Mittwoch, 11.06.2003

Sehen und Sterben

oder: Wie viel Überlebenschance hat der Tod?
Zu SOLARIS/Soderbergh und THE HOURS/Daldry

The likeness of the thought is, for some reason, more beautiful, more comprehensible, more available than the thought itself.
Virginia Woolf, The Cinema, 1926

Zu den spontanen Erinnerungen beim Aufrufen des Films SOLARIS von Tarkowski zählt die Gegenwart des Alterns und die Vergegenwärtigung von Ewigkeit mittels stetig fließenden Wassers. Es ist das Wasser eines Flusses nahe dem Elternhaus des Psychologen. Pflanzen schlängeln sich unter der Oberfläche in andauernder Strömung. Ich habe den Film lange nicht gesehen, aber daran erinnere ich mich. Das Altern ist den Darstellern eingeschrieben. Augenringe und Tränensäcke, zuweilen Weniges zuviel der Korpulenz für an amerikanische Schönheitsstandards gewöhnte Augen – alle bezeugen, dass sie ein Leben gelebt haben und dieses auch weiterhin tun. Man kann ihnen sozusagen beim Altern zuschauen und dem Tod bei der Arbeit. Die Ewigkeitsmetaphern können als Rückkehr der Zeitfreiheit eingestuft werden (Axel Holm), die eine Unterscheidung von tot oder lebendig obsolet werden lassen und als Thema das Werk Tarkowskis durchziehen. Was nicht bedeutet, dass der Tod sein Numinoses nicht behielte. Mit Theweleit könnte man vielleicht auch hiesiger auf die Allgegenwart von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in jedem Punkt des Jetzt verweisen, was dieser nicht müde wird zu tun. Die Erzählung hat gerade diesen Aspekt von Zeitfreiheit zum Gegenstand: Die Protagonisten träumen ihre Vergangenheit, die sich mit Hilfe eines intelligenten Planeten soweit konkretisiert, dass ihnen diese Vergangenheit in identischen Wiedergängern einst nahestehender, aber jetzt toter Personen gegenübertritt. In deren Leben und Sterben waren die Träumenden zumal schuldhaft verstrickt. Die Bewegungsrichtung erscheint dabei wichtig: Aus sich heraus schöpfen die Träumenden die Vergangenheitsvorstellung, einzig die Materialisierung besorgt der Planet. Als seien sie zwei Kontrahenten im Kalten Krieg wurde SOLARIS zumeist mit Kubricks 2001-A SPACE ODYSSEE konfrontiert. Hier ist die Bewegungsrichtung eine andere. Alle Ewigkeitsaspekte werden von außen herangetragen, von einer höher entwickelten Intelligenz, die die Dinge richtet. Wie üblicherweise das Böse in amerikanischen Filmen kommt hier auch die Heilsbotschaft von außerhalb. So steht der Verweis auf den inneren Kosmos bei SOLARIS kosmisch-allumfassendem Expansionsdrang bei 2001 entgegen. Der rasante Alterungsprozess der Hauptfigur wird im Kubrick-Film maßgeblich vom Maskenbildner beherrscht. Alles ist mit der entsprechend aufgebrachten Anstrengung – herstellbar. Alter erscheint als Zeichen, dessen Künstlichkeit den spekulativen Charakter der Erzählung unterstreicht, bewusst eingesetzt, um an Natur vielleicht gerade noch zu erinnern. Insofern werden die Anforderungen erfüllt, die Barthes schon Anfang der fünfziger Jahre erhebt: „Das Zeichen sollte sich nur in zwei extremen Formen geben: entweder eindeutig intellektuell, durch seinen Abstand reduziert auf eine Algebra, wie im chinesischen Theater, wo eine Fahne voll und ganz ein Regiment bedeutet; oder tief eingewurzelt, jedes Mal gewissermaßen erfunden, einen inneren geheimen Aspekt liefernd, Signal eines Augenblicks und nicht mehr eines Begriffes …“ Roland Barthes, Die Römer im Film, in: Mythen des Alltags, Frankfurt/M 1981.

In der Soderbergh-Neuverfilmung von SOLARIS und dem Film THE HOURS (Stephen Daldry; deutscher Verleihtitel: Von Ewigkeit zu Ewigkeit) geht es vorgeblich ebenfalls um Aspekte von Zeitfreiheit, Ewigkeit und Tod. Beiden jedoch gelingt dabei die spurlose Abschaffung des Todes, obwohl fortwährend von ihm geredet wird. Das Nicht-Hinterschaubare wird kolonisiert, für unbedeutend erklärt zum einen und damit nichtig, zum anderen als gute Idee suggeriert, die ‚problematischem’ Leben als Lösung zur Verfügung steht, eine Glücks- und Erlösungsstrategie geradezu. Beide wetteifern in dem Bemühen, den Tod um die Ecke zu bringen. Aber der Reihe nach.

