Mai 2011

Montag, 30.05.2011

Du musst dein Leben ändern

„Mein Leben hatte mich verändert. Ich hatte mein Leben geändert. Du hattest Dein Leben nicht geändert, Du Unabänderlicher.“ So schreibt es Thomas Harlan in „Veit“, dem atemberaubenden Buch über seinen Vater, den Regisseur von „Jud Süß“. Dieser Brief an den Vater, den Thomas Harlan, schon schwer krank, nur diktieren konnte, zeugt vom Bemühen des Sohnes, die Schuld des Vaters auf sich zu nehmen, etwas, was er Zeit seines Lebens durch seine Arbeit der Aufdeckung tätig umsetzte. Ihm erschien es aber nie genug. Der Hass war nicht so groß, dass die Liebe nicht weiter wünschte, diese Schuld abnehmen zu können.

Ein verstörendes Buch.

Freitag, 27.05.2011

Ein merkwürdiger Traum

Heute Nacht hatte ich einen merkwürdigen Traum. Ich träumte von einer unglaublich geheimen illustrierten Zeitschrift, in der Eingeweihte heimlich das Allerbeste schreiben. In einer dunklen Bar treffen sie sich einmal im Monat und lesen sich anerkennend aus der Zeitschrift vor. Stolz zwar auf das tüchtig Erbrachte, doch auch notwendig bescheiden, das Geheimnis zu wahren, zeigen sie die Seiten nur einander, trinken exquisite Getränke, rauchen feinste Tabaks, und bezaubernde Musik stimmt dazu. Diese Zeitschrift ist auf feinem, seidenen Papier, doch glänzen die Abbildungen, und die Texte scheinen in tiefem Druck. Die Texte, sie sind so gut und so fürstlich bezahlt (aber von wem), dass alles, was sonst ist in der Welt, nur so und nebenbei gemacht wird von den Leuten, und eigentlich, man muss es leider sagen, aus Häme. Das nur-so-und-nebenbei Gemachte der Eingeweihten ist, von dem alle anderen wissen, das Ansonsten der Welt. Vom Eigentlichen, dem Geheimnis jener illustrierten Zeitschrift, ahnen nur einige und noch weniger wissen darum. Sehr verwirrt erwachte ich aus diesem Traum.

Donnerstag, 26.05.2011

The number one activity is people looking at other people.


Social Life of Small Urban Places
(1979, William H. Whyte) steckt voller Erkenntnisse. Kleine Erkenntnisse, deren große Bedeutung man mit eigenen Augen erfassen muss: „People move chairs.“ „People touch water.“ Das Erkennen von Möglichkeiten. Das Erkennen von Schönheit.

Ich weiß nicht, ob es richtig wäre Social Life of Small Urban Places ein kleines Meisterwerk zu nennen, denn vielleicht ist es ein großes.
Hier ein kurzer Ausschnitt. Hier in ganzer Länge (58 Minuten).

Mittwoch, 25.05.2011

Bildervehikel

Eine unerwartete Entdeckung in der Darmstädter Ausstellung „Serious Games – Krieg – Medien – Kunst“ waren für mich die anonymen afghanischen Kriegsteppiche, die gezeigt werden. Hier entpuppt sich ein Genre der Volkskunst, das zur Zeit der sowjetischen Besatzung entstand, als eine neue Art von „Medienkunst“. In dem besonderen Kontext dieser Ausstellung können sie Botschaften überbringen, die auf anderen Kanälen nicht ankommen. Aby Warburg nannte den Bildteppich ein „bewegliches Bildervehikel“ – lange bevor andere Medien diesen Dienst anbieten konnten.

Ein ausgestellter Teppich zeigt den Anschlag auf das World Trade Center 2001. Die beiden Flugzeuge fliegen wie riesige Insekten heran, am schwierigsten zu knüpfen waren die Einschlagswolken. Aber alles ist gut erkennbar auf dem textilen Bildschirm. Die Bilder, die wir vom Fernseher kennen, wurden mühevoll angeeignet und still gestellt in der Handarbeit.

„Serious Games – Krieg – Medien – Kunst“, Darmstadt, Mathildenhöhe, noch bis 24.Juli

Dienstag, 24.05.2011

* michaelalthen.de – In Worten: Die Bilder

Montag, 23.05.2011

Telefon (11)

Jess De Gruyter’s Telefon (2004), via mubi notebook

Samstag, 21.05.2011

Amerikanische Kinos (4)

Das Paramount Theater ist Austins ältestes noch existierendes Kino. Als es 1915 gebaut wurde, hieß es Majestic und war ein Vaudeville-Theater. Zwei Jahrzehnte später konnte man mit Vaudeville kein Geld mehr verdienen, Paramount kaufte das Haus und machte es zum Kino. In einem kleinen Film über die Geschichte des Kinos berichtet einer, dass nach den glanzvollen Vierzigern und Fünfzigern der übliche Abstieg einsetzte. Er erinnert sich daran, wie draußen für THE FIVE FLYING FINGERS OF DEATH mit Bruce Lee geworben wurde, und im Zuschauersaal, der gut gepolsterte 1200 Sitze hat, saßen nur 12 Hartgesottene. Zwar heißt der Film THE FIVE FINGERS OF DEATH und Bruce Lee spielt gar nicht mit, aber so ist das mit der Filmerinnerung. Seit dem Relaunch 1980 wird wieder ein gemischtes Programm angeboten, Konzerte, Theaterstücke, Tanzshows. Während des Festivals darf das Gebäude für eine Woche so tun, als wäre es ganz Kino.

