Sonntag, 07.11.2021

Mein Dank an Johannes

– von Manfred Bauschulte –

Meinen Beruf als Leser habe ich früh erkannt und reklamiert. Heute weiß ich ungefähr, was er bedeutet: er führt vom Abtasten der Augen beim Sehen (im Buch wie im Kino) zum Schreiben mit der Hand auf dem Papier. Es faszinieren mich Bücher, die es erlauben mit dem Reflexions- und Vorstellungsvermögen diesen Tastvorgang (des Sehens) zu begleiten, um ein kleines Stück Welt oder Wirklichkeit zu erfassen. Eins der Bücher, das mir das in jungen Jahren schon gestattete, habe ich in diesem Blog einmal gestreift: Antonin Artaud, Heliogabal oder der Anarchist auf dem Thron. Aus dem Französischen von Brigitte Weidmann mit einem Nachwort von Frieda Grafe. München 1972 (Bibliotheca Erotica et Curiosa).

Ein weiteres exemplarisches Buch im gleichen Format will ich genau vierzig Jahre nach seinem Erscheinen hier vorstellen und entsprechend würdigen:

Ludwig Hohl. Herausgegeben von Johannes Beringer. Frankfurt/M. 1981 (Suhrkamp Taschenbuch Materialien).

In den 1970er Jahre habe ich viele Leseversuche mit Büchern von Ludwig Hohl unternommen, in der Stadtbücherei Ibbenbüren die Erzählbände „Nächtlicher Weg“ und „Bergfahrt“ ausgeliehen, „Nuancen und Details“ im Ramsch gekauft. Es gab sie im handlichen Format der Bibliothek Suhrkamp. Der Schriftsteller Hohl war, blieb, ein Rätsel: Ist die „Bergfahrt“ eine Parabel, worin der Aufstieg wie der Abstieg zum Absturz führen? Was intendieren die Reflexionen über „Arbeit“ und „Arbeiten“? Was will der Satz „Dass fast alles anders ist“ sagen? Genau besehen wirkt er noch rätselhafter: „Dass fast alles anders ist… fast alles anders, als fast alle Menschen, fast immer, es sich vorstellen“. Bei Erscheinen trugen „Die Notizen“ (1980) diesen merkwürdigen Zusatz als Untertitel: „Von der unvoreiligen Versöhnung“.

Ende 1981 bin ich ich auf den besagten Materialienband gestoßen. Im ersten Teil versammelt er chronologisch 25 Rezensionen über das Werk von 1939 bis 1980, von Albin Zollinger bis Nicolas Born. Ich zitiere aus einem Essay des Schweizer Filmemachers Alexander J. Seiler (1928-2018) über die „unvoreilige Versöhnung“, was mir sofort eingeleuchtet hat: „Was kann der Mensch tun an der eigenen Stelle, er, dessen Mittel bescheiden, klein, scheinbar nichtig sind? Er, der Machtlose? Eben dies: keine Macht wollen, sondern Wert; mehr Leben wollen nicht als Quantität, sondern „Qualität“. „Das Unvoreilige der Versöhnung“ bestünde demnach darin im Kleinsten noch den Wert (die Qualität des eigenen Lebens) unbedingt einsetzen zu wollen. Das erlaubt Seiler von der „gigantischen Kleinheit“ der „Notizen“ zu sprechen.

Der Materialienband enthält ferner die erschütternde Chronik „Würde und Unwürde der Armut“ von Traugott Vogel, ein Bericht über die Jahrzehnte lange materielle Notlage des Schriftstellers Hohl. Er endet mit einer überraschenden Wendung über den Zusammenhang von „schöpferischer Not“ und „Glück“: „Aber das Glück ist nicht da, wo man es gewöhnlicher Weise vermutet: Zu sehen, wie, in allen Verhältnissen, der Geist von den Dingen sich scheidet, das ist das Glück“. Ein Autor wie Traugott Vogel (1894-1975) hat über die Grenzen der Schweiz hinaus wenig Beachtung gefunden. In diesem Band erhält er eine authentische Stimme ebenso der originelle, früh verstorbene Liedermacher Mani Matter (1936-1972). Auszüge aus den „Sudelheften“, die er bis zu seinem Unfalltod führte, lassen einen irriert staunend zurück: „Ich befinde mich im Zustand der Verpuppung und warte, dass der Schmetterling endlich aus mir herauskommt. Und wenn er nicht kommt? Hohl zitiert einen Satz der Katherine Mansfield, an den ich sehr oft denke: ‚Sometimes I feel that it is dangerous to wait for things‘. Der Satz macht mir Angst“.

