön zu photographieren.“

„Von der kleinsten Perückenlocke bis zu jedwedem Knopf der betressten Kleidung“ prägen sich einem Erschrockenen (in Sheridan Le Fanus „Geisterhand“, 1861) alle Details der Bedrohung ein, so gegenwärtig „wie Gewandung und Antlitz auf dem Portrait des eigenen Vaters, das ihm tagtäglich zum Frühstück, zum Nachtmahl und zum Abendessen vor Augen gehangen.“


The Dim Little Island (1949 Humphrey Jennings)

„Mit leerem, katastrophalen Blick sitzt das Ehepaar auf dem überfüllten Deck eines Auswanderer-Schiffs, die Hände ineinandergelegt (…) ohne irgendwo mehr hinzusehen.“ ***

Ford Madox Browns Gemälde „The Last of England“ bildet den Ausgangspunkt für Humphrey Jennings poetische Propaganda, die sich aus Schiffsbau, Musik und Schilf ihren Argumentationsstrang flicht.

Hartmut Bitomsky, 1975: “Vielleicht gibt es etwas, das dem surrealistischen automatischen Schreiben gegenübersteht, ein automatisches Sehen. Jennings lehnte es ab, Bilder zu erfinden; er suchte die Welt an den Stellen auf, wo sie seinem ungestillten Verlangen entgegenkam und von ihm wiederum abwich. Denn es gibt immer mehr zu sehen, als man erblicken kann.”


She Wore a Yellow Ribbon (1949 John Ford)

Das gelbe Band — „Captain Brittles ist Witwer, die Frau hat er im Idianerkrieg verloren, mit ihr die beiden Töchter, ihre Gräber liegen neben dem Fort. Zur einen Seite eine Leere, die ihr Tod hinterlassen hat, und zur anderen Seite ein Leben, in dem kein Platz für sie ist.“ (Hartmut Bitomsky: Gelbe Streifen Strenges Blau; Filmkritik, Juni 1978) „Der Film ist schön, denn das Kontinuum seiner Photographie enthält die Scherben der Geschichte.“

„Im allgemeinen ist es ja richtig, daß was sinnlich sich nahe berührt, sich auch gedanklich verbindet. Da aber Gedanken durch Association leicht in mannigfaltige und zufällige Verbindung treten, so ist man häufigen Irrtümern ausgesetzt, wenn man umgekehrt auch alles gedanklich Verknüpfte für sinnlich verknüpft hält.“
(Ernst Mach: Die Wucherung des Vorstellungslebens; Erkenntnis und Irrtum, 1905)


Aquaman (2018 James Wan)

Ein Tropfen Wasser noch. Körperflüssigkeit, Schweiß aus der Stirn des Wassermanns ist nötig, die eingetrocknete Mechanik in Gang zu setzen, die (in einer Höhle unter der Sahara) eine konservierte Mitteilung hervorbringt. Eine väterliche Botschaft, die der Held im Nu vergessen hat. Aquaman hat soviel Einsicht in die Unaufmerksamkeit seiner Zuschauer, dass er diese in seinem Protagonisten parodiert.


Les croix de bois (1931 Raymond Bernard)

Raymond Bernard erzählte 1973 wieviele Experimente nötig waren, um mit den ersten Tonfilm-Mikrophonen Explosionen aufzuzeichnen. Den Klang des Krieges zu reproduzieren.
Les croix de bois ist ergreifend, weil auf einem erbärmlichen Friedhof plötzlich ein Vogel zwitschert.
Bei der Premiere dann im Moulin Rouge: Die Träne des Präsidenten Doumer. (Und im Monat darauf das tödliche Attentat.)


Les amours de minuit (1931 Marc Allegret & Augusto Genina)

Der Blick aufs Publikum ist oft der Blick auf einen einzelnen Menschen im Publikum.


Un revenant (1946 Christian-Jaque)

Eric Rohmer hatte recht: Jules Vernes “Ein Kapitän von 15 Jahren” ist beachtlich!
Ein Schiff nimmt Kurs auf Valparaiso und kommt dort selbstverständlich nicht an. Die Besatzung muss, gestrandet und verirrt, Zuflucht suchen im verlasssenen Innneren eines Termitenbaus, dessen hohle Kuppel noch in der selben Nacht die Reisenden in höchster Gefahr gemütlich beherbergt, inmitten einer Überschwemmung, wie in einer Taucherglocke.
Was allerdings nach dem überstandenen Abenteuer auf sie wartet, sind die Realitäten der Sklaverei.


When Tomorrow Comes (1939 John M. Stahl)

Als der Blick auf das Portrait der Ehefrau (Barbara O’Neil) fällt, ist das dezente Krachen eines Blitzes die Ankündigung kommenden Unheils. Wenig später wird das Liebespaar (Boyer und Dunne) vor dem gefährlichen Sturm in einer Kirche Zuflucht suchen und zueinander finden. Die nächtliche Überschwemmung ist für die Liebenden, auf der Orgelempore im Trockenen, ein Geschenk. Ich sah mir den Film in Bologna gleich zwei mal an, um alle seine Überraschungen doppelt auszukosten.