Die Schlange der Akkreditierten zieht sich bis um die Straßenecke. Mich fragt jemand, ob er hier richtig sei für Billy Bob Thorntons Dokumentarfilm über Willie Nelson. Nein, Billy Bob Thorntons Dokumentarfilm über Willie Nelson kommt morgen um die gleiche Zeit. Ich kann ihm nicht sagen, was jetzt hier läuft; diesmal habe ich das Kino ausgesucht und nicht den Film. Die resoluten alten Damen am Eingang tragen rote Uniformen und legen einen professionellen Stoizismus an den Tag, als hätten sie seit THE FIVE FINGERS OF DEATH nichts anderes getan als hier zu stehen und für die notwendige Einhaltung der Regeln zu sorgen. Gegenüber Festivalbesuchern, die ihre Getränke mit ins Kino nehmen wollen, zeigen sie sich unnachgiebig. Auch im prunkvollen Saal stehen einige von ihnen und mahnen die Zuschauer mit strenger Miene, aufzurücken und keine Lücken zu lassen.

ANOTHER HAPPY DAY, mit Ellen Barkin, Ellen Burstyn, Demi Moore. Regie und Drehbuch: Sam Levinson, sein Debütfilm. Situation: Hochzeit. Genre: Dysfunktionale Familie. Ein Sohn heiratet, die traumatisiert in alle Winde zerstreute Familie findet sich zur Feier zusammen. Es gibt noch einen zweiten, bildhübschen Sohn mit Drogenproblem und Depressionen. Es gibt eine Tochter, die sich die Arme ritzt. Es gibt einen Großvater, der einen Hirnschlag nach dem anderen hat. Seinen Tod findet er, als er mit dem Rasenmäher gegen einen Baum fährt. Auf einem schwimmenden Autoreifen treibt der berauschte Sohn abends spät ins offene Meer hinaus. Giftige Auseinandersetzungen zwischen der Exfrau und der neuen Gattin des Vaters. Zum Ende hin schaukelt sich die Sache immer höher: Musik, Bild, Dialoge, alles drückt aufs Sentiment, und der Film zieht das durch, ohne Gnade. Gegen jede Wahrscheinlichkeit gefällt mir das sehr. Der Film ist toll, und zugleich würde ich niemandem empfehlen, ihn anzuschauen.

Einmal beschimpft die nervlich angeschlagene Mutter (Ellen Barkin) ihren Sohn als Son of a bitch, und er kontert blitzschnell: You just insulted yourself.

[Freitag, 18. März 2011, Paramount Theater, 713 Congress Avenue, Austin, TX 78701]

Donnerstag, 19.05.2011

Die karnevalistische Wissenschaft

Jack Palance oder Anthony Quinn?
Attila, der Hunnenkönig oder Attila, die Geißel Gottes?
Welcher der beiden Filme aus dem Jahr 1954 war die Inspiration?

„Mein Lieblingsschauspieler war Jack Palance“, schrieb Peter Nau (Zur Kritik des politischen Films, 1978). Das Wahnsinnsgesicht des Amerikaners mit ukrainischen Eltern löste auch bei dem Kölner Horst Drenske etwas Folgenreiches aus, es kam zur Gründung der 1. Kölner Hunnenhorde, 1958. Das Außergewöhnliche dieses Vereins (und der vielen, inzwischen bald hundert anderen „Stämme“) war und ist die schillernde Verflechtung von Ethnologie, Kino und Karneval.

Die Stämme von Köln zeigen das Behagen in der Gegenkultur. Anja Dreschkes Film, der mehr ist als nur eine Ethnologie des Inlands, beschreibt und erlaubt das elementare Vergnügen sich selbst im Anderen wiederzuerkennen. Und so lassen sich vor den Toren der Stadt, wenn im Sommer die Hunnen und Mongolen ihre zahlreichen Lager aufschlagen, einige Visionen erhaschen – von dem Entstehen, der Blüte und Ausbreitung von Kultur – durch Kostümierung.

Die Beschäftigung mit etwas Fremden wirkt kindlich, wenn sie spontanem Wohlgefallen folgt. Es wird stattdessen ernst genommen, wer sich nur möglichst umständlich von oben über etwas beugt.
Bewunderndes Aufschauen, Imitieren und Sich-hinein-Versenken – all das gilt nicht als seriöse Erkenntnismethode, doch jede Kultur ist letztlich Schmuck und Schminke, Maskerade und Mobiliar: ein Gemisch aus Erfundenem und Erbeutetem.