Bei dem Satz der Mansfield geht es auch mir bis heute so, denn er zielt auf das bedrohliche Potential des Wartens (– auf das Ungewisse, den Tod?). Daran kann ich jetzt mit dem ungewöhnlichen Nachwort des Herausgebers anschließen. Wie das Nachwort von Frieda Grafe zu Artauds „Heliogabal“ den Pubertierenden (1972) hat dieses Nachwort (1981) den 20-Jährigen unvorbereitet getroffen. Ich will den Beginn im vollen Wortlaut wiedergeben:

„Ludwig Hohl ist am 3. November gestorben. – In seiner Wohnung an der Erstellung der Bibliographie weiterarbeitend, hatte ich oft, tagtraumhaft, den Eindruck, in sein Leben zu blicken, ihn bei der Arbeit zu sehen. Das, was in seinen letzten Monaten, vielleicht sogar intensiver als früher, volle Wahrnehmung der abnehmenden Physis, Auseinandersetzung mit dem körperlichen Leiden war, schien über den Einschnitt durch den Tod hinaus zu wirken. ‚Leben ist Arbeiten‘. Das hat auch da noch gegolten und es hatte zuletzt Geltung im Annehmen des Unausweichlichen. – Vom Arbeiten überhaupt. Dem Stück dieses Titels – ihm voran steht Vom Schreib-Arbeiten – habe ich den zitierten Satz entnommen. Hohls Gleichsetzung von Leben und Arbeit durchsetzt das Mißverständnis des allgeminen Begriffs: sie schließt in sich ein die Abrechnung mit dem Tod. Ich gebe den Satz im Zusammenhang des Schluß-Abschnitts wieder: ‚Nur im Willen zur Verwandlung ist das Leben. (Leben ist Arbeiten. Arbeiten ist ein Inneres in ein Außen bringen. Dieses Innere verwandelt notwendigerweise immer dieses Außen). Das Leben will Verwandlung und wird das Beharren der wichtigsten Dinge erreichen. Der Tod will das Beharren und wird die Verwesung erreichen‘ (Nuancen und Details, II,31).
Wie einer sein Leben wahrnimmt, wie er es wahrmacht, also erst lebt – sein bewußtes Sein -, wirkt über den Tod hinaus. Hohls Arbeit wird – nachdem er sein Leben bestanden hat – als sein Lebendig-Bleibendes weiterbestehen“.

Das Nachwort über Ludwig Hohl wurde von einem Herausgeber verfasst, von dem ich erst viel später erfahren habe, dass er als Cinephiler in der Tradition der französischen Filmkritiker André Bazin und Serge Daney steht. In diesem Zusammenhang will ich ihn noch einmal zu Wort kommen lassen:
„Kinoliebhaberei, sagt Daney, sei eine bestimmte Haltung und Sicht der Welt, bei der der Film zu einem fast persönlichen Gegenüber werde – da könne man hineinblicken wie in einen Spiegel und wie beim Bildnis des Dorian Gray erleben, dass man zusammen altere. Ein Cinephiler sei nicht einer, der bestimmte Verhaltensweise kopiere, die er auf der Leinwand gesehen habe, sondern einer der – viel bescheidener und viel stolzer – verlange, dass die Filme als Filme dauerten“.

Mit dieser Collage meiner Lese-Erinnerungen wollte ich auf schlichte Weise demonstrieren, wie in Bücher (und Filme) eine erfahrbare Dauer eingetragen ist, – und meinen Dank an Johannes Beringer für Anregungen, Briefe und Gespräche abstatten.

Köln, Rheinufer im Oktober 2021

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