Pandora and the Flying Dutchman (1951 Albert Lewin)

Kamera: Jack Cardiff. „Mit 14,“ sagte Cardiff, “war ich ein Veteran.“

Wie ein Geschenk kam Lewins Film in den 80ern noch einmal ins Kino. Frieda Grafe beschrieb, dass da, wo man ein Gemälde aus dem 17. Jahrhundert sehen soll, ein gerahmtes Photo Ava Gardners von Man Ray zu sehen ist. „Das Kino ist ein Wiederholungsritual, das besser als andere vorher den Zeitbegriff ruinieren kann durch seine magische Fähigkeit, alles in Gegenwart zu verwandeln.“


The Sound Barrier (1952 David Lean)

Nigel Patrick lenkt (in Lewins Film, als einer von Pandoras Anbetern) seinen überhitzten Rennwagen beim Rekordversuch am Meeresstrand in die kühle Brandung.

Leans Testpilotenfilm propagiert den heroischen Unsinn, im Sturzflug den Steuerknüppel zur Rettung nach vorn zu pressen. Es geht um Antriebe, sowohl Düsen als auch “dunkle Impulse zu gewaltsamem Tun, zum Eindringen, Zerschlagen, Irgendwo-ein-Loch-Aufreißen.” (Freud: Über infantile Sexualtheorien, 1908)

Im Fokus von The Sound Barrier steht Ralph Richardson als Personifikation des Vaters und des Fortschritts. Ihm zum Opfer fallen Sohn und Schwiegersohn. Die Tochter klagt zwar an, aber nur bis der Vater es schafft, sie mit seiner schrägen Einsamkeit zu rühren.


Forever England (1935 Walter Forde)

Diese Taschenuhr – einst im Besitz Lord Nelsons und über Generationen vererbt – wird zum spontanen Geschenk. Zum Beweis einer Liebe, die Klassenschranken ignoriert.
Eine Generation später: Der unehelich geborene Sohn wird, wie der Vater und die Vorväter, Soldat. Er ist ein hochbegabter Schütze. Die Uhr gibt ihm die Mutter vor der Abreise. Das Ziel: Valparaiso… Eine Kreisblende… Der Weltkrieg beginnt.

Die Basis von Kriegs- und Familiengeschichten, auch die von Aquaman (2018): Dass die Eltern getrennt leben, in getrennten Welten. Der biertrinkende Leuchtturmwärter und die königliche Bewohnerin der Hohlerde. Sie ist ein Nemo, er ein Niemand. Noch vor Filmbeginn liegt das Wappen von Warner auf dem Meeresgrund und das Siegel von MC schwimmt auf der Oberfläche.

Im Finale von Forever England (1935), in einem unterkühlten Massaker, inszeniert von Anthony Asquith, ist das Töten fast so unbekümmert wie in Hawks‘ Sergeant York und fast so finster wie in Bogdanovichs Targets. Je nachdem, wie man es sieht.

Eine bizarre Heldenphantasie (nach C.S. Forester): Der junge Soldat erlangt den Respekt des Feindes und nach dem Heldentod die Anerkennung seines Vaters. Der Feind war ihm vertraut, sogar nah, der Vater aber unbekannt.


Forever England (1935 Walter Forde)

Durch den Tod des Sohnes (John Mills) wird das Geschenk erneut zum Erbstück. Der Deckel auf der Rückseite enthält das Bild der Mutter (Betty Balfour). Und in den Händen des Vaters nun: Der Beweis vom unerkannten Wert derer jenseits der Klassenschranken. Als hätte das Sterben einen Zweck.

Judy Geater weist darauf hin, dass die Schauspielerin Betty Balfour nur 5 Jahre älter war als John Mills – „so when Mills cuddles and kisses Balfour it doesn’t really feel like a mother/son relationship.“
(Patrick Wilson und Nicole Kidman, in Aquaman: 6 Jahre Altersunterschied.)

Kennt man John Fords Pilmgrimage (1933), dann weiß man, was alles drinsteckt in Geschichten von Kriegshelden und ihren Müttern. Fords schockierend bittere Interpretation heitert sich unvermutet auf, als die Mutter zur Scharfschützin wird.


So Big! (1932 William Wellman)

Diese Taschenuhr hat in Wellmans Film, der Edna Ferbers Roman seltsam undramatisch komprimiert, keine große Bedeutung. Es gibt eigentlich nichts, was die Menschen einander vererben könnten. Aber es gelingt manchmal, etwas Kostbares weiterzugeben: Selbstvertrauen.


Pirates of the Caribbean (2003 Gore Verbinski)

Dieses Medallion aus Aztekengold hat der Sohn vom Vater bekommen. Es wandert noch durch viele Hände. Denn ein Fluch ist daran geknüpft, aber auch die Erkenntnis, dass in den Adern des jungen englischen Waffenschmieds das Blut eines Piraten fließt; erster Grund, warum die schöne Mutige ihn liebt.

