Mittwoch, 30.06.2010

„Welch gesegnete Zeiten, in denen Daguerre mit seinem unhandlichen und unzuverlässigen Instrument das Bild dieses Lebens festhielt, das tägliche Leben von damals, das eben erst von der verhässlichenden Nüchternheit der aufkommenden Industrien berührt worden war, das aber noch nichts von seinem traumwandlerischen Gang verloren hatte. Wenn wir beim Anblick jener Schwarzweiss-Darstellungen so fasziniert sind, so ist das darauf zurückzuführen, dass sie uns innere Fenster auf das damalige Tagesgeschehen zu öffnen scheinen: im Augenblick, da irgendeine Fassade ihren Schatten auf die Strasse wirft, sind vielleicht gerade eben Balzac oder Baudelaire oder Delacroix über ihn hinweggeschritten. Die Hast, mit der man die Geschäfte betrieb, war nicht geschwinder als der Schritt der Pferde, ein animalischer Schritt, und so auch das Atmen der Menschen. Das Stundenmass war nicht unerbittlicher als das langsame Wachsen des Schattens, der sich auf die Gegenstände herabsenkt. Menschen und Dinge vermochten noch eine gesammelte Haltung einzunehmen unter dem Blick dieses Fotografen, der bestrebt war, mit Hilfe des die Zufälligkeiten abschwächenden Lichtes ihre ewigen Strukturen hervorzuheben. Doch die fatale Konspiration zwischen den gerissenen Bankiers und den Erfindern entfesselte eine Energie, die die aggressiven Intentionen des Denkens verzehn-, ja verhundertfachte, die Faktoren von Zeit und Raum interferieren liess, die Schwerkraft aufhob, die Strukturen aus dem Gleichgewicht brachte und Festes in Flüssiges verwandelte, so dass die Gegenwärtigkeit der Gesichter und Dinge in einem stetig sich verflüchtigenden Raum immer unwahrscheinlicher wurde. Sogar ihre naive Wahrnehmung verwirrte sich: zu diesem Zeitpunkt bildeten die Impressionisten das Echo zu dem Schwanengesang auf den einstigen Tag und die einstige Nacht des Lebens, des nunmehr modern gewordenen Lebens: es war ein Äusserstes an erhabenem Flimmern … und alles löste sich auf in leuchtenden Staub – während in der Provence ein alter Dämon, der verliebt war in die kahlen Berge und in das leise Beben der Pinien und der Eukalyptusbäume, sich darum mühte, noch einmal den feierlichen Anblick der Welt zu rekonstruieren. Er wurde als Narr behandelt, und diejenigen, die sich befleissigten, seiner göttlichen Hand zu folgen, wollten sich seine Augen aneignen, ohne seine Seele zu besitzen. In der von seltsamen Zuckungen und wilden Schauern erschütterten Atmosphäre brachten die Zentrifugalkräfte das Auge und das, worauf es gerichtet war, zum Zerspringen: die Explosion selbst war zur Notwendigkeit geworden, und das Auge konnte fortan nur noch an verstümmelten Gegenständen, an sich auflösenden Bildern Befriedigung finden; damals mischte sich der Teufel ein und proklamierte durch die Stimme eines ketzerischen Doktors – so ketzerisch wie nur denkbar –: ‚Die Fotografie hat die Malerei von dem Zwang der Naturnachahmung befreit.’“

(S. 76/77 in: Pierre Klossowski, „Die Gesetze der Gastfreundschaft“, Berlin 2002; übersetzt von Sigrid von Massenbach. Das Zitat ist aus „Der Widerruf des Edikts von Nantes“ / „La Révocation de l’Édit de Nantes“, zuerst erschienen bei den Éditions de Minuits, Paris 1959.)

Ein Kommentar zu “”

  1. Bettina Klix schreibt:

    Danke für diesen wunderbaren Auszug. Erinnerte mich daran, was Klaus Honnef einmal über Eugène Atgets Fotos schrieb:“Die Szenerien erinnern an Schattengebilde; in ihnen spiegelt sich gewissermaßen das, was physikalisch Fotografie ausmacht.Ebenso wie ihre Gegenstände die Botschaft einer jeden fotografischen Aufnahme, ihren melancholischen Grundzug potenzieren. Atget erblickte in seinen Bildern Vorlagen für Maler.“ (in: Eugène Atget, Das alte Paris, 1978)

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