Eigentlich schön, sich vorzustellen, dass sich die etablierten Instanzen des deutschen Dokmentarfilmfestivalbetriebs von diesem herrlichen Film pikiert abwenden, ganz so wie die großen uniformierten Karnevalsvereine an den faszinierenden Kölner Stämmen gebannt vorbeischauen.

Kino und Karneval sind lustige Geschwister der Religion. Denn auch das unbequemste Kostüm ist ein bequemes Heraus aus der nicht selbstgewählten Welt. In besonderen Fällen ein an- und ausziehbares Jenseits.

Kinostart heute in Köln. Festival-Premiere in London.

Dienstag, 17.05.2011

Eine kleine Genealogie

Ich schaue mir gern diese 26minütigen Filme aus der Reihe ‚Architectures’ / ‚Baukunst’ auf arte an. (Sonntagabend bzw. schon Montag, 16.5.2011, gab es zum Beispiel einen Film über die Stadtsparkasse in Wien, die Anfang des letzten Jahrhunderts erbaut wurde.) Richard Copans und Stan Neumann haben diese Serie konzipiert und zusammen mit anderen realisiert – unterdessen gibt es da einen beeindruckenden Katalog an Titeln (ab 1995, auf 6 DVDs), aber die Recherche und Produktion der Filme gehen weiter (zum Beispiel sind ganze Kontinente wie Afrika und Südamerika noch nicht vertreten).
Als Ausgangspunkt oder Ideensetzung für die Reihe kann man Stan Neumanns Film Paris, roman d’une ville von 1991 ansehen, dem Klaus Krug 1995 eine ganze Nummer seiner Zeitschrift ‚nordnordwest’ gewidmet hat (diese fünfte sollte auch die letzte sein) – während ich, mich dieser Nummer erinnernd, 1999 in ‚shomingeki’ Nr. 7 ausführlich über Une maison à Prague / Ein Haus in Prag (1998) von Stan Neumann geschrieben habe. Dieser Blick auf das lang schon verlassene Elternhaus und dessen Geschichte, der Blick auf die Stadt, in der man heimisch geworden war, ist spürbar in dem Interesse, das nun weitergehend und darüberhinausgehend den ins Auge gefassten Gebäuden entgegengebracht wird – wiewohl natürlich eine Reihe von ‚Regeln’ (wie die Gebäude zu filmen seien) etabliert und im Lauf der Zeit korrigiert und verfeinert werden mussten. Als besonders bemerkenswert sind mir (ich habe natürlich nicht alle Sendungen gesehen) etwa die Filme über eine französische Schokoladenfabrik in Menier, die Sendai-Mediathek von Toyo Ito, das SAS Royal Hotel in Kopenhagen oder die königliche Moschee von Isfahan in Erinnerung geblieben.
Über ein modisches Interesse an Architektur (oder an ‚Stararchitekten’) hinaus, werden hier also bedeutsame, natürlich immer auch die Zeit bezeichnende Gebäude vorgestellt – und zwar nicht nur von der Fussgängerperspektive aus, sondern von der Konstruktion (für jedes Gebäude ist eine Maquette hergestellt worden) und vom Alltag ihrer Benutzung her. Die Zeitläufte sind den Gebäuden nicht nur dadurch und durch Wind und Wetter eingeschrieben, sondern vor allem auch durch die politischen Grosswetterlagen. (Wie etwa am Beispiel ‚Bauhaus’ in Dessau besonders gut zu sehen.)

Materialien zur Historiographie prekärer Arbeitsverhältnisse (3)

Viele der Statements, die am 10. April 1969 an der New York School of Visual Arts abgegeben wurden, sind zu kanonischen Texten der Institutional Critique geworden. Hintergrund der Protestveranstaltung war der Konflikt zwischen New Yorker Künstlern und den Museen der Stadt, insbesondere dem MoMa. In der »art workers’ coalition open hearing presentation« forderte Gregory Battock: »Do you realize that it is those art-loving, culturally committed trustees of the Metropolitan Museum who are waging war in Vietnam? Well, they are. They are the very same people who called in the cops at Columbia and Harvard; and they are justifying their sick, disgusting slaughter of millions of people struggling for independence and self-determination by their precious, conscious support of ART. Anyone who lends themselves to this fantastically hypocritical scheme needs their head examined.«

Neben Carl Andre, Dan Graham, Joseph Kosuth, Lee Lozano, Lucy Lippard, Hans Haacke und vielen anderen Künstlern nahmen auch ein paar Filmemacher an der Veranstaltung teil, namentlich Len Lye und – mit einem gemeinsamen Papier – Ken Jacobs, Michael Snow und Hollis Frampton. Hier ein Auszug aus ihrem Statement:

Alle Forderungen und Reden, die an diesem Tag zu hören waren, sind hier – auf der ohnehin sehr materialreichen Seite von Primary Information – versammelt. Der Text von Frampton, Jacobs und Snow wurde einen Monat später unter dem Titel »Filmmakers versus the Museum of Modern Art« im Filmmakers Newsletter (vol. 2, no. 7, May 1969) veröffentlicht. Viel hat sich – zumindest bis 1973 – nicht geändert, siehe Hollis Framptons Brief an Donald Richie hier.


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