„Es gibt nichts, was ein Fetisch nicht tun und verrichten kann, wenn es nur der rechte Fetisch ist. Wir sind geneigt uns dieser Auffassung gegenüber sehr stolz zu fühlen, aber auch unter uns finden sich Menschen, welche Amulette, Glücksschweinchen, Medaillons und andere Dinge mit sich tragen, und nicht nur zum Scherz. Unsere wissenschaftliche Auffassung von der Abhängigkeit der Naturvorgänge voneinander ist eben doch eine andere, als jene, welche noch in dem Volke lebt, von dem wir ein Teil sind.“
(Ernst Mach: Die Wucherung des Vorstellungslebens)


The Way of a Goucho (1952 Jacques Tourneur)

Ein Amulett der Santa Teresa, ein Geschenk der Lady (Gene Tierney) an den Deserteur (Rory Calhoun).
„Ein Technicolor-Traum über den Preis der Freiheit, durchsetzt von extremer Dunkelheit.“ (Christoph Huber)


Pandora and the Flying Dutchman (1951 Albert Lewin)

In Jules Vernes „Die Kinder des Kapitäns Grant“ will Lord Glenarvan nach gemeinsam überstandenen Abenteuern in Patagonien den Indio Thalcave überreden, mit ihm die Suche nach Kapitän Grant fortzusetzen. Doch Thalcave will seine Heimat, die Pampas, nicht verlassen. Auch lehnt er jede Bezahlung seiner Dienste ab. Glenarvan ist gerührt und möchte dem tapferen Indio wenigstens ein Andenken hinterlassen. Aber er kann ihm nichts schenken, denn Waffen, Pferde, alles ist in den Katastrophen unterwegs verlorengegangen. Da kommt ihm eine Idee, er nimmt aus seiner Brieftasche ein kostbares Medaillon mit einem gemalten Portrait, und gibt es dem Indio.
»Meine Frau,« sagt Lord Glenarvan.
Thalcaves sanfter Blick ruht lange auf dem Bild, bis er die schlichten Worte spricht: »Gute Dame! Schöne Dame!«


Account Rendered (1957 Peter Graham Scott)

Diese Brosche ist ein Beweisstück in einem Mordfall.

„Das Leben, das sich unablässig wiederholt, um in seinem Sturz seiner selbst inne zu werden, als halte es in einem jähen Begreifen seines Ursprungs den Atem an.“
(Pierre Klossowski)

Juno und Iris nehmen die 100 Augen des enthaupteten Argus und streuen sie auf Pfauengefieder. Das Wahnsinnsbild, das Rubens um 1610 gemalt hat, hängt in Köln.

Die Eintrittspreise deutscher Museen sind so hoch, dass deutlich, als wäre es ein Schild am Eingang, zu verstehen ist: Geringverdiener unerwünscht.


Passport to Destiny (1944 Ray McCarey)

Eine britische Putzfrau (Elsa Lanchester) beschließt Hitler zu töten. Sie nimmt einen Talisman mit nach Berlin.


Mission: Impossible (1996 Brian de Palma)


Doppelgänger (1969 Robert Parrish)

„Alles, was der primitive Mensch nicht versteht, erscheint ihm in einem eigentümlichen Licht. Wir können diese Erleuchtung nur wiedergewinnen, wenn wir uns lebhaft in die frühe Jugend, in die Kindheit zurückversetzen. (…)
Dem Beobachter, der die modernen [christlichen] Religionen kennt, fällt an allen diesen primitiven [vorchristlichen] Systemen auf, daß dieselben, und insbesondere die Vorstellungen von einem Leben nach dem Tode, nichts mit Lohn und Strafe, nichts mit Vergeltung und überhaupt nichts mit Ethik zu tun haben. (…)
Wo aber ein Teil des Volkes zu dauernder Sklaverei verurteilt, der andere Teil bestrebt ist, alles Gute des diesseitigen Lebens für sich zu nehmen, da ist eine Ethik, welche mit Vergeltung nach dem Tode rechnet, für ersteren Teil ein nicht zu unterschätzender Trost, für letzteren Teil recht bequem.“
(Ernst Mach: Die Wucherung des Vorstellungslebens)


The Outer Limits – Demon With A Glass Hand (1964 Byron Haskin)

Diese Medaille ohne jede Prägung ist einem Ausserirdischen gewaltsam abgenommen worden, im Kampf um Leben und Tod. Der Fortbestand der Menschheit steht auf dem Spiel. Plot und Drehort kehren wieder in Terminator und in Blade Runner.


The Outer Limits – Hundred Days Of The Dragon (1963 Byron Haskin)

Ein neu entwickeltes Serum macht das menschliche Gesicht formbar wie Knetgummi. Eine einfache Pressform mit seitlichen Griffen genügt, den Präsidenten durch einen Doppelgänger zu ersetzen. Die Stärke dieses kleinen Fernsehfilms: Den Gesichtsverlust konsequent ernst und zuletzt sogar wörtlich zu nehmen.

Fortsetzung folgt in Kürze

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