Zu Hellmuth Costard
Buchcover mit Filmstill aus: Echtzeit
„Das ‚Rasterbild’, das auch für den Umschlag von Das Wirkliche war zum Modell geworden ausgewählt wurde, steht, so nimmt man an, für das Technisch-Virtuelle in den medialen Prozessen. Mit dieser Annahme spielen Costard und Ebert, wenn sie uns ein ganz und gar handwerklich erzeugtes Rasterbild in einem Film präsentieren, in dem es ständig um virtuelle, militärische Bilder geht, die auf dem Modell einer realen Landschaft beruhen, und etwa auch um Konrad Zuses Rechnenden Raum.
Es wäre ein Leichtes gewesen z.B. rgb-gesplittete, gepixelte Bilder in Nahaufnahmen von Fernsehern als technologisch eindeutige Rasterbilder zu zeigen. Stattdessen verlieren sich die Darsteller in diesem Film (ja die gibt es auch, und ich habe sie bis heute nicht verstanden) in einem Raster, das durch einen mit Glasfaserstäbchen vollgestapelten, mit Epoxidharz vergossenen und an den Stirnseiten geschliffenen Block besteht, dessen Spezialität es ist, Fehler zu haben. Die Technologie ist einer Glasfasermattscheibe entlehnt. Innerhalb eines jeden Stäbchens mischen sich alle auf der Gegenseite auftreffenden Lichtfarben in einer gemeinsamen Mischfarbe. An einer Stelle verkantet sich ein Stäbchen und bricht das geometrisch entstehende Wabenmuster, das nicht umhin kann, die Unregelmäßigkeit bis zum oberen Rand fortzusetzen. Die Filmemacher beschlossen diese Re-Materialisierung des ‚Computer’-Bildes gemeinsam – und Costard begab sich in die Werkstatt.“ (Sibylle Hofter, Modell und Wirklichkeit, in: Cargo, 5. 2. 2022)
„Der Film beschreibt den Übergang vom Analogen zum Digitalen. Die Einführung von Zeitcodierung in die Filmproduktion ist gleichbedeutend mit dem Einbruch des Computers in das Reich des Phantastischen“. (H. Costard, Projektbeschreibung ‚Kippenbergers Kommentar’, in: Hellmuth Costard, Die Wirklichkeit war zum Modell geworden, hrsg. von L. H. Gass, Berlin 2021, S. 165.)
„Den ungestörten Ablauf der Ereignisse“, wie es im brennenden Vorspanntext des Films DER KLEINE GODARD heißt, „als perfekte Inszenierung ausnutzen, um mit den Mitteln der Montage, mit Schnitt und Gegenschnitt den Eindruck einer Inszenierung zu erwecken: dem Zuschauer die durchschaubare Illusion anbieten, er befinde sich in einer Geschichte.“ (H. Costard, Spielfilme vollkommen phantasielos drehen, ebd. S. 160.)
„WITZLEBEN. Der Film … beginnt mit den Weihnachtsvorbereitungen und endet mit der ersten Benzinpreiserhöhung des neuen Jahres. Aber eigentlich gibt es weder einen Anfang noch ein Ende des Films, und die kleinen, vielleicht unscheinbaren Begebenheiten, die sich in dieser Zeit zutragen, sind weniger dazu bestimmt, einen Ausschnitt aus dem Leben der Leute zu geben, als dazu, eine Eigenzeit der Geschehnisse zu entwickeln. In der Regel wurde mit mehreren Kameras gleichzeitig gedreht, ohne Skript, ohne einen vorsätzlichen Drehplan. Einen Film sich ereignen zu lassen, ist etwas anderes, als ihn auszuführen.“ (Jürgen Ebert, ebd. S. 157.)
„KLAMMER AUF, KLAMMER ZU. Blaum geht aus der Toilette zum Tresen einer ultramodernen Bowlingbahn und lässt sich ein Taxi bestellen; wir sehen eine endlose Reihe von Bowlingbahnen und hören, wie die Kugeln in die Kegelgruppen einschlagen. Die Kamera zeigt eine Spielerin, ein paar Kegel, die umfallen, und einen Kegel, der stehen bleibt, um dann aber sofort für ein neues Spiel von der Mechanik des Systems abgeräumt zu werden.
Der an einer Hamburger Ausfahrtstraße trampende Ole will die Stadt für mindestens zwei Jahre verlassen, das habe er schon vor der Bundestagswahl 1965 beschlossen, sagt er. Ein Kleintransporter mit dem auf die Karosserie aufgebrachten Schriftzug »Jean Vigo«, hält an. Ein älterer Herr steigt aus, zeigt ihm Fotos einer jungen Frau und will wissen, ob Ole diese Frau gesehen hat. Hat er nicht, wird er aber bald. Vigo hatte großen Einfluss auf die Nouvelle Vague. »L’Atalante« war Hellmuth Costards Lieblingsfilm. In »L’Atalante« sucht der Kapitän eines Flussfrachters seine Frau, die ihn verlassen hat.