„…and death shall have no dominion.“ Um diese Gedichtzeile von Dylan Thomas herum, die in der deutschen Version mit „…und dem Tode bleibt kein Reich mehr.“ übersetzt wird, gruppiert sich die Handlung des Films SOLARIS bei Soderbergh. Obwohl damit eindeutig christliche Konnotationen vorliegen, ist die Erdenwelt gen Himmel mit konstanter Boshaftigkeit leicht eingetrübt. Zu ungefähr 10 % des projizierten Filmbildes ragt von oben ein Magenta-Verlauffilter in die Szene hinein, solange wir uns im Freien befinden. Wie in der Werbung, wo dieses Filter vermehrt Anwendung findet, kündet es von einer unbestimmten aber eher unheilvollen Dramatik. Der Weg nach oben ist versperrt, die Verbindung zum Jenseits, zum Unbewussten, auf Grund einer Kommunikationsstörung unterbrochen. Das Bild wird in eine Dauerspannung versetzt, die wie eine monochromatische Einfärbung mit der Zeit erlahmt. Am Ende sieht man eben doch nur George Clooney auf der Straße. Ähnliche Effekte stellen sich in deutschen Krimiserien wie DERRICK ein, in denen die Lichtkegel im Kommissariat in Permanenz nur bis zur halben Raumhöhe reichen, um Suspense herzustellen, um zu zentrieren. Das Ergebnis aber ist eher ein Eindruck steter Deckelung und Miefigkeit. Ganz nüchtern betrachtet führt dieses technische Verfahren zu einer Aufhebung der Vertikalen im Bild und im Denken. Und es handelt sich um ein Zeichen, dass ostinat Natürlichkeit behauptet, wie ein Chinchillaimitat mit zertifizierter Echtheitsgarantie.

Wie spiele ich, dass ich träume, und wie forme ich aus diesem Spiel ein Bild? Soderbergh setzt in seinem Versuch noch einmal auf die Aura seiner beiden Hauptdarsteller, weiß aber auch, dass sie nicht tragen wird. So wählt er die Nahaufnahme. Von hinten über den Kopf Teile des Gesichtes filmen und die Hautporen dabei zählen können, ermöglicht, dem Innern der Person vermeintlich sehr nahe zu sein. Zweimal wagt er sich daran, emotionale Dramatik in Totalen zu kleiden und beide Male lässt er seinen Schauspieler damit völlig allein und scheitern. Zum einen im Michelangelozitat der ‚Erschaffung Adams’, ein Sterblicher berührt die Hand einer geträumten Konkretion, deren träumender Erzeuger bereits verstorben ist. Godard hat in NOUVELLE VAGUE ein ähnliches Zitat gemeistert, indem er es als solches ausgestellt hat. Zum anderen in dem Augenblick, da sich das Liebespaar gegenseitig als geträumte Konkretion erkennt und nunmehr weiß, dass es ewig ‚leben’ wird. Clooney muss Erstaunen spielen gegenüber seiner Frau, die er tot wähnt, hinter einem Küchentresen hervorkommen und ihr – mittlerweile völlig ungeschützt – mit offenen Armen entgegen treten. Es mag bessere Schauspieler geben; diese Situation allerdings auch noch in Überhöhung ohne Peinlichkeit über die Leinwand zu bringen, wird auch denen nicht leicht fallen.

Im letztgeschilderten Fall offenbart sich zugleich die neue Ausdeutung dieser Solarisversion. Zurück auf der Erde erkennt der Psychologe, dass er nur eine geträumte Version seiner Person ist – geträumt von wem? – und auf die Frage an seine ihm erscheinende Frau, von welcher Natur sie denn sei, erhält er die Antwort, dass das ja nun keine Rolle mehr spiele. Ihr beider Zustand erinnert an das Wesen von Zombies. Doch während Zombies körperliche Konkretionen von Toten sind, denen es gänzlich an Lebensgeist mangelt und die deshalb alles Lebendige verschlingen müssen, einverleiben und verdauen, handelt es sich hier um körperliche Manifestationen voll des Lebensgeistes, sozusagen gar nicht tot zu kriegen. Woran es ihnen aber fehlt, ist jede Art von Todesgeist. Wer den Tod nicht mehr vor Augen hat, dem bleibt nichts mehr, als zu konsumieren, sich Totes einzuverleiben. Turbo-Christentum, gereinigt von Nächstenliebe und Demut gegenüber der Schöpfung, einzig das ewige Leben verheißend, und – auf der anderen Seite – ungebremste Warenproduktion, auf der Suche nach dem perfekten Endverbraucher fündig geworden, gehen in dieser Figur in eins. „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ 1.Kor.;15,55

