Sonntag, 11.12.2022

Vierundzwanzig (11)


The Bowery (1933 Raoul Walsh)

„Here, look at yourself“ sagt er (George Raft) zu seinem leblosen Double. Es geht um eine Wette und um Betrug. Die ganze Stadt wird Zeuge sein, wie er dann doch selber von der Brooklyn Bridge springen muss. Das Selbstbild der Menschen ist fast immer verwackelt. Die Motive bewegen sich zu schnell. Anhänglichkeit und Rivalität drehen sich umeinander im Tanz der Erzählung, bis das Gröbste und das Zarteste untrennbar vermischt sind. Schließlich ist der Film von Raoul Walsh. Seine Nostalgie ist utopisch: So hätte es gewesen sein sollen! So gegenwärtig! Das blitzt sogar auf, in der Art wie der hölzerne Doppelgänger in den Spiegel schaut, etwas scheu, hereingezogen in den Taumel alles Lebendigen. Da, wo Obsession und Freiheit nicht zu unterscheiden sind, auf der Vergnügungsmeile, die dem Film den Titel leiht, trägt ein Lokal den Namen „Suicide Hall“.


Smultronstället (1957 Ingmar Bergman)

In Malaga sprach ich in einer Kneipe mit einem Punk-Sänger, der durch den Zufallskauf einer Single zum Heino-Fan geworden war. Aber er wusste nicht, dass es eine vielbeachtete LP gab, auf der Heino vor ein paar Jahren Lieder der Ärzte und von Kraftklub nachgesungen hat. Ich mochte zwei drei Stücke von dieser Platte. Aber mein Gesprächspartner begriff einfach nicht, wovon ich ihm berichten wollte. Erst recht nicht, als ich, ohne selber Bescheid zu wissen, Heinos Streit mit den Toten Hosen erwähnte und dabei einen angeblich wahren von dem echten Heino unterschied. Am nächsten Tag wurde mir klar, dass der Punk-Sänger wohl nur deshalb mit mir über Heino gesprochen hatte, weil ich nachts in der dunklen Kneipe eine Sonnenbrille trug.


Northern Pursuit (1943 Raoul Walsh)

Als Geza von Cziffra 1953, zum erstenmal nach dem Krieg, in Paris war, und das Grab seines Freundes Ödön von Horvath suchte, schickte ihn der Friedhofsbeamte zum Grab Nummer 813, zum Grab von Heinrich Heine, zum einzigen Grab, „das hier ein Deutscher, für den er mich offenbar hielt, suchen könnte.“

Unter jenen Sammlungen, die vielleicht schon nach zwei gesammelten Stücken komplett sein könnten, ist auch meine Sammlung „Heine im Kino am Telefon“

Heine im Kino am Telefon (Teil 1): „Die Welt ist dumm, die Welt ist blind.“
Gesprochen von Laurence Harvey, in Anthony Manns A Dandy in Aspic (1967), in Berliner Telefonzellen. Immer die gleiche geheime Losung: „Die Welt ist dumm, die Welt ist blind.“

Heine im Kino am Telefon (Teil 2): Jean Gabin, der in La traversée de Paris (1956 Claude Autant-Lara) das folgende auf Deutsch ins Telefon spricht:
„Ja, Jung, ich bin der liebe Gott,
Und ich regier die Erde!
Ich hab’s ja immer dir gesagt,
Daß ich was Rechts noch werde.“


Vargtimmen (1968 Ingmar Bergman)

Walsh, Bergman, Heino und Heine, Doppelgänger und Gespenster

Vielleicht bringt ein Zitat von Ernst Mach ein wenig Klarheit.
„Die Gespensterfurcht ist die wirkliche Mutter der Religionen;“ schreibt er, 1886. Und sie werde noch lange fortleben, bis wir erst nach vielen Generationen das unnötig gewordene „Gruseln“ verlernen.

„Ja meinen Sie denn, ich glaube an Gespenster? Was hilft mir aber dieses Nichtglauben?“
„Sehr einfach. Sie müssen eben keine Angst mehr haben, wenn ein Gespenst wirklich zu Ihnen kommt.“
„Ja, aber das ist doch die nebensächliche Angst. Die eigentliche Angst ist die Angst vor der Ursache der Erscheinung. Und diese Angst bleibt. Die habe ich geradezu großartig in mir.“
(Kafka: „Betrachtung“, 1912)


Doppelgänger (1969 Robert Parrish)

Anna Freud fand, die angsteinflößende Vorstellung eines allsehenden Gottes sei bei nicht religiös erzogenen Kindern auf den Mond verschoben, der nachts zum Fenster herein sieht.

Aber da muss es doch noch andere Verschiebungen geben. Geradezu großartige.


White Heat (1949 Raoul Walsh)

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