Ein Offsprecher erklärt, dass dieser Film aus drei Teilen besteht: zwei Klammern und einem Mittelteil, und dass nun der Mittelteil beginnt. Blaums kleine Odyssee führt jetzt durch vorstädtische Einfamilienhäuser und Gärten, wo er von einer Hausfrau ermahnt wird, nicht in die Beete zu treten. (…)
Die Frage an den alten Herrn in der Schlusseinstellung hat Hellmuth Costard mit jedem neuen Film der Zukunft gestellt: »Würden Sie in einem Film mitspielen?» Und die Zukunft hat, wie der alte Herr, jedesmal geantwortet: ‚Kommt drauf an …’.“ (Arno Dietsche)
„Ich wünsche mir, dass ein Film nicht nur auf seine Perfektion hin angeschaut wird, sondern darauf, ob eine Differenz besteht zwischen dem, was erreicht werden sollte, und dem, was daraus geworden ist.“ (Hellmuth Costard, in: Benjamin Moldenhauer, in: Konkret 7/22, S. 49.)
„Mit Hilfe des Readers Hellmuth Costard. Das Wirkliche war zum Modell geworden kann man sich die Perspektive und die Methode eines der interessantesten Kino-Außenseiters der Nachkriegsfilmgeschichte erschließen. ….
Zum Beispiel ‚Fußball wie noch nie’, ein Film, der vom WDR nicht nur finanziert, sondern erstaunlicherweise auch ausgestrahlt worden ist. Sechs 16-mm-Kameras zeigen ein Fußballspiel zwischen Manchester United und Coventry City, aufgenommen im September 1970. Genauer gesagt verfolgen sie einen einzigen Spieler, George Best, der während des Spiels ein Tor schießt und für ein zweites die Vorlage liefert. Sieht man den Film heute, wirken die Bilder sehr befreiend. Selbst die zwei Tore werden beim Zuschauen schnell egal, statt dessen sieht man einen Menschen, einen Fußballer in diesem Fall, bei der Arbeit, und alles, was am Sport Verwertung und Verdinglichung und Zurichtung ist, hat in diesen Bildern keinen Platz, ohne dass es dafür verdrängt würde.“ (Benjamin Moldenhauer, ebd. S. 48.)
„Es fragt sich nur, was die Fernsehverantwortlichen dazu bewogen hat, diesen 90-Minuten-Film in eine der besten Sendezeiten aufzunehmen.“ (Westfälische Nachrichten, 31.3. 1971)
„ … der vielleicht erste zaghafte Ansatz, die Subkulturen des Fußballs und des Pop zueinander finden zu lassen.“ (11 Freunde NR. 51, Februar 2006)
„Das Remake „Zidane – A 21st Century Portrait“ (2006) von Philippe Parreno und Douglas Gordon entstand 35 Jahre nach Costards Film ‚Fußball wie noch nie’, in dem er sechs 16-mm-Kameras 90 Minuten lang ausschließlich auf den Manchester-United-Spieler George Best richtete. Um das Projekt mit Best klar zu machen, fuhr Costard damals nach Manchester und verabredete sich mit dem trinkfesten Popstar im Hotel King George: „Als er kam, hatte ich für uns beide schon eine große Kanne Schokolade bestellt. Es war seine erste Schokolade seit 30 Jahren, sagte er mir. Es war wirklich ein gutes Hotel.“ (Rainer Komers, TAZ, 20. 7. 22)
„Die zermürbenden Kämpfe Costards, der kein Drehbuch bei den Fördergremien einreichen wollte und konnte, weil es vor Drehbeginn nun mal keines gab, sind in Das Wirkliche war zum Modell geworden, dokumentiert.“
(Benjamin Moldenhauer, in: Konkret 7/22, S. 48.)
„Die allgemeine Verfügbarkeit von Handykameras hätte Costard eventuell gefreut; der überwiegende Teil der mit ihnen produzierten Bilder wahrscheinlich nicht. Wer seine Arbeit mit gesellschaftlicher Emanzipation koppelt, kann nur, wenn die Emanzipation scheitert, ebenfalls scheitern. Costard hat einen ‚Film der dritten Art’ konzipiert, der das Sujet des Dokumentarfilms mit der Montage des Spielfilms verbindet. Die filmtheoretischen Notizen Costards, die in Das Wirkliche war zum Modell geworden, versammelt sind, lassen sich ausgehend von diesem bereits antizipierten Scheitern erschließen, das hier nicht als Versagen, sondern als Notwendigkeit und ästhetische Qualität gefasst wird.“ (Benjamin Moldenhauer, ebd. S. 49.)