GESCHWISTER
Für Irena
Meine Dichterschwester
zwei Straßen weiter
sorgt sich wegen des angekündigten Sturms
befürchtet die Gasrechnung wird steigen
wie auch die Zahl der rechten Wähler in Österreich
sie setzt sich auseinander
mit den unzähligen Problemen der Ziehtochter
die stets auf dem Boden sitzt
eine Träne im Auge
wegen des Bekannten
der unters Auto kam
leidet auch wegen eines Wölkchens
auf der Stirn des Freundes aus Chile
fragt ob ich meinen Steuerverpflichtungen nachkomme
und die Gesetze der Ampel
an der Leibnizkreuzung achte
denkt ich solle mich nicht herumtreiben
um Mitternacht am Alexanderplatz
wo sich zweifelhafte Typen aufhalten könnten
glaubt nicht dass die Berliner Mauer ganz gefallen ist
quält sich wegen des Selbstmords
der Unica Zürn
vor mehr als zwanzig Jahren
und jenes längst vergangenen Schicksals
der Frau Woolf aus England
telefoniert mit den Verwandten aber kurz
disputiert mit dem Mann einem Deutschen
zwei Dichter in einem Zimmer
das ist zuviel
geht mit kleinen Schritten den langen Flur
der Wohnung hinunter
und kehrt zurück
als wäre sie in Afrika gewesen
so arbeitet ihre Sorgenmanufaktur
das Bleistiftherz meiner Sprache
gebrochen an der Wurzel
ich schreibe Gedichte statt ihrer
(Bora Ćosić, DIE TOTEN. Das Berlin meiner Gedichte.
Aus dem Serbischen von Irena Vrkljan und Benno Meyer-Wehlack
Berlin (DAAD), 2001, S. 86/87)