Wolf-Eckart Bühler, 1945 – 2020
Wolf-Eckart Bühler gehörte ab 1970 zu den prägenden Autoren und Redakteuren der Filmkritik. Ihm ist das erste Themenheft der Zeitschrift im Januar 1972 zu verdanken, ein detailliertes Kompendium von „John Ford’s Stock Company“. Sam Fuller, gerade in Köln, um den Tatort Dead Pigeon on Beethoven Street zu drehen, meldet sich euphorisch aus dem Senats-Hotel, „because it’s such an original idea giving credit to all those people seldom mentioned, hardly ever seen in magazines“.
Es folgten Hefte zu Piratenfilmen und – immer wieder – zur Geschichte der Linken in den USA und der Blacklist; wohl niemand in Deutschland hat sich so intensiv wie Bühler mit Irving Lerner (Januar und Februar 1981) und Leo Hurwitz (Februar 1979) beschäftigt. Auf John Ford ist Bühler, auch dies im Zusammenhang mit der Blacklist, ausführlich zurückgekommen („John Ford. Tribut an eine Legende“, August 1978): „Eine Reise durch Amerika, die Abgründe des Monument Valley und die Amerikanische Linke der Dreißiger Jahre, The Informer, Kommunisten, Volksfront und Reaktion, Amerikanische versus Unamerikanische Aktivitäten, The Grapes of Wrath, John Ford zieht sich zurück, Post Scriptum, er gewährt einem Kommunisten ein Interview.“ Peter Nau: „Zeitweise hatte die Filmkritik überhaupt keine Autoren, und der Bühler lag Tag und Nacht im Bett und hat Hefte vollgeschrieben – nur um die Zeitschrift zu retten.“
Anfang der 1980er Jahre dreht Bühler auch Filme für die WDR-Filmredaktion. Ein so schönes und liebevolles, zugleich so schonungsloses Porträt wie Leuchtturm des Chaos – ein paar Tage mit Sterling Hayden auf seinem Boot vor Besançon – wird man vergeblich suchen.
Im September 2007 las Bühler im Filmmuseum München aus Anlass des 50. Geburtstages der Filmkritik Auszüge aus seinem Text „Tod und Mathematik“, der kürzlich wiederveröffentlicht wurde. Zuvor erinnerte er sich an den Umbruch der Zeitschrift Anfang der 1970er Jahre: „Hefte mit Schwerpunkten hatte es seit der Vergesellschaftung, sprich: seit der Gründung der Filmkritiker-Kooperative 1970, hin und wieder schon gegeben. Aber das waren Ausnahmen und sollten es auch bleiben. Die Filmkritik hatte die Grenzen der konventionellen Herstellung einer Zeitschrift gesprengt; die Grenzen der konventionellen Rezension, der Einzelkritik blieben unangetastet. Dabei war der programmatische Name der Zeitschrift, eben Filmkritik und nicht Kino oder Kinohefte oder dergleichen, zu jener Zeit – Ende der 1960er Jahre – längst obsolet geworden. Was vor zehn Jahren, ja noch vor fünf, undenkbar gewesen war: Man musste nicht mehr in der Filmkritik publizieren, um über Film schreiben zu können und gehört zu werden. Und dies nicht zuletzt dank einiger Filmkritik-Autoren, die beispielsweise Filmredakteure der Süddeutschen Zeitung, des Spiegel etc. geworden waren. Eigentlich Anlass genug, umzudenken und auch Anderes und anders zu produzieren. Doch das war nicht oder zumindest viel zu wenig der Fall. Dass man auch anders über Film und Kino schreiben kann, war akzeptiert. Aber die Grundlagen zu recherchieren und zu vermitteln, weshalb und unter welchen Umständen und zu welchem Zweck es überhaupt Filme und Autoren und Genres und Filmsprache und Filmgeschichte und Filmpolitik gibt, das hätte eine andere Ausrichtung, eine andere Form der Zeitschrift gefordert. Zu langen und erbitterten Kontroversen führte insbesondere das Vorhaben von Helmut Färber und mir, obschon rein volumenmäßig allenfalls ein 2/3-Themenheft, eine Bestandsaufnahme aller in Deutschland gezeigten Western seit 1962 vorzulegen. Ich zitiere: ‚Eine Filmographie von Western – eine Aufschlüsselung des Produkts Western-Film nach seinen vielen Produzenten – ist Einsicht in die Entstehungsgeschichte eines Filmes, eines Genres, einer Art zu produzieren. […] Diese Zeitschrift, die seit ihrem Bestehen nur wenig getan hat dafür, daß einer einen Sinn bekommen kann für das, was Filmgeschichte ist und Umgang mit Filmen, soll von nun an öfter der Ort sein für Anregungen zu einer Entdeckung und Erforschung…‘
Zum endgültigen Bruch führte mein John Ford-Projekt, das erste regelrechte Themenheft – ein Thema, ein Autor, oder zumindest Dirigent/Supervisor. Das Sujet an sich, John Ford, wäre ja noch akzeptabel gewesen. Aber einen Kosmos zu beschreiben oder gar zu definieren, durch eine Arbeits- bzw. Herstellungsweise – in diesem Fall durch John Fords Schauspielerensemble –, das schlug dem Fass den Boden aus. Abgang der alten Garde.
Es folgte, für eine längere Weile zumindest, das Paradies. Ab jetzt war alles möglich. Die Filmkritik war immer noch keine verschworene Gemeinschaft, wie es nach außen hin vielleicht vielen erschien. Aber sie war eine Ansammlung von Individualisten, die sich gegenseitig respektierten, und mehr noch: förderten. Mit einer Einschränkung, die aber nichtsdestoweniger viele Jahre hindurch wie durch ein Wunder gemeistert wurde, der permanent unsicheren Finanzlage. ‚Vielleicht gab es niemals sonst‘, schreibt Markus Nechleba in seinem Programmtext zu dieser Veranstaltung, ‚eine solche, von Produktionseingriffen und Formzwängen freie Möglichkeit der Publikation wie hier.‘ Da hat er nicht unrecht.“
Bühler verfasste – ich glaube zu Beginn der 1990er Jahren – gemeinsam mit Hella Kothmann den ersten und bis heute maßgeblichen deutschsprachigen Reiseführer für Vietnam, der inzwischen in der 13. Auflage vorliegt. In den letzten zwanzig Jahren seines Lebens zog er sich vom Schreiben zurück. Aus einer Email im Dezember 2019: „Das fiel natürlich nicht leicht, ganz im Gegenteil – das Schreiben lassen war in etwa so wie das Atmen sich abzugewöhnen –, aber… was soll ich sagen: irgendwann war‘s gut; hatte ich meinen Frieden damit gemacht.“
Noch einmal Sam Fuller aus dem begeisterten Brief an „Mr. Bühler” aus Anlass des John Ford-Hefts: „The item that shocked me was about Carleton [G.] Young being dead. I had no idea!”
Vor einigen Tagen, am 16. Juni 2020, ist Wolf-Eckart Bühler gestorben und es ist an uns, mit dem Schock umzugehen.
24.06.2020 09:58
Ralf Schenk: Zum Tode von Wolf-Eckart Bühler, film-dienst, 22. Juni 2020