„The visionary must die!“ – so spricht Virginia Woolf in THE HOURS, nachdem sie sich entschieden hat, Mrs Dalloway in ihrem gleichnamigen Roman nicht durch Selbstmord sterben zu lassen, sondern den Erzähler, der sie selber ist. Der Roman wurde 1925 geschrieben, der tatsächliche Selbstmord Virginia Woolfs datiert auf 1941. Ob die Aussage verbrieft ist, spielt letztlich keine Rolle – es ist der Basissatz, auf dem sich THE HOURS entfaltet. Neben Virginia Woolf stirbt ein weiterer Erzähler zwei Generationen später. Kompromisslose Schriftsteller beide – ihre Werke werden im Verlauf der Handlung immer wieder als schwierig eingestuft – wissen sie, wann es Zeit ist, ihrer Freiheit durch Selbsttötung Ausdruck zu verleihen. Wobei sich der zweite Erzähler, der im zeitgenössischen New York lebt und stirbt, als Opfer seiner Mutter herausstellt, die nach der Lektüre von MRS DALLOWAY ebenfalls Hand an sich legen will, später jedoch davon absieht. Sie weicht dem Problem ihres Lebens aus, verlässt ihre Familie ohne Angabe von Gründen und vererbt ihrem Sohn die Todessehnsucht, der sie sich als einfache Leserin entziehen konnte. Diesem als Schöpfendem, dem Tode Näherem, wird sie schließlich zum Verhängnis. Gewinner bleiben die erfolgreichen Verdränger, die sich einzurichten wissen.

Eine sich wiederholende Bildmetapher muss etwas zu bedeuten haben. In allen drei Episoden des Films spielt die Zubereitung von Essen eine gewichtige Rolle. Im Mittelteil, der von der unglücklichen Leserin des Romans MRS DALLOWAY handelt, dient dies einzig dazu, die Unfähigkeit der Köchin vorzuführen. In der Küche wirkt sie deplaziert, Unglück allerorten. Die ummantelnden Geschichten dagegen weisen jeweils Frauen aus, für die Kochen sowohl Arbeit als auch Leidenschaft ist. Da ist zum einen die Köchin von Virginia Woolf, zum anderen die gute Freundin des Schriftstellers im heutigen New York, dargestellt von Meryl Streep. Während die Küchenangestellte von Frau Woolf Lambs Pie zubereitet, kreiert Meryl Streep Pasteten und Salate für eine bevorstehende Party. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei Dingen gewidmet, die den Köchinnen durch die Hände gleiten. Das sind in Virginia Woolfs Küche die Nierchen und Innereien des Lamms, bei Meryl Streep Eidotter, während der Extraktion vom Eiweiß. Beide Frauen sind gleichzeitig im Verlauf dieser Arbeit in Gespräche eingebunden, die sie innerlich aufrühren. Nahaufnahme: Etwas flutscht durch die Finger – glitschig, fassungslos, Verzweiflung, Wut, Hilflosigkeit. – Es gibt in England ein Sprichwort: Don’t cry over spilt milk! Dieses Sprichwort kommt im Film nicht vor.

Wie alle anderen Künste auch scheint die Kinematografie nicht in der Lage zu sein, das Wesen von Schaffensprozessen eins zu eins darzustellen, es sei denn, sie findet dafür eine gattungsspezifische Form; die bloße Abbildung allerdings tut gar nichts dazu. Legionen von filmischen Maler-, Musiker- und Schriftstellerbiografien lassen den Zuschauer, was diesen Punkt betrifft, hilflos und peinlich berührt zurück, indem sie sich in eine Kombination aus Genie- und Wahnsinnsdarstellung flüchten. Das betrifft aber nicht nur den künstlerischen Schaffensprozess, sondern alle Nahtstellen zum Tod, zum kleinen Tod, dem Schlaf, und zum Unbewussten, wie da wären: Sterben, Einschlafen, Erwachen, Schlafen, Mit-Jemand-Anderem-Schlafen, alle Formen des Geschlechtsverkehrs, etc.. Sie bleiben heikel in der Repräsentation. In Situationen, in denen wir so etwas wie der Schöpfung am nächsten sind, versagt die einfache Darstellung. Über Gott zu sprechen ist anmaßend – wo ist da der eigene Standpunkt zu verorten – man kann nur von ihm sprechen. (Silverman/Farocki nannten ihr Godard-Buch deshalb: VON GODARD SPRECHEN; dieser Hinweis erscheint hier trotz der zwangsläufigen Pointe.)

