Dienstag, 19.05.2020

Filme der Fünfziger LVI: Ich denke oft an Piroschka (1955; R: Kurt Hoffmann)

Ein Herr mittleren Alters sitzt gedankenverloren in einem leeren Zugabteil und blickt auf den roten, leeren Sitz neben ihm. Dort haben seine Jugend, seine Hoffnungen, eine nicht erfüllte Romanze und – ja, auch sie – die verlorenen Ostgebiete ihren imaginären Platz eingenommen; alle sind zusammengefasst in dem Frauennamen „Piroschka“. Kommentiert von der Stimme des Reisenden geht es zurück in die zwanziger Jahre, als Andreas (Gunnar Möller) – wir erfahren nur den Vornamen – als Austauschstudent nach Ungarn fährt. „Es sind Erinnerungen an eine so nicht mehr existierende und für uns unzugänglich gewordene Welt. Darüber hinaus hatte das verlorene Ostdeutschland etwas mit dem alten Ungarn gemeinsam: Einen gelassen fröhlichen, breiten Lebensstil, dessen Krönung die vielgerühmte östliche Gastfreundschaft gewesen ist.“ (Hugo Hartung) Der Autor Hartung hatte 1951 für den Bayrischen Rundfunk ein sehr erfolgreiches Hörspiel verfasst, das von 28 Radiostationen übernommen wurde. 1954 entstand eine Romanfassung, 1955 dann der Film von Kurt Hoffmann.

Andreas trifft auf dem Weg zu seinen Gasteltern Greta (Wera Friedberg), eine selbstbewusste junge „Neue Frau“, die eine Arbeitsstelle in der Türkei antreten will. Der junge Andreas ist gleich in Balzlaune, stellt sich aber eher ungeschickt an. Er steht vor allem sich selbst im Wege; in seinen amourösen Versuchen verhält er sich wie ein Schlafwandler, magisch angezogen von der Weiblichkeit, aber immer wieder seiner Unerfahrenheit und der Tücke des Objekts ausgeliefert. Das Objekt ist eine mitgeführte Plattenkamera samt Stativ, das Andreas selbst dauernd zum Zusammenbruch bringt. Die Kamera begleitet Andreas wie ein Sinnbild seiner Überforderung. Das war eine Paraderolle für Gunnar Möller; zu seinem Leidwesen wollte ihn das Publikum fortan am liebsten als leicht verschusselten Liebhaber sehen.

Gunnar Möller, Liselotte Pulver

Greta bleibt am Plattensee, Andreas fährt zu seinen Gasteltern nach Hódmezővásárhelykutasipuszta (der Ortsname ist dem Ort Hódmezővásárhely nachempfunden) und nimmt uns mit in eine Welt des Zaubers und der Absurditäten. Schon im Zug wird er als deutscher Student erkannt; was für eine Freude! Und er muss essen und trinken, denn als junger Mensch hat man ja immer Hunger. Der Stationsvorstand von Hódmezővásárhelykutasipuszta Istvan Rasc (Gustav Knuth) lädt ebenfalls gleich zum Essen und Trinken ein; seine Lebensaufgabe besteht darin, zweimal am Tag ein Zugsignal zu setzen und auf die Pünktlichkeit des Zuges zu achten. „Nur zwanzig Minuten zu spät. So pünktlich war der Zug noch nie“, freut sich Istvan und ist ganz aufgeregt. Sind wir ins Alice’s Wunderland geraten? Da kommt Freund Sandor (Rudolf Vogel) mit dem Fahrrad in das Haus geradelt. Sandor ist Briefträger, Landbote, Weichensteller, Stationsgehilfe, alles in einer Person. Er stellt sich vor: „Guten Morgen, guten Abend, sehr gut, küß die Hand, lieber Bruder.“ Andreas wohnt bei einem Arzt und seiner Frau; morgens tritt er aus dem Zimmer– sechs fremde Menschen stehen in dem Flur auf. Er begegnet Piroschka (Liselotte Pulver), die ihn glauben lässt, dass sie kein Deutsch versteht, so dass ihm seine Worte später peinlich sein werden. In dieser Welt der Wunder wird Andreas von einem Fremden zu einem Freund. Piroschka zeigt ihm die Pferde der Puszta, die Schweine und Gänse, die Schafhirten und die Roma. Aber es gibt noch Greta und die Welt, aus der er gekommen ist. Greta schreibt eine Karte (“die ist von Franz, einem Freund“, erklärt Andreas Piroschka). Andreas fährt mit dem Morgenzug an den Plattensee, Piroschka folgt ihm. In der Peinlichkeit, sich zwischen Greta und Piroschka entscheiden zu müssen, tritt Andreas in lauter Fettnäpfchen. „Du machst alles kaputt“, sagt Piroschka, bevor sie allein nach Hause zurückfährt. Ein Fest bringt das Paar wieder zusammen. Jetzt bleibt ihnen noch eine Nacht bis zum endgültigen Abschied.
Auf der Bühne und im Film war die Ungarn-Operette ein fester Bestandteil des Repertoires. Hoffmann gibt dem Filmpublikum auch in Piroschka das romantisch-folkloristische Ungarn mit Musik, Tanz, Lagerfeuer und Liebe. Kameramann Richard Angst lässt die Farben leuchten, staffelt Menschen und Objekte zu kunstvollen Bildern, kann aber mit dem wilden Tanz nicht mehr anfangen als ihn in gelegentlichen Top-Shots auf Distanz zu halten. Kurt Hoffmann, das merkt man jeder Szene an, liebt seine Schauspieler. Liselotte Pulver hatte gerade in O.W. Fischers Hanussen (1955) eine skeptische Journalistin gespielt, die Fischer mir nichts, dir nichts überwältigt – nur das war der Sinn der Figur. Bei Hoffmann ist jede Rolle eine Paraderolle; Liselotte Pulver wurde mit ihrer Interpretation zum Liebling der Nation. Jeder konnte sich in die Unschuld verlieben und die Geschichte der vergangenen 30 Jahre im Seufzer bitter-süßer Melancholie vergessen. Die Entlastungsstrategie gelang vollkommen.

Weil der Verleih ein Happy End wollte, drehte Hoffmann ein alternatives Ende, das doch nicht verwendet wurde. Die Filmbewertungsstelle versagte zunächst ein Prädikat: „Diese Geschichte ist nicht originell gemacht, entfernt sich auch nicht von Klischees. Sie ist auch nicht so humorvoll gestaltet oder künstlerisch gespielt, dass man den Film durch ein Prädikat auszeichnen kann. Dem Film gelingt es nicht, zum echten Volksstück vorzustoßen. Er zeigt auch nicht den Zauber eines Märchens.“ Der Produzent legte Widerspruch ein; der Film erhielt das Prädikat „Wertvoll“ und gehörte kommerziell zu den zehn erfolgreichsten Filmen der Saison.

 

Auf DVD und Blu-Ray
Präzisierungen zu filmportal: Pressefotos: Kurt Huhle – Dreharbeiten vom 12. 9. 1955 in Palic bei Subotica (damals Jugoslawien) bis 5. 11. 1955 in Geiselgasteig

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