Donnerstag, 14.04.2011

A TOUT PRENDRE (Alles in allem)

Dir: Claude Jutra

Ein Schwarzweißfilm in 1:1,33 aus Quebec, 1963. Ein Mann erzählt seine Liebschaft mit einer wunderschönen Frau – die auf einer Party, ein kreolisches Lied singend, in sein unabhängiges Singledasein hereinbricht wie die aufgehende Sonne. Pure Lebenslust, Sinnesfreude, Freiheit, Vertrauen, manchmal auch etwas Schwermut strahlen aus den Bildern ihrer Begegnungen, Bewegungen, Umarmungen. Alles ist leicht, beschwingt, fragmentarisch erzählt, in diesem frischen Atem des Aufbruchs der 60er – mit meisterhafter „Handlungslosigkeit“ und doch alles in Bewegung. Die Hälfte des Films spielt im winzigen Apartment des Mannes, das nicht viel mehr als ein Bettsofa enthält. Das schmale Fenster fungiert als Ersatztür zum Nachbarn, wenn man sich Whisky oder Schallplatten ausleiht. Und als schmaler Ausblick in die Welt, wo Kinder Cowboy spielen und Männer erschießen, die Frauen küssen.

Der autobiografische Spielfilm (Jutra selbst spielt den Protagonisten) strotzt von visuellen Einfällen und ist gedreht in cinema direct-Stil (gewidmet Norman McLaren und Jean Rouch), aufgemischt mit Phantasiesequenzen, in denen Gangster und schwule Ledertypen den Mann verfolgen, oder Ausflügen in die Filmwelt (der Protagonist agiert als Regisseur bei einem Dreh/charmant demonstriert François Truffaut der Kreolin einen Zigarettentrick). Wenig synchrone Dialogszenen, musikuntermalte Montagen, in knappen selbstironischen Sätzen kommentiert der Mann die Ereignisse.

Das Drama nimmt seinen Lauf, als die schöne Frau schwanger wird. Der bisher so verliebte Mann, der trotz mehreren Seitensprüngen doch schon selbst ans Heiraten gedacht hat, gerät plötzlich ins Schwanken. Jutra montiert Bilder eines Hausabrisses in einen langen Wortwechsel des Paares über die Zukunft zu dritt.

Der Mann konsultiert seine Mutter, eine moderne Frau, die die Finanzen der wohlhabenden Familie im Griff hält und ansonsten ihre Hunde liebt, um ihre Meinung zum Heiratsprojekt zu hören: sie schildert sehr rational, was das für ihn bedeuten wird, dass er seinen freizügigen Lebensstil ändern, finanzielle Verpflichtungen und Verantwortung übernehmen müsse… Und der Mann läßt auch die blumig moralischen Platitüden eines befreundeten Priesters über sich ergehen.

Und dann tatsächlich kündigt der Mann seine Liebe auf. Einfach am Telefon, ein Schlag ins Gesicht. Unter dem moralischen Druck der Situation (und eines alten Freundes der Frau) leiht er sich Geld von seiner Bank, kein Problem, welches er der Frau für die Kosten einer Abtreibung schickt. Sie – hockt in Tränen vor seiner Tür, schreibt verzweifelte Briefe. Später enthält einer die Nachricht, dass sie das Kind auf natürliche Weise verloren habe. Der Mann hat Selbstmordvisionen, lebt aber weiter. Und der Film endet, einfach so, und liefert keinen anderen Grund als den unlösbaren sozialen Konflikt. Ein weißer Mann aus guter Familie heiratet kein schwarzes Fotomodell.

– Dagmar Kamlah –

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