Der Film THE HOURS zeigt sich gegenüber den obigen Überlegungen als naiv. Er lässt Virginia Woolf schaffen. Das ist um so bedauerlicher, als THE HOURS von einer Schriftstellerin handeln möchte, die mich durch ihre erhellenden Ausführungen zum Wesen des Kekses nachhaltig beeindruckt hat. In EIN ZIMMER FÜR SICH ALLEIN – oder war es in DREI GUINEEN – beschreibt sie dieses Gebäck, das als Nachtisch zu einer Mensamahlzeit in einer oxforder Universität gereicht wird, ungefähr wie folgt: Es liegt im Wesen von Keksen trocken zu sein – und diese hier waren Kekse durch und durch. Nicole Kidmans durchgehend trotzig-pubertäre Woolfdarstellung lässt von dieserart anarchischem Humor nichts spüren. Die Schriftstellerin im Film erscheint einseitig instrumentalisiert in einer Art Zum-Tode-Sein. Selbst zur Romanfigur geworden unterliegt ihre Darstellung einer plumpen Zeichenhaftigkeit, vor deren die Kinematografie unterschätzenden Gefahren Woolf selbst bereits 1926 gewarnt hat. „ … the picture-makers seem dissatisfied with such obvious sources of interest as the passage of time and the suggestiveness of reality. … They want to be improving, altering, making an art of their own – naturally, for so much seems to be within their scope. So many arts seemed to stand by ready to offer their help. For example, there was literature. … The cinema fell upon its prey with immense rapacity, and to this moment largely subsists upon the body of its unfortunate victim. But the results are disastrous to both.“ Was ihr als zu entwickelndes filmisches Mittel vorschwebt, ist ein Verfahren der visuellen Einkreisung des Gedankens, ohne ihn aussprechen zu müssen – ein Verfahren, das sie in DAS KABINETT DES DR CALIGARI entdeckt zu haben meint und dessen sich eröffnender Reichtum Grundlage der neuen Kunst bilden wird. „The exactitude of reality and its surprising power of suggestion are to be had for the asking.“ Bemerkenswert daran scheint mir, dass die Schwatzhaftigkeit des Mediums schon beanstandet wird, bevor es sich überhaupt verbal äußern kann. Der Film THE HOURS, in dem sie als Person zitiert wird, ist in diesem Sinne betont schwatzhaft und unerwachsen. Überall okkupieren eindeutige Zeichen, die als Natur daherkommen, die gemeinte Wirklichkeit, erwürgen sie. Dass es den Tod tatsächlich geben könnte und was das bedeutet, dieser Gedanke kommt dem Film nicht, und er nähert sich ihm auch nicht an – was um so erstaunlicher ist, als es sich um sein eigentliches Thema handelt. Muss aber nicht von jeder Kunst als Grundvoraussetzung gefordert werden, des Todes angesichtig zu sein? Oder geht der Anspruch des Kinogehers vor: Egal wovon mir der Film erzählt, er erzählt mir, dass ich unsterblich bin?

„For a strange thing has happened – while all the other arts were born naked, this, the youngest, has been born fully clothed. It can say everything before it has anything to say. It is as if the savage tribe, instead of finding two bars of iron to play with, had found, scattering the seashore, fiddles, flutes, saxophones, trumpets, grand pianos by Erard and Bechstein, and had begun with incredible energy, but without knowing a note of music, to hammer and thump upon them all at the same time.“ Virginia Woolf, 1926

Die Reorganisationsversuche dauern an.

Anhang:
Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten, das, was die Kraft erfordert. Die kraftlose Schönheit hasst den Verstand, weil er ihr dies zumutet, was sie nicht vermag. Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und vor der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgend etwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.

G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes
gefunden bei:
Roman Lesmeister: Der zerrissene Gott, Zürich 1992
Kritik zu dem Hegelwort findet sich bei:
Karl Heinz Bohrer: Ekstasen der Zeit, München 2003

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